Um 17 Uhr herrscht bereits Krieg. Als ich aus dem Haus trete, liegt der Geruch von Schwarzpulver in der Luft. Seit zwei Tagen wird geknallt, in den Dünen liegen die leeren Plastikhülsen der Böller. „Wer Böller kauft, hat kleine Pimmel“ schreibt eine befreundete Berliner Drag-Queen. Das kann ich so nicht verifizieren, da ich keinerlei Ambitionen hätte, bei Leuten, die bereits zwei Tage vor Neujahr an Pyrotechnik dilettieren, überhaupt nachzuschauen, aber die pädagogische Intention der Drag-Queen weiß ich zu würdigen. Schließlich erreicht man heutzutage fast nur noch mit dergestalten Ansagen seine Zielgruppe.
Mir indes zerrt es an den Nerven. Mein Hund hat Todesangst. Dennoch müssen wir es wagen, eine spätere Runde ist ausgeschlossen: Es würde ja nur immer schlimmer. Kaum sind wir ums Eck, geht der nächste Böller los; schemenhaft sieht man grölende Menschen in Gärten herumfuchteln. Der Hund bellt und springt, er ist kaum zu bändigen.
Die Möwen auf dem Dachfirst, sonst furchtlose Kreaturen, stieben aufgeregt auseinander; noch minutenlang hört man verstörtes Krächzen und Flügelschlagen.
Wenig später trifft es einen Schwarm Gänse, der auf einem der Äcker ruhte. Panische Rufe, das Geräusch hunderter in Hast ausgebreiteter Schwingen.
Am Himmel Lichtfontänen.
Früher fand ich das mal schön. Ich finde es immer noch schön, wenn es in Städten von Profis, in festem Zeitrahmen, irgendwo über einem Hafen oder auf einer Brache abgebrannt wird. Aber im Naturschutzgebiet?
Ich sehe der roten Feuerblume, die sich da am Nachthimmel entfaltet, ärgerlich hinterher, während ich das wimmernde Tier streichele.
Spitzfindige behaupten an dieser Stelle gern, dass das Naturschutzgebiet ja erst am Dorfrand anfinge und das Ballern im Dorf erlaubt sei — nur, frage ich mich: Cui bono? Welches Tier schreckt denn nicht dennoch in der Ruhezone I, die man nicht einmal betreten darf, auf, wenn keine 150 Meter entfernt davon die Hölle losbricht?
Es ist bereits stockdunkel. Gardinen scheinen in Ferienwohnungen nicht mehr en vogue zu sein, vermutlich ist das Waschen zu aufwändig. Man kann überall durch die Fenster sehen. Menschen sitzen um Tische. Teenies über elektronischen Geräten. Eine Frau sieht sich strickend eine Naturdokumentation auf einem riesigen Fernseher an. Ein Pärchen liegt ungeniert im Bett, direkt vor dem großen Panoramafenster zur Terrasse. Eine Familie hat sich in einem Raum versammelt. Der Patriarch erklärt gestikulierend irgendetwas. Frau und Nachkommen lauschen gesenkten Hauptes. Mit Topfhandschuhen wird eine Auflaufform aus dem Ofen gezogen.
Auf der Straße ist es still, vom Böllerlärm und gelegentlichem Auflachen irgendwo einmal abgesehen. Man hört keine Kinder, keine Gespräche, keine Schritte.
Die Leute sind drinnen und bereiten sich auf die Nacht vor. Das Naturschutzgebiet um sie herum liegt in einsamer Schönheit, die Dünenkette reckt sich schwarz in den Nachthimmel, über den blaue Wolkenflecken ziehen. Der Abendstern prangt in voller Schönheit.
Ich gehe durchs Dorf. Die Restaurants sind überfüllt, die Regale der Spirituosenhandlung leergeräumt. Um den Glühweinstand herum hat bereits die Luft mehrere Promille. Ich zerre den Hund von Erbrochenem weg. Es ist jetzt 17:30.
Die Insel quillt über. Wenn man die Tage durchs Dorf ging und auf den Boden sah, um nach dem Hund zu schauen, oder weil einem im Regen die Kapuze ins Gesicht rutschte, so sah man nichts als Beinebeinebeine. Am Strand ein ähnliches Bild.
Es ist zu voll: Silvester ist Hauptsaison.
Riesige Familienverbände. Weinselige Kegelschwestern und -brüder. Gruppen von Pärchen mit erschreckend genderstereotypem Gebaren: Die Männer geben an und sind laut, die Frauen kreischen. Ein paar Kinder, aber nicht so viele wie in der Hauptsaison. Viele Hunde.
Das Meer sabotiert den Trubel. Es ist von einem so leblosen Aluminumgrau, als wolle es sich unsichtbar machen, und auch die Brandung ist nur als „langweilig“ zu bezeichnen: Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen!
Um 18:00 Uhr ist Messe. Es ist überraschend voll, warm und friedlich. Ging man noch mit Ängsten und Sorgen hinein, so kam man friedlich und voller Zuversicht hinaus. „Von guten Mächten“ wurde gesungen und man kann nur einmal mehr in ehrfürchtiger Demut vor Dietrich Bonnhoeffer sein Haupt neigen, der diesen wärmenden, mutmachenden und hoffnungsvollen Text im Gefängnis vor seiner Hinrichtung schrieb.
Aber auch während der Messe pfeift und knallt es um die Kirche herum; nicht einmal die Orgel vermag die Knallerei zu übertönen, auch nicht die Gemeinde.
Ich denke an die letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Krieges, denen das Flakfeuer noch in den Ohren klingt, die Detonation der Bomben. Meine Oma mochte kein Silvester.
Ich beeile mich, heimzukommen zum Hund.
Normalität soll man demonstrieren, wenn die Tiere Angst haben, also beschäftige ich mich mit Hausarbeiten, koche, mache Wäsche. Aber bei jedem Böller dreht er vollkommen durch; nur wenn ich mich neben ihn setze, ihn halte und streichele, ist Ruhe. Inzwischen — es ist immer noch weit VOR Mitternacht — kommen die Schüsse fast pausenlos. Irgendwann gebe ich auf und lege mich neben das Hundebett, eine Hand auf dem Tier. Sobald ich aufhöre, ihn zu streicheln, springt er wieder auf, läuft zum Fenster, bellt und bellt und bellt, bis er heiser ist und würgt.
Um 23 Uhr sind wir mit den Nerven Parterre, um Mitternacht kauern wir zusammen auf dem Fußboden; ich berge das weinende Fellbündel in den Armen.
Gegen 1 Uhr lässt das Knallen nach. Der Hund fällt sofort in Erschöpfungsschlaf. Meine Neujahrsbotschaft an den Lieblingsmenschen und die Eltern fällt einzeilig aus; auch ich kann die Augen nicht aufhalten: Es ist ja schon die zweite schlaflose Nacht, denn sobald Böller verkauft werden, wird auch geböllert.
Am Morgen werde ich gegen 7 wach, der Hund döst. Ich wecke ihn auf zur Runde. Die ersten 100 Meter pisst und pisst er, 12 Stunden eingehalten hat er, und ich bin stolz auf ihn, wie gut er das geschafft hat, auch wenn er mir sehr Leid tut.
Die Straßen sind leer. Aus der Dämmerung schält sich das erste Licht, die Venus strahlt noch immer. Irgendwo grölen letzte Schnapsleichen.
In der Straße mit den hübschen, gepflegten Häuschen der Wehrmachtsoffiziere liegt alles voll Müll: Plastik, Pulverreste, Papier.
In den Tourismusprospekten sieht man diese Straßen im Sonnenschein, Fasane staksen darüber, von den Zierkirschen rieseln Blütenblätter.
Langeoog, das Naturparadies.
Um 10 zieren winzige Schäfchenwolken einen babyblauen Neujahrshimmel, wie reingewaschen vom Dreck des alten Jahres.
Die erste Kehrmaschine rollt Richtung Strand.