Momentaufnahme, Neue Zeiten

Es sind noch nie dagewesene Zeiten. Alles, was erst vor zwei Wochen war, kommt einem bereits ewig lang her vor, denn nun ändern sich die Dinge täglich. Die Insel leert sich; der Virus ist auf Langeoog angekommen und alle Gäste sind angewiesen, zeitnah abzureisen. Die meisten halten sich daran; einige sind renitent: Das Nordseeklima würde doch gerade jetzt gut tun und es sei doch so schönes Wetter. Man habe den Urlaub bezahlt. Es gäbe ein Recht auf Beförderung. An den Anlegern Tumult; in Bensersiel steht die Polizei. Es darf niemand mehr kommen.
Das ist auch vernünftig und richtig, denn wir haben nur zwei Inselärzte. Und auch auf Langeoog leben ältere Menschen und Personen mit Immunschwächen, mit Spenderorganen, chronischen Atemwegserkrankungen oder Krebs, für die eine Infektion mit dem neuen Virus sehr gefährlich wäre. Zur Osterzeit würden sich hier Tausende ballen: Feriengäste, Tagesausflügler, Hochzeits- und Taufgesellschaften, Zweit- und Drittwohnungsbesitzende. Es wäre unmöglich, hier Ansteckungen zu vermeiden, mit all den Menschen dicht an dicht, die Ferienwohnungen im fliegenden Wechsel neu belegt: Geputzt, aber mitnichten steril. Und der Virus haftet lange auf Oberflächen. 
Von der wirtschaftlichen Dimension des Ganzen will ich nicht anfangen, aber die gesellschaftlichen Auswirkungen beschäftigen mich durchaus. Die Menschheit enthüllt so einiges dieser Tage — ungeahnte Widerlichkeiten, aber tatsächlich auch Gutes.

Übers Desinfektionsmittelklauen und Prügeln um Klopapier verliere ich keine Worte mehr, tatsächlich wurde von mir kürzlich noch Verständnis für derartige Eskalationen verlangt und mangelnde Empathie zum Vorwurf gemacht. Nein: ich habe keine „Empathie“ für Hysterie und Rücksichtslosigkeit. Und zwar gerade, weil ich die Sache Ernst nehme. Im Übrigen sind, q.e.d., so gestrickte Bekannte auch nicht unbedingt ein Verlust, selbst wenn man sie bis dato für halbwegs vernünftig gehalten hatte. Die emotionalen Lunten sind kurz dieser Tage.
Die ersten Betrüger bereichern sich an der Angst vor dem Virus, um Leuten nutzlose Tests und überteuerte Hygienemittel zu verkaufen; andere setzen trotzig wie Kleinstkinder ihr Recht auf „Spaß“ und Auftritt im Rudel durch, solange der Staat keine Ausgangssperre verhängt. Andere betrachten selbst Familienmitglieder plötzlich als Feinde, wenn diese ihren Wohnsitz in besonders befallenen Gegenden haben. Irgendwer wurde wegen eines Hustenanfalls auf offener Straße verprügelt: Asthmatiker, chronisch Lungenkranke oder schlicht erkältete Menschen haben derzeit gleich doppelt schlechte Karten. (Fun fact: Zum Verprügeln eines potentiellen Virenträgers muss man diesen anfassen und kann, ohne Zuhilfenahme eines Besenstiels o.ä., vermutlich auch keinen Mindestabstand einhalten. Aber Logik ist bei manchen wohl ebenso vergriffen wie das Klopapier in den Supermärkten dieser Tage.)
Generell wird viel gestritten, und es ist wohl davon auszugehen, dass nach Ende der allseits geforderten Selbstisolation die Scheidungsraten ebenso ansteigen werden wie die Geburtenraten.

Es wirkt, angesichts des absoluten Ausnahmezustands und angesichts von mittlerweile vielen Tausend Toten, etwas zynisch, jetzt über das Gute im Schlechten zu reden.
Und dennoch finde ich, dass es Dinge gibt, die Erwähnung verdienen.

Da ist zum Beispiel meine Beobachtung, dass das Herunterregeln sozialer Aktivitäten und Vermeiden physischer Kontakte wider Erwarten nicht für noch mehr soziale Kälte sorgt, sondern vielmehr eine ganz eigene Form von Nähe schafft.
So geben einem die Leute zwar nicht mehr die Hand, aber dafür sehen sie einem plötzlich in die Augen. Und es wird sogar mehr gelächelt. Etliche Menschen erscheinen mir plötzlich weicher im Umgang; viele einstudierte Höflichkeitsformen funktionieren nicht mehr: Das gemeinsame Suchen neuer Wege bringt einen dabei auf gewisse Weise ganz neu zusammen — trotz der körperlichen Distanz.
Und das, was man an Nähe haben kann, gewinnt auf einmal doppelt und dreifach an Wert: Das liebe Gesicht, das auf dem Telefondisplay mit einer Nachricht auftaucht, die vertraute Stimme am Telefon, das freundliche Winken im Vorbeiradeln.
Die Möglichkeiten der Sozialen Medien zum Kontakthalten entpuppen sich plötzlich wieder mehr als Segen denn als Last. 
Man darf nicht mehr in die Kirche gehen, aber es wird wieder mehr füreinander gebetet. Viele Klöster, Gemeinden und Bistümer schalten Livestreams zu privat gefeierten Messen und Chorgebeten. Es gibt zusätzliche Seelsorgeangebote per Telefon oder E-Mail für alle, die Angst haben oder sich alleine fühlen.

Was Letzteres betrifft, so bin ich zurzeit sehr froh, dass ich zu den Menschen gehöre, die aus dem Alleinsein sogar Kraft schöpfen und ein Gefühl der Einsamkeit eigentlich nur aus erzwungener Gesellschaft oder unglücklichen Beziehungen kennen: Mit der Quarantäne schlägt die Stunde der Introvertierten.
Mit einem Freund, der sich ähnlich gut wie ich mit Introversion, Sozialer Phobie und depressiven Episoden auskennt, mache ich sogar Scherze darüber. „Meine Erfahrung mit sozialer Isloation kommt mir jetzt zugute“, sagt er, „Also DAS kann ich.“
Ich wiederum lebe seit inzwischen 16 Jahren alleine, arbeite von Zuhause aus und bin es gewohnt, dass ich tagelang niemanden sehe, niemand mit mir redet oder mich wochenlang niemand umarmt; meistens will ich das ja auch gar nicht anders. Ich habe unzählige Bücher, ein gewaltiges Musikarchiv und kann mich nicht mehr erinnern, wann ich mich zuletzt gelangweilt hätte: Vermutlich war es sogar unter Leuten. Ich hatte nie einen besonders ausgeprägten Herdentrieb; Quality time mit ein, zwei vertrauten Personen war mir immer lieber als Gruppenevents und Smmalltalk-Kasualitäten. Aber ich weiß auch, dass es Menschen gibt, die diesbezüglich sehr anders gestrickt sind, und ich ahne, dass diese nun leiden.
Und natürlich macht es auch für mich einen Unterschied, ob menschliche Nähe zumindest theoretisch möglich wäre oder ob sie definitiv unmöglich ist. 
Ähnlich ist es mit der Abschottung der Insel. So sehr ich es gutheiße, dass sich unter potentiell infizierte InsulanerInnen (es gibt bereits bestätigte Fälle) nicht noch unzählige potentiell infizierte Touristen mischen, so sehr hat es etwas Bitteres, dass meine Eltern oder besten Freunde aktuell auch nicht auf die Insel gelassen würden. Und dass ich sie, sollte jemand von ihnen ernsthaft erkranken, auch nicht im Spital besuchen dürfte.
Aber es muss wohl sein. Jeder Einzelne hat nun die Chance, mit seinem ganz persönlichen Verhalten, mit seiner Selbstdisziplin und Weitsicht, die Schwächsten dieser Gesellschaft zu schützen. Es muss Schluss sein mit dem egozentrischen Ichichich. Was sind schon zwei, drei Wochen Verzicht, wenn es Leben rettet?
Und was das Ichichich betrifft, so beschäftigt mich im Übrigen auch die Frage, warum viele Leute einerseits so grässlich egoistisch sind und auf der anderen Seite so schlecht allein sein können. Ist in diesen Fällen der andere vielleicht gar kein echtes Gegenüber, sondern nur Applausspender, Spiegel, Entertainment? Möglicherweise ist nun eine gute Gelegenheit, zu lernen, sich selbst zu ertragen. Sich selbst wahrzunehmen ohne Umweg durch die Bewertung anderer.
Vor allem aber finde ich an der gegenwärtigen Lage positiv, dass sie einige Prioritäten zurechtrückt. Wenn sogar die FDP die Idee eines lukrativen Geschäfts (Hier: Verkauf von Exklusivrechten an einem Impfstoff) moralisch unter aller Sau findet, ist viel gewonnen. Wenn die Politik Berufstätigen in der Krankenpflege, in der Feuerwehr, bei Polizei und Rettungsdiensten endlich explizit Systemrelevanz zugesteht und ihnen deswegen sogar Vorrechte bei der Not-Kinderbetreuung einräumt. Wenn selbst die schlimmsten Haifischkapitalisten im Umfeld plötzlich den Satz „Gesundheit geht vor“ über die Lippen bringen. Wenn sich fremde Menschen statt mit „Auf Wiedersehen“ mit einem aufrichtigen „Bleiben Sie gesund!“ voneinander verabschieden. Dann, denke ich, bringt das Ganze die Gesellschaft unter einigen Aspekten vielleicht sogar voran. Und die Menschen zu einem echteren und ehrlicheren Miteinander, weil man plötzlich auch Fremde in ihrer Verwundbarkeit wahrnimmt und nicht nur die engsten Vertrauten.
Auch für die Erde ist diese Krise nicht nur schlecht. Venedigs Kanäle führen erstmals klares Wasser durch den ausbleibenden Touristen- und Kreuzfahrtbetrieb. Die Atmosphäre erholt sich ebenso wie die Naturschutzgebiete. Auf Langeoog ist ein höherer Bruterfolg bei den Zugvögeln zu erwarten, da mehr menschliche Störungen ausbleiben. Und vielleicht betrachten sich demnächst sogar die Langeooger ein wenig mehr als große Inselfamilie: Ich bin jedenfalls schon jetzt froh, endlich einmal sehen zu können, wer hier eigentlich dauerhaft lebt und wer nicht. Denn mit dem Abreisen der letzten Gäste zeigt sich, in welchen Häusern nachts wirklich noch Licht brennt. Und wer einem auf leeren Straßen noch immer entgegenradelt.

*** Liebe Leserinnen und Leser:
Auch von mir ein von Herzen kommendes „Bleiben Sie gesund! ***

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Momentaufnahme, Gut

Vor dem Haus steht eine Kiste mit ausrangierten Büchern, daneben eine kleine Spardose. „Standlektüre? Zum Mitnehmen gegen Spende“ sagt ein Schild. Erfahrungsgemäß funktioniert die Kiste gut, ich kann das wissen. Denn es ist meine Kiste.
Normalerweise spende ich überzählige Bücher der Vertrauensbibliothek, aber es gibt Monate, da kreist der Pleitegeier über dem Künstlerhaushalt, und dann ist es gut, wenn man noch den ein oder anderen Euro abends aus der Spardose schütteln kann.
Als ich an diesem Abend schüttele, höre ich nichts, obwohl viele Bücher fehlen.
Schweine, denke ich, zumindest ein Anstandskupferling hätte ja drin sein können. Zwar sah ich vom Fenster aus kurz Freunde in der Kiste wühlen, bei denen ich keinerlei Zweifel hegte, dass sie etwas dalassen, aber vielleicht, denke ich, haben sie ja kein passendes Buch gefunden — und ‚kein Buch, kein Geld‘ ist eine faire Rechnung.
Aber bevor ich mich über die Geiz-ist-Geil-Mentalität im Allgemeinen und Menschen vom Stamme Nimm im Besonderen aufregen kann, schüttele ich die Spardose noch einmal.
Ich höre auch jetzt keine Münzen. Aber das Rascheln von Scheinen.
Was mir am Ende des Tages entgegenfällt, ist also nicht nur ein wiederhergestellter Glaube an das Gute im Menschen, sondern auch der Gegenwert von zwei Tagen Essen oder einem halben Monat Internet.
Dank sei Gott.

„ER sorgt für uns. Auch wenn wir manchmal kaum noch Land sehen. Das glaube ich. Ich habe es oft genug erfahren.“ — Tröstete ich nicht erst kürzlich so einen Menschen, den ebenfalls schlimme Existenzängste plagten? Es ist gut, dass ich nun einmal mehr weiß, dass das keine hohle Phrase ist. 
„I have always depended on the kindness of strangers“, würde ein lieber Freund jetzt vielleicht aus Tenessee Williams’ „A Streetcar named Desire“ zitieren, obwohl dieser Freund als belesener Mensch natürlich weiß, dass die Protagonistin des Theaterstücks alles andere als „kindness“ erfahren hat, als sie diesen Satz sagt. 
Aber wenn man den literarischen Kontext hier außer acht lässt, passt es: Manchmal retten einem eben, man verzeihe den wenig prosaischen Ausdruck — nur noch ein paar Fremde den Arsch.
Und wenn man das nicht tut: Dann passt es auch.
Denn wie oft erwiesen sich zunächst als überaus freundlich auftretende Fremde als das Gegenteil davon? Und wie oft wird Güte von Gier missbraucht? Den Spruch mit dem kleinen Finger und der Hand kennt wohl jeder.
Hinzu kommen die Fälle gespielter Güte aus Gier nach Anerkennung, Altruistischer Narzissmus. Auch nicht fein. 
Es gibt wohl keinen Menschen, der nicht die ein oder andere Variante davon schon erlitten hat. Oder sich der ein oder anderen Variante davon schuldig gemacht hat.
Und doch: Das Ideal der Random acts of kindness. Es existiert.
Da ist zum Beispiel dieser eine Freund, in Schweden, der so riesig ist wie sein Herz. Selbst arm wie eine Kirchenmaus, schickt er mir das Wenige, das er eigentlich selbst nicht hat. Ich tue das auch für ihn, natürlich, aber es ist nicht selbstverständlich, und ich würde es auch nicht erwarten. Es erfüllt mich in demütiger Dankbarkeit und ich weiß, dass Gott ihn sehr dafür liebt. Vermutlich sogar noch mehr als ich.

Ich bin überzeugt, dass das Gute, das wir aus freiem Herzen für andere tun, irgendwann zu uns zurückkommt, Gott entgeht so etwas nicht. Manchmal kommt es nicht von jenen, wo wir damit rechnen sollten. Selten kommt es sofort. Aber es kommt. Und „rechnen“ sollte im Kontext mit Güte eigentlich ohnehin nicht vorkommen. Natürlich sind der materiellen Dienste am Nächsten Grenzen gesetzt — was ich an Geld selbst nicht habe, kann ich nicht herschenken — aber ein liebes Wort muss drin sein. Eine Umarmung. Zeit. Eine Tüte mit Lebensmitteln. Respekt für den Gedemütigten. Augenhöhe für den Gebeugten. Vertrauen für den Verratenen. Fürsprache für den Verleumdeten. Oder die schlichte Frage: Was kann ich tun? Es ist erstaunlich, mit wie wenig man etwas bewirken kann. Es braucht nicht die große Geste. Aber es braucht Aufrichtigkeit.

Abends bin ich am Strand. Nochmal davon gekommen. Die Scheine sind in der Tasche. Es war ein warmer Tag, meine Hosenbeine werden nass, als ich durch den Spülsaum laufe. Mir ist das egal, ich liebe es, hier und jetzt eins mit der Natur zu sein. Mit diesem großen, wunderbaren Geschenk, dass ich jeden Tag vor meiner Tür finde.
Ich liebe das Meer noch immer.
Die Flut kommt, das Wasser läuft in rasender Geschwindigkeit auf. Von einer Sandburg schauen nur noch die Zinnen raus. Bald wird sie verschwunden sein.
So ist das, wenn man auf Menschengeschaffenes baut, denke ich resigniert. Es mag auf den ersten Blick prachtvoll wirken und stabil. Aber letztlich ist es vergänglich, wie wir selbst, wie alles, das uns umgibt. Wir können nichts mitnehmen.
„Das letzte Hemd hat keine Taschen“, sagt mein Vater immer. Aber das Herz lässt sich immer füllen, wenn man es öffnet. Und das Gute an dieser Fülle ist, dass sie wächst, wenn man davon gibt.

Momentaufnahme, Goldenes Handwerk

Der volle Mond wirft seinen Lichtschein durch eine dünne Schicht kleiner Schäfchenwolken, die sich um den Erdtrabanten drängen wie eine Wärme suchende Herde. Das Licht bricht sich an den zirkulierenden Eiskristallen der Atmosphäre in bunten Spektralfarben.
Einige Luftschichten tiefer, auf der Erde, ist es für Dezember recht warm.
In zwei Tagen ist Heiligabend.

Die Insel füllt sich; viele verwaiste Ferienwohnungen sind nun abends wieder beleuchtet. Auch in den Regalen der Lebensmittelmärkte wurde erneut aufgerüstet. Für die Angestellten auf Langeoog zieht der Stress nun wieder an, aber dennoch scheint die Welt kurz vor Weihnachten immer auf eine wundersame Weise stillzustehen.

Der Advent ist, wenn auch für die meisten nicht mehr als Bußzeit, so doch als Wartezeit erspürbar. Zumindest, wenn man sich, wie ich, relativ geruhsam auf die Feiertage vorbereiten kann.

Auf den Baustellen wurde die Arbeit jetzt niedergelegt. Etliche Gerüste wurden abgebaut; Halbfertiges festgezurrt und abgesperrt. Letzte Handwerker machen sich mit ihren Werkzeugkoffern auf zur Fähre, während die Welt die Ankunft des wohl bekanntesten Zimmermanns erwartet.

Ich denke an die historisch ziemlich unbeleuchteten, jungen Erwachsenenjahre Jesu — bevor er als Wanderprediger bekannt wurde — und frage mich, wie es IHM heute als Zimmermann auf Langeoog wohl ergehen würde. Würde man ihn mit Respekt behandeln, pünktlich bezahlen, würde ein Kollege vielleicht seine Pausenration mit ihm teilen, ein Bauherr ihm bei Schietwedder mal einen Kaffee zum Wärmen der Finger ausgeben? Würde er eine bezahlbare Bleibe finden?

Ich frage mich, wie es ihm wohl wirklich ergangen ist, damals in Galiläa. Vielleicht hatte er einen Esel dabei, um Baumaterial, Lot, Wasserwaage und Werkzeug zu den Baustellen zu transportieren. Vielleicht hatte er einen Handkarren, vielleicht auch nur eine Schulterkiepe. Ein Stück Stoff mit eingewickeltem Proviant: Brot, Obst, Trockenfleisch oder -fisch. Einen Wasserkrug. „Jesus war in Allem Mensch, außer in der Sünde“ las ich einmal irgendwo.

Ich stelle mir den Heiland vor, wie er in der Arbeitspause auf einem niedrigen Mäuerchen sitzt. Seine Kollegen werden Zoten gerissen haben, wie auf allen Baustellen Zoten gerissen werden, möglicherweise gab es auch Bier oder dünnen Wein. Jesus schalt sie aber sicher nicht dafür, solange es nicht bösartig wurde, denke ich, vermutlich saß er einfach nur dabei und lächelte nachsichtig. Aber wenn es gemein wurde, dann griff er mit Sicherheit ein.

Ich erinnere mich aus meiner eigenen Kindheit an einen Kindergottesdienst, bei dem ein Kind gefragt hat, ob Jesus auch aufs Klo gegangen sei. Und noch deutlicher erinnere ich, wie die anwesenden Erwachsenen bei dieser Frage scharf die Luft einsogen. Nervöses Stottern war die Folge. 
„Getrunken und gegessen hat er“, presste schließlich jemand mutig hervor, „Das steht zumindest recht eindeutig in der Bibel.“ Und dass man sich den Rest dann wohl denken könne.
Heute denke ich, dass es doch irgendwie schön ist, wie unbefangen sich Kinder der Materie nähern. Für Kinder gibt es noch keine ungehörigen Fragen. Und auch ich fand die Frage damals eigentlich nicht schlimm.
Im Gegenteil: Ich fand es als junger Mensch immer schön, Jesus als echten Freund zu sehen. Als Gott zum Anfassen. Den man immer hatte, auch wenn man niemanden sonst hatte. Der verstand, verzieh und niemals petzte. Der einen so sah, wie man von Gott gemeint war.
Den Heiligen Geist, GOTT, die Dreifaltigkeit: All das begriff ich erst später. Aber dass Jesus Mensch war wie wir, nur ohne miese Eigenschaften — das hingegen verstand ich sofort.

Wie war Jesus als Teenager? Bestimmt auch mal aufsässig oder unmotiviert. Aber er mobbte oder versetzte mit Sicherheit niemanden. Wie war Jesus als Schüler? Vielleicht nur mittelprächtig. Und doch verstand er mehr als jeder andere. Und als Arbeiter, als Zimmermann? Ich stelle ihn mir sehr zuverlässig vor, sehr gründlich. Aber niemals verbissen. Und kein Karrierist. Ich denke, wenn Jesus einfache Tische und Bänke für eine Taverne zimmerte, nahm er den Auftrag genauso ernst wie den, einen Palast auszubauen. Freundlich wird er gewesen sein, bescheiden, aber bestimmt. Jemand, der nichts und niemanden ausnutzte, der sich aber auch nicht ausnutzen ließ. Ein Vorbild durch alle Zeit, bis heute.

Und nun feiern rund 2,2 Milliarden Christinnen und Christen in zwei Tagen seine Geburt, weltweit: Seine heutigen Handwerkskollegen feiern ihn, der Papst feiert ihn, arme Menschen und reiche, manche allein, andere in Gesellschaft. Es gibt Darstellungen, die das Christuskind in Königsgewändern zeigen, mit allem Prunk und Gold. Es gibt Darstellungen, die das Christuskind in absoluter Armut zeigen: Im Stall, mit einem Lumpen als Windel; seine Eltern als einfache Leute, ohne Gold, ohne Heiligenschein. Und tatsächlich mag ich beide Betrachtungsweisen.
Ich finde es schön, in dem armen Kind den Himmelskönig zu sehen. Und in dem König das arme Kind.

Ich bin kein Theologe. Ich weiß mich nicht besonders schlau zu Weihnachten zu äußern, tatsächlich bin ich nicht einmal besonders bibelfest und schnorre mir mein Wissen bislang bedarfsweise bei befreundeten Theologen zusammen. Aber das Schöne an genau diesem Weihnachten ist, dass ich es vielleicht nicht besser verstehe, aber doch mehr fühle als alle anderen Weihnachtsfeste zuvor. Es liegt so etwas Beruhigendes darin, so ein Frieden. Ja: Ich fühle mich weihnachtlich.
Ich fühle die Hoffnung, die dieses arme Kindlein uns immer wieder aufs Neue bringt. Das arme Kind, dass damals für so viele ein Nichts gewesen ist. Und das heute für so viele Alles ist. Ich fühle die Erlösung, die Gnade und Vergebung, die uns das Fest verheißt: Gott ist barmherzig, auch wenn es die Menschen nicht sind. Und Weihnachten bringt auch dem Traurigsten, der an die Botschaft glaubt, einen Grund zur Freude, denn niemand ist allein, der Jesus einen Platz frei hält. Nicht einmal die eigene arme Hütte muss einen da beschämen — denn diesbezüglich ist ER, der sein Leben in einer Krippe begann, ja nun wirklich alles gewohnt. Was sollte IHN da eine billig möblierte Einzimmerwohnung stören oder ein Würstchen mit Kartoffelsalat statt Festmenü?

Vielleicht ist meine Vorstellung von Jesus noch immer kindlich. Aber ich glaube daran, dass er dort gerne einkehrt, wo er willkommen ist und wo man ihn freundlich empfängt. Und ich mag die zentrale Botschaft Christi, die radikale Nächstenliebe, selbst wenn ich oft weit davon entfernt bin.
Tatsächlich finden auch etliche meiner eher kirchenfernen Freunde — sogar jene, die sich als Atheisten bezeichnen würden — : Dieser Jesus, das war ein Guter.
Vermutlich hätten sie ihm, damals auf der Baustelle, auch mal einen ausgegeben.Bildschirmfoto 2018-12-22 um 20.42.20

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern, allen Freundinnen und Freunden gesegnete Weihnachtstage und einen gesunden Start ins neue Jahr!