Der Herbst ist bereits weit fortgeschritten. Die Hagebutten der Hundsrosen leuchten aus immer kahleren Zweigen und letzte Zugvogelschwärme sammeln sich für die Reise in ihr Winterquartier. Am Strand entdecke ich erste Sanderlinge: Die winzigen Vögelchen sind Wintergäste auf Langeoog und ein Anblick, der das Kommen der Kälte eindeutig versüßt. Aber noch ist es nicht kalt auf Langeoog. Die Luft ist noch immer warm und es tut gut, sich davon mit tiefen Atemzügen beleben zu lassen, während die Natur sich immer mehr zur Ruhe bettet. Die Sturmböen der vergangenen Tage haben das Meer aufgewühlt, von den Wellenkämmen sprüht die Gischt in langen Fontänen. Sogar der flache Priel, an dem die kleinen Sanderlinge nach Futter suchen, zeigt einen beachtlichen Wellengang. Ich gehe ein Stück am Flutsaum entlang. In der Ferne lassen Familien Drachen steigen. Ich spüre den kräftigen Westwind im Rücken und weiß, dass ich ihn auf dem Rückweg verfluchen werde, aber in diesem Moment tut er einfach nur gut. Er schiebt mich sanft voran auf meinem Weg, treibt den Sand neben mir her und ich freue mich über diese friedlichen Begleiter sowie über jeden Meter, den ich vom Inseldorf weiter Richtung Ostende gelange. Weg von Hektik und Eitelkeiten, weg von Stress und Streit. Hinein ins Königreich der Vögel, des Windes und der Wellen: Den einzig legitimen Herrscherinnen hier auf dieser Insel, deren Schönheit und natürlicher Autorität aller Respekt und jede Ehre gebührt. Allein: Die Natur braucht keinen roten Teppich. Auch hamstert sie keine Pracht, sondern verschenkt all ihren Reichtum täglich. Und wir, die wir diese Großzügigkeit kaum noch verdienen, brauchen nichts weiter tun, als ihn anzunehmen. Nun ist es mit der Natur aber oft nicht anders als mit den Menschen untereinander: Wer einen Finger gereicht bekommt, langt all zu oft nach dem ganzen Arm. Mich macht der Gedanke traurig, dass all das hier irgendwann nicht mehr da sein könnte, weil einige Leute oder ganze Nationen den Hals nicht vollkriegen können. Klimawandel, Meeresvermüllung, you name it. Und doch interessieren diese globalen Fragen, auf die es auch nur globale Antworten geben kann, meist weniger als das tägliche Kleinklein, und ich nehme mich davon nicht unbedingt aus.
Das ornithologische Kleinklein in Form der Sanderlinge flitzt weiter längs am Priel entlang und ich bleibe stehen, um ihnen zuzusehen. Morgen beginnen die Zugvogeltage und ich erinnere mich an die Jahre, in denen ich als Urlauber daran teilnahm. Herrlich war es, denn ganzen Tag nichts anderes zu machen, als unter fachkundiger Anleitung durch diese herrliche Landschaft zu stromern und all diese kleinen gefiederten Wunder durch riesige Spektive zu bewundern, die wir den ganzen Weg über auf den Fahrrädern mitschleppten. Abends fiel man, ebenso glücklich wie erschöpft, in einen Stuhl in irgendeinem Restaurant und ließ sich etwas Leckeres servieren, bevor man in der Ferienwohnung den Tag bei einer Tasse Tee beendete. Voller Vorfreude auf den nächsten Sonnenaufgang und den Fasan, der mit kupferglänzendem Gefieder meckernd durch den Vorgarten schritt.
Ich mache mich auf den Heimweg, denn nun, im Alltag auf der Insel, wartet noch anderes auf mich als Essen, Ausruhen und Fasane. Über der Dünenlandschaft steht ein Turmfalke nahezu starr in der Luft, unterbrochen von kurzen Rüttelflügen und einem Hinabstürzen ins Dünengras, sobald er ein Beutetier entdeckt. Ich bewundere den eleganten Jäger für seine Beharrlichkeit, denn es sieht nicht so aus, als würde er nach jedem Sturzflug etwas erlegen. Aber er steigt immer wieder auf, späht immer wieder aufs Neue hinab: Der Hunger muss gestillt werden, bevor der Winter kommt.
Etwas ratlos betrachte ich das Jahr, das nun schon wieder zuende gehen will, kaum, dass man es in Händen hielt. Und dann reden die Menschen von Entschleunigung auf Langeoog, denke ich. Schön wär’s. Aber letztlich sind es ja doch diese kurzen Momente des Innehaltens, die uns wieder Atmen lassen und das Rotieren der Welt ein bisschen bremsen: Der rüttelnde Turmfalke, die emsigen Sanderlinge, die leuchtenden Hagebutten. Ich steige aufs Rad und stemme mich mit frischen Kräften gegen den Wind.








