Schwarzweiß

Nach einem Telefonat mit einem Freund trete ich auf den Balkon. Mich empfängt eine tiefschwarze, klare Neumondnacht. Ich richte den Blick nach oben: Das Sternenmeer ist gewaltig. Nach und nach identifiziere ich alle mir bekannten Gestirne, die aus Myriaden weiterer strahlen; die trockene Herbstluft verstärkt ihr Funkeln. Das Band der Milchstraße webt sich in die Dunkelheit dieser Zeit wie ein Versprechen. Es werden hellere Zeiten kommen. Es wird Licht.

Ich denke zurück an den Freund. Er war sehr wütend am Telefon; nicht auf mich, dem Herrn sei es gedankt, und der Grund seiner Wut war auch auch nachvollziehbar. Dennoch schmerzte es, ihn so zu erleben, so dermaßen außer sich, und ich wünschte, ich hätte ihn herholen können, um ihn den Himmel zu zeigen. Diesen Himmel.

Wenn man am Tage den Langeooger Himmel betrachtet, kann man gut nachvollziehen, warum die Menschen früher dachten, die Erde sei eine Scheibe: Wolken, deren Unterseite so platt wie das Land wirkt, treiben über endlos weite Landschaft und auch das Meer erstreckt sich, soweit das Auge reicht. In der Nacht aber wird das anders.
Die gewaltige, lackschwarze Kuppel des Langeooger Nachthimmels ist gigantisch; ihr Hineinragen in die Unendlichkeit des Alls nahezu greifbar — und die Winzigkeit der Erdkugel inmitten des Universums ist es auch. Der Anblick des nächtlichen Inselhimmels erdet ebensosehr, wie er die Sehnsucht nach dem Unbekannten nährt: Er ist ein noch immer unbegreifliches Wunder, denn ähnlich viele Geheimnisse wie das All birgt vermutlich nur noch die Tiefsee.
Welche zwischenmenschliche Unappetitlichkeit sollte angesichts solcher Pracht denn nicht irrelevant werden?
Mich beruhigt ein solcher Himmel binnen Sekunden und ich hoffe, dem Freund ginge es auch so.

Mag man sich auf der Insel zu Pandemie-Zeiten auch manchmal eingeschlossen fühlen, so ist es doch der Himmel, der uns immer wieder daran erinnert, miteinander verbunden zu sein, und das meine ich nicht einmal in religiösem Kontext. Die Atmosphäre, die alles auf dieser kleinen rotierenden (präziser: eiernden) Kugel im All am Platz hält, umgibt uns alle gleichermaßen: Die Familie eines anderen lieben Freundes in Neuseeland ebenso wie Menschen in Grönland, die Schildkröten auf Galapagos oder die Möwen auf Langeoog. Wir haben nur das hier. Und wir haben auch nur uns, sofern nicht eines Tages doch noch E.T. vor der Tür steht und sich ein Smartphone ausleihen möchte.

Zugleich frage ich mich, ob einen dieser Gedanke jetzt einsam machen sollte. Denn sympathischer wird mir die Menschheit in diesen überemotionalisierten Zeiten nicht und mehr als einmal verfluchte ich schon den Tag, an dem ich anfing, im Internet Kommentare zu lesen.

Aber es nützt ja nichts. Wir haben nur uns, und so muss man dort Zuflucht suchen, wo man sich noch einigermaßen sicher fühlt vor dem Wahnsinn: In der Kirche, in seinem Zuhause, in der Natur oder einfach in seinen Erinnerungen.

Ich erinnere mich. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich dachte, dass ein Wiedersehen mit Freunden im Ausland nur eine Frage von Geld und Urlaubstagen sei. Ich erinnere mich, dass ich ein Wiedersehen für sicher hielt, sobald es die Umstände erlauben. Und nun ist da noch ein Virus; sind da geschlossene oder immer-mal-wieder geschlossene Grenzen; ist da die Gefahr, dass man nach Österreich oder Schweden zwar noch hinein-, aber nicht mehr hinauskommt.

Selbstverständlich sind diese Maßnahmen alle nötig und man reißt sich auch gerne am Riemen, wenn man damit Mitmenschen vor Leid und Tod bewahren kann. Dass das immer leicht fällt, heißt es indes nicht.

Ich krame eines meiner Lieblingsfotos von dem Freund heraus, das ich bei unserem letzten Zusammentreffen machte. Es zeigt ihn nur von hinten, er trägt eine Papiertüte, die zufällig farblich mit seiner Kleidung korrespondiert, und läuft auf eine kleine Kirche zu, deren barocke Zwiebelkuppel über winterkahle Baumwipfel ragt. Ihre Turmfenster sind freundliche, schläfrige Augen.
Das Bild strahlt viel Frieden aus und hat etwas wunderbar Aus-der-Zeit-Gefallenes. Ich erinnere mich gerne an den Tag der Aufnahme; wir hatten die Papiertüte in einem kleinen Kunsthandelsgeschäft bekommen, sie enthielt ein paar schöne Andenken. In der Kirche beteten wir für unsere Familien; auf dem Weg dorthin ließ ich mich unauffällig zurückfallen, damit ich den Freund unbemerkt fotografieren konnte: Gestellte Fotos mag ich nicht.

Ich hatte das Foto damals in Schwarzweiß gesetzt, um das Zeitlose und die Kontraste der Winterlandschaft zu betonen, doch nun hat das Schwarzweiß etwas Bitteres. Ich arbeite ansonsten wenig mit Schwarzweiß; fast alle anderen Schwarzweißfotos in meiner Wohnung stammen aus früheren Jahrzehnten und zeigen Menschen, die nicht mehr leben: Meine Großeltern, einen Urgroßonkel, Schnauzer „Struppi“, den mein Vater als Kind hielt. Ein Foto von 1929 zeigt die Straße vor unserem Berliner Haus. Die heute mächtigen Eichen sind auf dem Bild noch zarte Bäumchen; auf dem Kopfsteinpflaster dampfen Pferdeäpfel. Heute sieht man das Kopfsteinpflaster nur noch durch ein paar Löcher in der schlampig geteerten Asphaltdecke; darauf parken SUV vor klobigen Neubauten, deren Besitzer sich jeden Herbst über die Spuren der fallenden Eicheln im Autolack beklagen. Unser Gründerzeithaus hält dazwischen die Stellung, und ich hoffe, das es dort noch viele Jahrzehnte überdauert: Dinge mit Bestand sind mir Fixsterne in einer sich viel zu schnell drehenden Welt.

Das Foto mit dem Freund und der Kirche ist noch kein Jahr alt, aber nun erinnert mich seine Farbgebung umso deutlicher daran, dass es im Grunde ebenfalls aus einem anderen Zeitalter stammt. Aus der Prä-Pandemie-Ära. Als es noch selbstverständlich war, Freunden zur Begrüßung die Hand zu geben, nachdem man aus einem überfüllten Zug gestiegen war — an der Landesgrenze gänzlich unbehelligt — und froh war, endlich klare, niederösterreichische Winterluft zu atmen. Vorbei.

An einem Haken neben der Tür baumelt ein Mundschutz mit dem Werbeaufdruck des Klosters, das ich damals besuchte. Denn auch vor dessen heiligen Hallen machte der Virus nicht halt.

Der Sternenhimmel hat nichts an Pracht eingebüßt als ich, aus der Gedankenversunkenheit erwacht, das nächste Mal nach oben blicke.

Momentaufnahme, Knotenpunkt

Nun gibt es ja Menschen, die der Ansicht sind, Katholiken wären alle nicht mehr ganz dicht, oder, um es der Jahreszeit angemessen auszudrücken: Hätten nicht alle Kerzen auf dem Adventskranz. Und angesichts dreier Gestalten, die, lediglich von dem Motto „Das Licht des Herrn leuchte uns“ beschienen, in völliger Dunkelheit am Strand entlang durch den Sand stapfen, scheint das gar nicht so abwegig.
„Da verbinden sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns …“ singen sie; dann marschieren sie weiter, verschluckt von der Schwärze der Inselnacht, am Vorabend des ersten Advent.
Eine der drei Gestalten bin ich.
Ein nächtlicher „Adventsgang“ war angekündigt und ich rechnete mit einem kurzen Marsch um die Kirche, mit einigen Stationen des Innehaltens, Singens, Hinein- und Hinaushorchens; zumal wenige Minuten vor Beginn noch ein gewaltiger Wolkenbruch auf die Insel niedergegangen war.
Nun ist der Beginn einer Bußzeit aber offensichtlich nichts für Verweichlichte, und so wurde die alte Seenotbeobachtungsstelle als Ziel angegeben; eine Dreiviertelstunde Marsch von der katholischen Kirche entfernt. In völliger Dunkelheit, mit nichts ausgestattet außer mit dem Vertrauen auf den, der alle Wege kennt.

Ich bin nachtblind. Ich erkenne im Dunkeln maximal noch starke Kontraste, und generell mag ich die Dunkelheit nicht. Ich schließe niemals die Rollläden ganz und kaufe auch keine Gardinen, die jedes Licht fernhalten. Mein Vertrauen auf Gott wuchs mit den Jahren, ich bin froh darüber — aber mein Vertrauen in die Menschheit und in die Nacht bleibt wohl noch länger ausbaufähig. Nun aber muss ich vertrauen. Auf meinen Körper, meinen Gleichgewichtssinn, mein Gehör, meine Erinnerung an die im Hellen so oft beschrittenen Wege, die nun kaum mehr als fleckige Schatten links und rechts von mir sind. Und vor mir liegt nichts als Dunkelheit.

Die Ansammlungen von Teek am Strand sehen bei Nacht aus wie Krallenhiebe eines gigantischen Ungeheuers. Am Horizont blinken die roten Lichter der Windparks, dazu leuchten all die riesigen Frachter auf Reede. Im Nordosten gleitet der Schein des Leuchtfeuers von Helgoland über die schwarze See, im Westen blinkt das von Norderney. In erschreckendem Maße wird mir dabei bewusst, wie sehr die Deutsche Bucht schon zum Verkehrsknotenpunkt der internationalen Schifffahrt geworden ist; wie dicht gedrängt hier die Container von A nach B gefahren werden, obwohl sie, wie etliche Stürme bereits zeigten, in B zum Teil nicht einmal ankommen werden. Und dann liegen die Container für wer weiß wie lange auf dem Grund des Meeres, neben Tausenden toten Soldaten und anderen glücklosen Seelen, welche sich die See im Laufe der Jahrhunderte einverleibte. Und all der über Bord gespülte Müll von Kreuzfahrtriesen, Konsumgier und Berufsschifffahrt wird noch Jahrzehnte später an Strände gespült, schlimmstenfalls mit einem qualvoll verendeten Tier drumherum. 
„Macht euch die Erde untertan“ heißt es in der Bibel, aber in diesem Moment denke ich einmal mehr, dass es die Menschheit damit schon gewaltig übertrieben hat.

Außer der Insel-Seelsorgerin, die die Andacht leitet, ist nur der Kurpriester zum Adventsgang gekommen; beide sind mir sympathisch, was beim Bezwingen der Angst vor dem Dunkeln hilft. Niemand schwätzt; der verheißene Gang in Stille wird wirklich ein Gang in Stille. Meine beiden Weggefährten sind so ruhig, dass ich sie nicht einmal atmen höre; nur ihre leisen Schritte im Sand bieten mir Orientierung. Ungefähr alle 500 Meter bleiben wir stehen, beten und singen ein kurzes Lied. 
In einiger Entfernung rühren sich Seevögel, aber es ist keine übermäßige Unruhe im Schwarm; ich hoffe, wir haben sie nicht gestört.
Die Sicht wird nicht besser: Nachtblind ist nachtblind. Aber ich stelle fest, dass mir die Beschaffenheit des Sandes unter meinen Füßen bereits Aufschluss darüber gibt, an welchem Strandabschnitt wir uns ungefähr befinden mögen und es ist ein herzwärmendes Gefühl, doch schon so sehr mit der Insel verwachsen zu sein. Der dunkle Dünenfuß zu meiner Rechten ist mein Ariadnefaden, meine Schritte werden mehr und mehr sicher; irgendwo hinter mir sind meine Begleiter. Ich merkte nicht einmal, dass ich sie überholte.

Wir verlassen den Strand an einem mir sehr vertrauten Überweg. Durch schwarze Dünentäler geht es auf kurvenreichen Pfaden hinauf, hinab und wieder hinauf zur Aussichtsplattform. Dann sind wir oben, und es beginnt erneut zu regnen. Aber der Regen macht mir nichts, denn längst haben sich der Frieden und das Wunder dieses Nachtganges in mein Herz gegossen, das am Tage noch unruhig und angstvoll gewesen ist. Ich lernte: Es tut gut, zu vertrauen. Es lohnt sich, auch einmal die Kontrolle abzugeben. Es ist ein großartiges Gefühl, zu wissen, dass sich sogar ein beherzter Schritt in die Dunkelheit lohnen kann. Und dass es sich lohnt, sich seinen Ängsten zu stellen.

Der Priester hat einen Schirm dabei, er hält ihn väterlich über die Seelsorgerin und mich. „Es kommt ein Schiff geladen“, singen wir. Ich mag das Lied; nicht nur, weil es so gut an die Küste passt. Ich mag seine Bilder, und die getragene Melodie mag ich auch. 
„Das Schiff geht still im Triebe / es trägt ein’ teure Last / das Segel ist die Liebe /der Heilig’ Geist der Mast.“

Wieder zuhause, kommen die Sorgen des Tages zurück. Aber es ist schon weniger schwarz am Horizont.
*** Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern einen gesegneten 1. Advent ***


 

Bildschirmfoto 2019-11-30 um 22.49.40

Momentaufnahme, Lichtpunkte

Niemand hat die mystische Stimmung im Wattenmeer mit all dem Leben darin wohl schöner beschrieben als Theodor Storm in seinem Gedicht „Meeresstrand“, von dem hier nur zwei Strophen wiedergegeben werden sollen:

„Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer

Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton
Einsames Vogelrufen —
So war es immer schon.“

(Th. Storm, 1817-1888)

All die geheimnisvollen Laute, das Brodeln, Zischen und Flüstern verwandeln Watt und Salzwiese schon am Tage in eine Wunderwelt — für den, der innehält. Wo anfangs nichts als Stille zu sein scheint; nichts, als endlose Weite von wogendem Gras, Strandnelken und der glänzenden graubraunen Schlickflächen, zeigt sich dem Wandernden schnell die ganze Fülle der Schöpfung.
Wie sehr aber potenziert sich dieses Erleben erst bei Nacht?

Ich war noch nie nachts im Watt, als nicht-lebensmüder Mensch ohne kompetente Begleitung sollte man das auch tunlichst unterlassen, aber bereits ein später Abendspaziergang entlang des alten Sommerdeiches zeigt, was dieses erstaunliche Stück Natur erst im Dunkeln offenbart.

Viele Menschen haben Angst im Dunkeln: Vor allem Kinder, aber auch noch viele Erwachsene. Evolutionär erklärt sich das leicht. Der Mensch sieht im Dunkeln schlecht und ist insbesondere im Schlaf hilflos. Umso mehr schärft die Nacht dann die anderen Sinne, damit man dennoch zügig vor Gefahr gewarnt ist. Und so kommt es, dass einige beim kleinsten Geräusch, das sie tagsüber nicht bedrohlich fänden oder bei einem fremden Geruch, den sie im Hellen nicht einmal wahrnähmen, aufschrecken: Manchmal sogar in Panik.
Hinzu kommen die Geräusche der nachtaktiven Tiere: Der Schrei einer Eule. Das Flügelschlagen umherflitzender Fledermäuse. Und wer jemals einen Fuchs nachts schreien hörte, weiß, was wirklich gruselig ist.
Auch der Wind, der das leichte Holz der Holunderbüsche zum Knarren und Seufzen bringt, kann mitunter unheimlich klingen, ebenso wie der Gardinensaum, den ein Luftzug über den Boden schleift.

Wie beruhigend ist es dann, dass die Nacht auch Phänomene kennt, welche die Dunkelheit erträglicher machen und im Wortsinne Lichtpunkte setzen, die uns Halt und Orientierung geben.
„Der Mond ist aufgegangen / die goldnen Sternlein prangen / am Himmel klar und schön.“ — Wer kennt es nicht, dieses wunderbare Wiegenlied von Matthias Claudius (1740-1815)? Ich erinnere, dass ich als Kind eine Spieluhr hatte, in Form eines Plüschmondes. Sie spielte dieses Lied, und ich liebte sie sehr.

Kultur- und Epochenübergreifend liebten die Menschen Mond und Sterne, teils fürchteten sie diese aber auch: Vor allem den Vollmond, der in den Legenden so allerlei dämonische Kreatur zum Leben erweckte und Menschen in den Wahnsinn trieb. Fast alle Kulturen kannten Mondgottheiten, die sie verehrten: Vor allem für Fruchtbarkeit und gute Ernten, denn in den meisten Sprachräumen ist der Mond weiblich konnotiert. Viele Jahrtausende lang bestimmte der Mondkalender die Zeit.

Auch auf Langeoog kann man sich der Faszination „Vollmond“ kaum entziehen. Oft erscheint er hier sehr hell und riesig, sodass die ganze Landschaft wie in ein Silberbad getaucht wirkt. Bäume und Dünengras werfen ihre nachtblauen Schatten in die Stille, während die Windräder auf dem Festland gegenüber rot in den Himmel blinken.

Der Neumondhimmel auf Langeoog dagegen ist, fern jeder Lichtverschmutzung, tintenschwarz. Umso prächtiger sieht man dann dort die Sterne.
Ich denke an einen Menschen, der mir sehr lieb geworden ist. Sein Gesicht zieren viele kleine Leberflecke. Ich weiß nicht, ob sie ihn stören, aber ich finde diese Flecken schön, denn auch sie erinnern mich an den Sternenhimmel. Sofern ich den Blick von seinen klugen Augen abwenden kann, sehe ich mir gerne jeden einzelnen davon an. Manchmal verbinde ich sie dabei zu imaginären Sternbildern: Von der Nase über seine schmalen Wangen bis zum Ohr und hinab zu den schönen, weich konturierten Lippen. Sogar am unteren Wimpernkranz hat er ein solches Pigmentmal, das einer Träne ähnelt und ihm immer etwas Melancholisches verleiht, obwohl er oft lächelt. Und wenn er lacht, tanzen die Sterne.
Ich sehe ihn vor mir, in seinem Garten neben einem uralten Rosenstock, und denke, dass beide so etwas Schönes, Ewiges und Stilles an sich haben: Der beharrlich blühende Rosenstock, dieser Mann mit seiner sanften Intellektualität — und auch unser Wattenmeer.

„Du bist wie Watt und Salzwiese“ ist wohl nichts, was man sofort als Kompliment einstufen würde, aber bei mir ist es das. Und „Du bist wie der Himmel über dem Watt bei Nacht“ wäre dann wohl die Steigerungsform davon.

 

img_3366

IMG_3056

 

 

Der Fremde

Seit Tagen Grau
Kaum Wind, zu stille See
Und auch der Barbarazweig
lässt sich noch Zeit

Kein Leuchten mehr
im täglich-uniformen Nichts
Lauwarmer Regen nur
auf matten, leeren Straßen

Doch dann war da
ein Lächeln voller Herz
und Geist und schönen
Augen und dem Augenblick

Das nicht verweilen konnte
sondern kam und ging wie
das geliebte Meer, das
leise seine Lieder singt

MDO, Januar 2019

wetter13111708

Warten

Das Wogen der Welt verebbt an diesem Ort
Der Sommer leert sich
Bald toben Stürme
Und es liegt Eis über verwehtem Sand
Die Nacht fällt blau
Hinter den Tannen
Zerfließt der Mond in milchig-dünnen Wolken
Du warst nie hier
doch ist mir
als seist du niemals von mir fort gewesen.

KornblumeJuli2017

Momentaufnahme, Hier und Jetzt

Es ist die Nacht vor Heiligabend. Erste Orkanböen rütteln am Haus. Ich spähe unter den Decken hervor zur Uhr: Nicht einmal Fünf. Dennoch liege ich wach, eingehüllt in dunkle, warme Geborgenheit, dem soeben vergangenen Traume nachsinnend: Ein wenig irritiert, begleitet von einer diffusen Sehnsucht und einem seltsamen Gefühl grundlosen Glücks. Erneut habe ich von dem Mann geträumt — Und wieder war es ein schöner Traum. Welch Wunder, denke ich, über mich selbst spöttelnd: Natürlich träume ich von diesem Mann noch schön. Er ist noch neu; er hat mich ja auch noch nie verletzt.
Dennoch ist für jemanden, der mit unschöner Regelmäßigkeit von Albträumen und Pavor nocturnus heimgesucht wird, jeder friedliche Schlaf ein kleines Wunder, und also gebe ich mich wohlig der Erinnerung hin.
Der Mann erscheint nie klar konturiert im Traum; in seiner Schemenhaftigkeit zwar ein wenig geisterhaft, aber doch ein Geist, den niemand zu fürchten braucht. Denn seine Haut ist warm und glatt, und ich höre das Schlagen seines Herzens, das menschlicher nicht sein könnte. Auch spricht er wenig, aber wenn, dann mit ruhiger, angenehmer Stimme. Ich fühle mich wohl in seiner Nähe.

Auch im Traum ist es eine Winternacht. Vor dem Fenster bewegen sich Zweige, versilbert vom kühlen Licht eines großen, klaren Mondes. Der Mann ist bei mir, aber er schläft nicht. Genau wie ich liegt er mit offenen Augen wach und lauscht dem Sturm, der an den Fenstern zerrt. Leise summt er ein paar Töne eines Lieds, das ich sofort erkenne: Es ist eines meiner Lieblingslieder. Ich wusste bisher nicht, ob er singen kann, aber es klingt klar und schön, und ich freue mich darüber, weil ich mir einbilde, dass er es für mich summt. Schließlich weiß er, dass auch ich nicht schlafen kann, sondern um diese Uhrzeit immer wachliege, wie fast alle von episodischer Schwermut Geplagten, und so eint uns auch dieses Schicksal: Die Wanduhr zeigt kurz vor Fünf.
Ich küsse ihn in rührseliger Dankbarkeit auf die im Mondlicht fast porzellanartig makellos anmutende, nackte Schulter. „Schön, dass du da bist“, flüstere ich. Der Mann sieht mich an. „Du weißt doch gar nicht, wo ich gerade bin.“
Jetzt bin ich hellwach. Ich richte mich auf, weil mir der Satz kryptisch vorkommt, und auch ein bisschen unheimlich. „Wie meinst du das?“
Aber der Mann lächelt nur und sieht hoch zum Mond, der ihm aus irgendeinem Grund gerade näher zu sein scheint als ich. Das blaue Licht färbt seine Augen und die warmen, honiggoldenen Strähnen in seinen Haaren silbern. Mir fallen Liedzeilen von Franz Ferdinand ein, meiner Lieblingsband als Twentysomething. Gott, ist das lange her. Aber den Text weiß ich bis heute:

Blue light falls upon your perfect skin / falls, and you draw back again / falls, and this is how I fell.

Come on home. 

Er hat Recht, denke ich, resignierend in seinen Arm zurücksinkend. Er ist nicht hier. Er ist irgendwo anders, und womöglich hat er das Lied gar nicht für mich gesummt, wahrscheinlich weiß er gar nicht, dass ich es liebe. Das ist wohl immer die Gefahr, wenn wir uns verlieben, aber den anderen eigentlich noch gar nicht kennen: Wir füllen die Wissenslücken mit Wunschdenken. Wir projezieren unsere Träume auf den anderen. Weil wir möchten, dass er fühlt, was wir fühlen, sieht, was wir sehen. Im Idealfall ist das auch so. Aber die Realität heißt: Wir wissen es nicht.

Nein, resümiere ich also, ich weiß nicht, wo du gerade bist. Aber ich wäre gerne bei dir. Und wenn du es dort nicht aushältst, nehme ich dich mit zu mir ans Meer, oder wir suchen einen Platz, den wir beide ertragen. Aber dafür muss ich wissen, wo ich dich finde. Auch wenn du jetzt neben mir liegst und ich dir physisch näher kaum sein könnte.
Ich sehe zu ihm hoch. Sein Gesicht ist jetzt deutlich als seines erkennbar; er hat charaktervolle, dennoch sanfte Züge, die etwas Verträumtes, zuweilen Verspieltes, umgibt. Ich mag das.
Dennoch bleiben seine Konturen unscharf, was vermutlich nichts damit zu tun hat, dass ich nachts keine Kontaktlinsen trage — zumindest erinnere ich nicht, dass meine Kurzsichtigkeit jemals im Traume ein Thema gewesen wäre. Vielmehr ist es wohl so: Ich mag diesen Menschen. Genug, um von ihm zu träumen. Aber ich kenne ihn nicht genug, um ihn wirklich klar vor mir sehen zu können, was schade ist.
Und so liegt wohl eine gewisse Gefahr darin, wenn man sich nur ein- oder zweimal sieht, die gegenseitige Anziehung begreift, aber den Rest dann nur noch schriftlich oder fernmündlich erledigt. Denn oft kommt es dann so, dass die reale Person irgendwann nur noch eine Art Kerntheorie ist, ein Stichwort, und alles Weitere ein Produkt unserer Phantasie und unseres Wunschdenkens, mitunter sogar eines unseres Narzissmus: Nämlich in jenen Parts, in denen wir wünschen, dass der Significant Other uns möglichst gleicht — Wen der Bauer nicht kennt, liebt er nicht.

Ich will dich aber kennen, rufe ich innerlich in verzweifeltem Trotz, weil ich dich lieben will! Für eine Sekunde fürchte ich, es laut ausgesprochen zu haben, aber der Mann liegt immer noch still und sieht sich den Mond an.
Ich möchte dich sehen, im Hier und Jetzt. Ich möchte bei dir bleiben, bis der Tag deiner im Mondlicht so blassen Gestalt wieder Farbe verleiht, bis dein Gesicht klare Konturen bekommt, bis die aufgehende Sonne das Blau in deine Augen zurückbringt und den Honigton in deine Haare. Und ich möchte, dass auch du mich siehst.
So, wie ich bin. Und trotzdem nicht wegläufst. Und trotzdem all das hier nicht für ein Versehen hältst, mich nicht für einen Lügner und unsere Liebe nicht für ein kleines, schmutziges Geheimnis.
Sieh mich an.
Ich wünschte, ich könnte ihm das sagen. Aber ich schweige.
„Schlaf“, sagt der Mann, und er küsst mich beiläufig, mit abwesendem Blick, so wie jemand, der sich am Bahnhof verabschiedet und mit halbem Herzen dabei schon im zur Abfahrt bereitstehenden Zug sitzt.

Ich muss mich nicht in „Freud“ umbenennen, um zu ahnen, was diese Traumsequenz bedeutet: Es gibt kein Vertrauen ins Jetzt. Vielmehr wähne ich mich das ganze Leben lang zwischen zwei Zügen — entweder noch wartend oder bereits verlassen. Und auch wenn ich nicht immer allein am Gleis stehe, so sind Bahnsteige doch per se ungemütliche Orte: Immer getränkt mit Sehnsucht und Abschied.
Der Traum ist vorbei. Ich stehe auf und mache koffeinfreien Kaffee, in der absurd lächerlichen Hoffnung, danach vielleicht doch noch schlafen zu können, die morgendliche Schwermut begrüßend wie ein altes, gebrechliches Haustier.
Ich denke an das Lied aus dem Traum und spiele es mir vor, aber ich mag es nicht mitsummen, weil meine Stimme nicht mehr schön ist, weil sie verlorenging, irgendwo zwischen Bahnsteig A und B.
Das Reisen ist teuer. Aber nichts ist so wertvoll wie die Ankunft und das Bleiben.

Ich sehe wieder zum Bett, das jetzt leer ist. Gerne hätte ich dem Mann aus meinem Traum noch etwas gesagt.
Nein, denke ich, ich weiß nicht, wo du gerade bist. Und es geht mich auch überhaupt nichts an. Vermutlich sollte ich mich einfach von dem Gedanken befreien, jemanden immer zur Gänze begreifen zu wollen. Denn ist es nicht gerade das Geheimnisvolle, sind es nicht gerade all die kleinen Abwesenheiten in der Anwesenheit, die jemanden begehrenswert machen? Habe ich nicht selbst genug verschwiegen?

Ich denke an die kleine, bunte Inselbahn, und dass der Mann den Kopf einziehen muss, wenn er da ein- und aussteigt, weil er so groß ist. Die Bahn sieht dann noch mehr aus wie ein Spielzeug.
Die Erinnerung an dieses Bild touchiert mein Herz. Es ist nicht wirklich schmerzhaft, aber es reicht, um ein leichtes Ziepen zu verursachen; einhergehend mit dem Wissen, dass Bahnhöfe ja nicht immer nur für Durchreisen und Abschiede stehen. Es gibt auch Wiedersehen. Es gibt Ankünfte. Eine sirupsüße Spur von Hoffnung zieht sich durch das Gemüt.
Vielleicht kommt er ja wieder, denke ich. Vielleicht sind wir dann wirklich zusammen schlaflos. Vielleicht wissen wir dann, wo wir sind.
Und vielleicht kann auch einer von uns bleiben.

bildschirmfoto-2016-12-25-um-20-28-11bildschirmfoto-2016-12-25-um-20-24-03img_20150726_140934