Es ist da!

Moin,

ich freue mich, Band 6 meiner Prosa-Reihe „Momentaufnahmen“ ankündigen zu können. „Neues von der Insel und dem Himmel darüber“ lautet der Untertitel — und darum geht es auch. Das Themenspektrum ist wie gewohnt vielfältig. Zwar bildet die Insel Langeoog noch immer die Kulisse für die meisten der kleinen Lesestücke, aber man kann auch gemeinsam mit dem Ich-Erzähler unterwegs sein: Unter Mönchen im Kloster, im winterlichen Oslo, an trostlosen Raststätten und in verschlafenen Kleinstädten.

https://www.bod.de/buchshop/momentaufnahmen-6-mayk-d-opiolla-9783750406926

Klappentext:

„Im sechsten Band der „Momentaufnahmen“ enthüllt die Natur in bildgewaltiger Beschreibung ihre ganze Schönheit, aber auch ihre Lebensfeindlichkeit. In gewohnter Manier nimmt uns der Ich-Erzähler mit auf Spaziergänge über vereiste Strände und in blühende Dünentäler, an Bord von Schiffen und hinter Klostermauern, in den Wald und in die Welt.
An aktuellen Themen wird dabei nicht gespart: Zwischen Brandenten, Beichtstuhl und Brexit geht es um havarierte Containerriesen, eine Insel im Wahlkampf, den Hass im Netz und Katholizismus in der Krise. 33 neue Geschichten, von heiter bis düster, lakonisch bis garstig, romantisch bis melancholisch.“

Mit ebenso großer Freude darf ich auch schon die ersten Lesungstermine ankündigen:

17. Dezember 2019, Gulfhof Friedrichsgroden, Carolinensiel. (In Kooperation mit der Deichkirche und dem Wattwanderzentrum Ostfriesland, Danke!)

Eine zweite Dezember-Lesung wird im Haus der Insel auf Langeoog stattfinden, Termin folgt in Kürze!

Beste Grüße von der Insel (mitsamt dem Himmel darüber)

Mayk

Bildschirmfoto 2019-10-24 um 20.38.20

Momentaufnahme, Zirkel

Der letzte heiße Tag des Jahres liegt hinter mir. In den letzten Stunden des Augusts zeigte das Thermometer noch einmal über 30°C. In der gemütlichen Dachwohnung hinter dem Deich, in die mich Freunde auf dem Festland einquartierten, ist es brütend warm. Sie gehört zu einem wundervoll hergerichteten alten Bauerngut, in dessen Hof heute ein Fest stattgefunden hat. Vor kaum einer Stunde sind die letzten Töne der Musik verklungen, ich lauschte der Band vom Dachfenster aus. Die Stimmen der Gäste zerstreuten sich rasch. Dann wurde es still.
Im letzten Licht der Abenddämmerung sehe ich Windräder blinken. Ich kann bis weit über den Deich sehen, die Silhouette Langeoogs zeichnet sich noch am Horizont ab. Mächtige Pappeln rahmen den Hof meiner Freunde ein, sie stehen Spalier wie freundliche Soldaten, es geht überhaupt nichts Bedrohliches von ihnen aus. An den Hof grenzt ein Acker, dahinter ist ein Campingplatz. Die meisten der Wohnmobile sind beleuchtet und ich leide mit den Menschen, die dort in ihren Blechbüchsen gesotten werden. Der heilige Laurentius möge ihnen beistehen, denke ich, und bete, wie vermutlich viele an diesem Tage, um das lang erwartete Gewitter.
Doch noch dringt durch das weit geöffnete Fenster kein Lüftchen. Um keine Insekten anzulocken, habe ich kein Licht in der Wohnung gemacht. Nun sickert die Schwärze der Nacht hinein und verteilt sich im Raum wie immer dichter werdender Nebel. Ich lege mich aufs Bett und lausche ins Dunkel. Eine Eule schreit, der elegante Jäger muss ganz in der Nähe wohnen. Dann endlich fährt die erste Windboe in die Pappeln. Ich höre das Rascheln der Blätter, die Eule schreit nochmals. Die Fensterscheiben beginnen zu vibrieren, ein gewaltiger Donner erschüttert das Gemäuer, Blitze zucken. Nun kann es nicht mehr lange dauern, denke ich. Aber der Regen lässt sich Zeit.
Ein paar einzelne Tropfen klopfen ans Dach. In den Pappeln rauscht der Wind nun stärker. Und dann rauscht auch das Wasser. Ein letztes Mal höre ich die Eule schreien, ihr Ruf verhallt im Strömen des Regens, und ich sehe sie vor mir, wie sie in einer Asthöhle in den Pappeln Schutz sucht, mit den schönen großen Augen immer wieder zaghaft hervorlugend, sicher noch hungrig. Auch ich stehe nochmals auf und luge aus meiner Höhle. Die Fenster schließe ich bis auf einen Spalt; groß genug, dass die Gewitterluft noch Kühlung bringen kann. 
Als die Raumtemperatur endlich absinkt, schlafe ich unverzüglich ein, obwohl der Sturm an den Dachschindeln reißt und immer wieder lauter Donner die Nacht durchdringt. Ich denke noch einmal an die Eule in ihrer Höhle und daran, was für ein Privileg es ist, bei diesem Wetter ein warmes Bett zu haben und ein Dach, das dichthält. Nicht alles, was der Mensch schafft, ist schlecht. Die Fähigkeit, sich selbst oder anderen ein Zuhause zu bauen, ist gut. Schutz ist es. Und Geborgenheit auch.

Am nächsten Morgen ist die Temperatur stark gefallen, aber der Boden hat den Regen beinahe schon wieder aufgesogen. Ich mache einen frühen Spaziergang über den Deich, die Pappeln haben nichts von ihrer Erhabenheit eingebüßt, aber ein paar kleinere Bäume haben Äste gelassen. Ein Greifvogel kreist, vermutlich ein Falke. Hinter einem Gatter schauen ein paar Schafe träge zu mir hoch und kauen.
Über den Inseln am Horizont hat sich die Sonne schon Bahn gebrochen. Ich stelle mir vor, wie sie nun durch mein Wohnzimmerfenster scheint und alles, was ich liebe, mit ihrem Licht streichelt. Meine Bücher, meine Kissen und Decken, den kleinen Hausaltar und die neu erworbenen, leuchtend grünen Zimmerpflanzen in ihren hübschen Ampeln. 
Für nochmals eine Woche werde ich heute zurückfahren; dann werde ich länger fort sein und meine Wohnung eine Weile nicht sehen. Insofern war es ein bisschen unsinnig, noch all diese Pflanzen zu kaufen, obwohl sich eine Freundin gut darum kümmern wird. Aber mir war eines Tages, als bräuchte ich mit dem scheidenden Jahr, mit dem ruhenden Leben vor meiner Haustür, unbedingt noch etwas mehr Leben im Inneren, und eigentlich beantwortete mir das auch sehr genau die Frage, warum ich diese Pflanzen kaufte: Ich klammerte mich ans Leben.
Ein Krankenhausaufenthalt steht bevor, und nach einer grässlich missratenen Narkose vor einiger Zeit gehe ich nicht mehr unbefangen daran. „Wir mussten Sie wiederholen“, sagte der Arzt, und ich hatte lange gebraucht, bis mir die Tragweite des Ganzen bewusst worden war: So schnell kann es also gehen. Und dann war es das halt.

Und nun liege ich, einige Stunden nachdem ich den Hof der Freunde verließ, wieder auf dem eigenen Bett und sehe einer sich prächtig entwickelnden Efeutute zu, wie sie aus ihrer Ampel sanft schaukelnde Schatten auf meine weiße Tagesdecke wirft. Liebe erfüllt mich zu dieser Pflanze. Zu dieser Wohnung. Zum Meer am Ende der Straße. Und zu meinem Leben.
Ich will nicht sterben. Auch dieser Satz ist für mich noch wie ein ungewohntes Kleidungsstück, denn sehr lange hing ich keineswegs an meinem Leben: die meiste Zeit meiner Jugend hasste ich es. Und danach war es mir egal. Man lebte halt seine Jahre ab, bis die statistischen 86kommanochwas voll waren. Aber nun bin ich frei, nun habe ich das Meer, nun habe ich Gott. Und jetzt will ich leben. 
Aber ich frage mich, ob zwischen „ich will leben“ und „ich will nicht sterben“ nicht noch ein Unterschied ist. Ist Todesangst nicht gar ein Zeichen von Kleingläubigkeit? Soll man als Christ nicht freudig folgen, wenn der HERR einen heimruft?
Ich fragte vor einiger Zeit einen jungen Mönch danach, an einem warmen Abend im Mai, der nicht schöner hätte sein können. Er sagte, die Angst sei menschlich. Und dass man Vertrauen haben müsse. Über uns rauschte der warme Wind durch sattgrüne Lindenblätter. Der Mönch sah aus sanften Augen in die Ferne. Ich weiß nicht, was er über den Tod dachte. Aber er segnete mich und es war gut, dass er da war.

In den letzten Tagen habe ich viel darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn dies nun wirklich der letzte Sommer war, der letzte Herbstanfang. Würde ich in panische Geschäftigkeit verfallen? Noch schnell einen Kredit aufnehmen, um ein paar Reisewünsche zu bezahlen? Irgendjemandem irgendetwas sagen, was er oder sie nicht eh schon wüsste? Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto ruhiger wurde ich. Es war alles gut so, wie es ist. Und wie immer es kommen mochte.
Eine kräftige Windboe lässt den kleinen Glasengel am gekippten Fenster gegen die Scheibe schlagen. Das Geräusch holt mich aus den Gedanken, zeitgleich bekomme ich eine Nachricht: „Wir haben Sturmflut, geh dir das ansehen!“
Ich stehe vom Bett auf, schnüre die Stiefel, nehme meine Jacke vom Haken und gehe. 
Vor dem Strand bäumt sich die See wie ein entfesseltes Urviech. Unzählige Schaulustige haben sich eingefunden. Die Sonne leuchtet das dramatische Spektakel aus wie ein versierter Theatertechniker; die Szene ist filmreif.
Ein paar Wahnsinnige gehen trotz des Wellengangs schwimmen, eine Mutter filmt seelenruhig ihre Kinder, während diese tollkühn von der Abbruchkante rutschen: Offenkundig können auch einige Menschen Kulisse und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten. Der Wind tobt, ich bin binnen Sekunden mit Sand paniert. 
Die gewaltige Energie, welche die Natur in diesem Moment entfesselt, überträgt sich unverzüglich auf alles Lebende, alles bewegt sich. In jadefarbenen Bögen stürzen die Wellen in sich zusammen, um gleich die nächsten zu gebären, ein Kreislauf, dem man nur staunend zusehen kann. Muscheln, Seesterne, Algen … all diese Schätze wirft mir das Meer vor die Füße, nur um sie im nächsten Moment wieder einzusammeln.

Vielleicht ist auch das wie das Leben, denke ich: Man darf es staunend bewundern, ein paar Augenblicke lang lieben, vielleicht sogar einen Moment in den Händen halten. Aber dann muss man loslassen und es geht mit der nächsten Welle zurück zum Ursprung. Wirklich verloren geht aber nichts und niemand.
Als ich vom Strand komme, mache ich Pläne für die Zeit nach dem Herbst. Mit einem Freund verabrede ich einen Waldspaziergang im Schnee, im Januar. Ich werde mit dem Nachtzug zu ihm fahren, im Schlafwagen. Das habe ich noch nie gemacht und ich freue mich darauf wie ein Kind. Der Mönch hatte Recht: Man muss vertrauen.
Wir werden leben.

Momentaufnahme, Grundrauschen

Das Meer schweigt heute. Obwohl für die nächsten Tage Sturmböen vorhergesagt sind, rührt sich kein Hauch. Auf dem Balkon lausche ich in die Stille. Irgendwo brummt ein Gartengerät. Jemand hustet. Wortfetzen von Vorbeiradelnden. Aber das Meer bleibt stumm.
Schlagartig wird mir klar, wie unendlich ich das Meer vermissen würde, wenn ich noch einmal woanders leben müsste. Wenn ich die treue, herrliche Weite der See nicht mehr in fußläufiger Entfernung wüsste. Wenn ich nicht genau wüsste, dass es da ist, selbst wenn ich es einmal nicht höre.
Auch jetzt weiß ich: Ich müsste nur die Straße hinaufgehen und dann läge es vor mir, still und schön, im hellen Grau eines Regentages.
Es regnet nun stärker. Das Wasser fällt in lotrechten Schnüren vom Himmel, ich rieche die nassen Straßen und höre das Rauschen in der hohen Hecke, die mein Haus vom Nachbargrundstück trennt.
Ein Kind kommt in einem winzigen gelben Ostfriesennerz angerannt, die Kapuze unter dem Kinn zusammenhaltend, und verschwindet in einer der Ferienwohnungen.
Ich genieße es, jetzt noch auf dem Balkon sitzen zu können, weil sich aufgrund der Windstille kein Tröpfchen unter das Dach verirrt. Es ist vollkommen trocken an meinem Platz, und ich beobachte die Welt durch einen Vorhang aus Regenschnüren.
Obwohl ich zurzeit nicht gern vor die Tür gehe, überkommt mich starke Sehnsucht nach dem Meer. Ich möchte hingehen und einfach nur nachschauen, ob es noch da ist. Natürlich ist das Blödsinn, weil ich genau weiß, dass es da ist — das Meer ist ja kein Mensch, es verlässt einen nicht.
Und ich möchte es auch nicht verlassen.

Es ist diese Beständigkeit, die mich die See so sehr lieben lässt. Die Gewissheit, dass all die Hektik und das Unbeständige der Menschenwelt die Wellen nicht aus dem Rhythmus zu bringen vermögen, beruhigt meinen Herzschlag schon beim bloßen Gedanken daran.
Dieser uralte Begleiter, keine 200 Meter von meiner Haustür entfernt, könnte mich problemlos töten. Aber er schenkt mir auch Heimat, Geborgenheit und Lebensfreude. Ich erinnere keinen einzigen traurigen Tag, an dem ich nicht getröstet vom Strand zurückkehrte. Und keine Verzweiflung, die ich nicht auf nimmerwiedersehen den Wogen übergeben hätte. Das Meer heilt. Und ich liebe es so unendlich, samt dem Himmel darüber.
Die Wolken sind heute schiefergraue Ballen, aber dort, wo der Strand ist, heben sich ihre dunklen Ränder wie die Volants eines altmodischen Theatervorhangs und machen Platz für das Licht.
Auch über dem Haus reißt der Himmel langsam auf und zeigt ein paar Stückchen Blau; durch einen letzten Hauch Regendunst leuchtet sogar die Sonne.

Dieser Tage machte ich mit einem Freund einen Ausflug. Wir fuhren nach Leer und Ditzum; vor dem Fenster: Deiche, Windräder, Schafe, winzige Dörfer und uralte Warftkirchen. Der Freund wuchs in dieser Gegend auf; wir trafen kaum jemanden, der ihn nicht grüßte oder ein paar Worte mit ihm wechselte. Im Restaurant, wo wir für den Preis einer Langeooger Vorspeise exzellenten Fisch aßen, kannte er die Familie der Kellnerin bis in den kleinsten Zweig beim Vornamen. Gegenüber schaukelten die Masten der Kutter im goldenen Licht eines späten Nachmittags. Es war ein friedvoller Tag und ich genoss es, die Landschaft in aller Privatheit vorm Autofenster vorbeiziehen zu sehen; ohne die Geräusche, Gerüche und Zwischenhalte des Busfahrens. Der Freund fuhr routiniert, aber mit Bedacht; außerdem bekreuzigte er sich vor jedem Anfahren, was mir zusätzlich ein gutes Gefühl gab. Ich hatte keine Angst, und vor dem Fenster lag die Schönheit unserer ostfriesischen Heimat, in der er tatsächlich als eines der wenigen katholischen Kinder großgeworden war.

Bald erreichten wir wieder die Stadt, ein Kirchturm schlug. Überrascht registrierte ich, dass der Freund eine Parkbucht ansteuerte, obwohl wir noch nicht am Ziel waren. „Es ist sechs Uhr!“, sagte er, „Lass uns den Engel des Herrn beten!“ „Ja klar“, sagte ich, wiewohl etwas verdutzt, und zerrte so hastig die Worte aus meinem Gedächtnis, als seien sie Kleider für eine überstürzte Reise. „Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft und sie empfing vom heiligen Geist …“ 
Das Gebet dauerte exakt so lang wie die Glockenschläge, sofort nach dem „Amen“ fuhren wir wieder los. Ich schmunzelte noch eine Weile in mich hinein. Da saßen wir also in einem hochmodernen Auto, das sogar noch recht neu roch, mit Navigationssystem und Smartphones in unseren Taschen, und doch gab nicht all diese Technik den Takt an, sondern ein uraltes Gebet, das schon im 14. Jahrhundert gebetet wurde, zum Angelusläuten um sechs Uhr.
Ich bewunderte den Freund auch um seine Routine in diesen Dingen. Wie beruhigend muss es sein, sein Leben nach einem Stundenbuch durchgetaktet zu wissen und die täglichen Gebetszeiten stärker verinnerlicht zu haben als die Mahlzeiten oder irgendwelche anderen Alltagsdinge? Wie beruhigend ist es zu wissen, dass da etwas ist, das immer viel größer als alles andere war und immer sein wird? Und wie schön ist die Gewissheit, dass diese Gebete bereits Jahrhunderte überdauert haben und, aller Konzile und der Reformation zum Trotz, noch heute den nahezu selben Wortlaut haben?
Nicht grundlos war ich vor einiger Zeit not amused, als sich ein Frauengebetskreis, der auf der Insel gastierte, während einer Andacht sogar am Vaterunser zu schaffen machte.
Ich mag keinen Stillstand. Aber ich liebe Dinge mit Bestand. Ich brauche diese kleinen Stückchen Ewigkeit, um im Getriebe der Welt nicht zermalmt zu werden. In dieser Hinsicht, denke ich, sind der Engel des Herrn, das Vaterunser, das Ave Maria, das Magnificat oder das Salve Regina wie das Meer: Sie waren vor mir da, werden nach mir sein, trösten und beruhigen den Herzschlag wie das stoische Rauschen der Wellen. Ich hoffe, dass auch ich mir irgendwann eine solche Gebetsroutine aneignen kann wie der Freund, denke ich. Denn auch wenn ich nicht vorhabe, jemals vom Meer wegzuziehen, ist es doch schön, noch etwas zu haben, das einen täglichen Haltepunkt im Alltag markiert. Wo man, fernab von jeder Technik und zeitgenössischen Errungenschaft, einfach nur aus dem Herzen lebt; klein vor den Wundern der Schöpfung, aber doch eins mit der Welt.

Momentaufnahme, Fahrt

Ganz plötzlich ist es Sommer. Die Hitze lässt den Asphalt flimmern, während vor dem Autofenster erst das Münsterland, dann das Emsland und schließlich das geliebte Ostfriesland auftaucht. Zahllose auf -um endende Dörfer sowie Städte, mit denen ich längst liebgewonnene Menschen und wertvolle Erinnerungen verbinde, tauchen auf der Beschilderung am Straßenrand auf: Aurich, Wilhelmshaven. Jever. Leer. Ich denke an meine Freunde, die dort jetzt aus ihren Fenstern schauen oder irgendeiner Aktiviät nachgehen und fühle mich sehr zuhause. Auch einer der Stiepeler Mönche stammt gebürtig aus dieser Region, und es war herrlich, sich mit ihm über alles von Gott bis Grünkohl zu unterhalten. Beim Frühstück steckte er mir heimlich ein paar Beutel „Bünting Grüngold“ zu, weil das, wie jeder weiß, der einzige Ostfriesentee ist, der auch mit Ruhrwasser funktioniert. Ich nickte verschwörerisch und jubelte meinerseits ein paar Beutel mitgebrachtes Langeooger Sanddorngebäck in den Klosterküchenfundus, die ich zu meiner Freude schon bald gänzlich entleert im Rekreationsraum der Gottesmänner liegen sah. Ich vermisse die Mönche. Aber ich liebe den Norden. Und so liegt zwischen Abschiedsschmerz und Wiedersehensfreude nun die Autobahn.

Ich habe sehr lange keine Autoreise mehr gemacht. Ich fahre nicht gerne und besitze auch gar kein eigenes Auto; aber meine Eltern sind mit an Bord, dazu viel Gepäck, und so rumpeln wir also die Straßen entlang; den heiligen Christopherus rief ich noch vor der Abfahrt auf dem Parkplatz an.

Die schmucklose Raststätte, an der wir pausieren, hat hingegen so gar nichts von Heiligkeit. Irgendwo zwischen Einarmigen Banditen und unten im Regal versteckter Einhandliteratur ziehe ich einen Kaffee aus einer schmuddeligen Maschine. Der Mann an der Kasse ist sehr freundlich; trotzdem denke ich, dass Raststätten an der Autobahn die einsamsten Orte der Welt sind, sogar wenn deren Lokalitäten überquellen. Auf dem Spielomaten steht das Schild einer Suchtberatungsstelle. „Reden wir einfach drüber“ sagt es, „Spielsucht ist behandelbar“. Dazu eine Telefonnummer. Auf dem Parkplatz röhren gleichgültig die Motoren. Niemand kommt hierher, um zu bleiben.

Draußen herrscht ein Geruch nach Benzin und Frittiertem. Wir schlingen die mitgebrachten Brötchen im Wageninneren hinunter und setzen die Fahrt fort. Die Sonne brennt auf das Blech und verwandelt das Auto binnen Minuten in einen Inkubator.

In meinem Koffer schlummern derweil Leder-Stiefeletten, Daunenwesten und Wollpullover: Es war kalt, als ich die Insel verließ; heute trage ich kaum noch etwas am Leib.

Am Nachmittag erreichen wir Dornum. Ich sah diesen Ort mit seiner Burg, dem Wasserschloss und der schönen Warftkirche zuletzt im Winter. Nun steht die 200 Jahre alte Rotbuche vor dem Gotteshaus in vollem Laub ― Ein wundervolles Gewächs. So voller Leben. Und so viel überlebend: Generationen und Kriege.

Auch an anderen Stellen des Dorfes sieht man solche botanischen Methusalixe; die Krähen zanken mit ohrenbetäubendem Lärm in den stolzen Kronen.

Mit meiner Mutter sitze ich am Abend unter einer riesigen Trauerweide. Die Bank darunter bildet ein Rondell um einen alten Mühlstein, der wiederum als Tisch fungiert. Aus der Uferböschung des Burggrabens leuchten Lilien; eine Entenfamilie gründelt.

Ob es denn gerade niemanden gäbe, der mich interessiert, will sie wissen. Also: Vielleicht ein bisschen mehr interessiert. Und wen ich besonders nett finde, also: „vielleicht mehr als nett“. ― Was Mütter eben so fragen.

„Mich interessieren so einige ein bisschen“ sage ich, und liste ein paar Namen hochgeschätzter Freunde auf, wiewohl mir klar ist, dass sie etwas anderes hören will. Aber da ist nichts. Nicht in dieser Hinsicht. Es geht mir gut.

„Mir reicht der Herrgott“ wand ich mich bereits im Kloster heraus, als mich ein anderer Gast nach einer Ehefrau verhörte. Unter Katholiken gibt man sich i.d.R. damit zufrieden, aber im anderer Gesellschaft ist es nur schwer zu vermitteln, dass man ein priesterliches Leben führt, ohne es zu müssen: Einfach, weil man es so will und weil es einen glücklich macht.

Und das tut es: War ich im letzten Jahr noch gebrochenen Herzens in dieser ostfriesischen Burg zu Gast, so liege ich hier nun in gelöster Heiterkeit hinter den Mauern und höre dem Gezänk der Krähen und dem Gurren der Wildtauben zu. Dazwischen schreit schrill ein kleiner Kauz.

Nur noch zwei Tage Frieden, denke ich, als langsam die Nacht über die Burg hereinbricht. Danach hat mich der Tumult einer Insel im Bürgermeister-Wahlkampfmodus wieder: Die Nachrichten von Langoog sind nicht schön dieser Tage. Halte einem Gaul (oder vieren) die Möhre „Macht“ vor die Nase und schon dreht der ganze Stall durch. Von Schlammschlachten und Schlangengruben ist die Rede, von schreiender Naivität und perfider Manipulation, von Selbstdarstellung und peinlicher Anbiederung, von Klassendünkel und Korruption. Und mich erstaunt immer wieder, wie selbst in schönster Umgebung der Mensch seine Hässlichkeiten nicht zu verbergen mag: Bei der erst kurz zurückliegenden Europawahl setzen zwei Insulaner ihr Kreuz bei der NPD, bei der blaugestrichenen Lightversion davon ganze 44. Was soll man dazu noch sagen?

Ich freue mich auf das Meer, auf meine Wohnung. Aber manchmal, so scherzte ich bereits mit dem Leeraner Mönch: Manchmal wüsste ich eine Zweigstelle des Klosters auch auf Langeoog sehr zu schätzen.

IMG_2629

Willkommen in Carolinensiel!

Die Ankündigung meiner Lesung im September findet sich nun auch auf der Seite des Deutschen Sielhafenmuseums. Herzlich willkommen! Wer noch Unterkunft sucht: Der Gulfhof Friedrichsgroden sei beispielsweise wärmstens empfohlen. Von dort ist es ein wunderschöner Spaziergang zum Historischen Hafen und zum Museum.

Zum Veranstaltungskalender geht es hier:

http://www.dshm.de/terminkalender-liste/261.html

LESUNG MAYK D. OPIOLLA
Freitag, 13. September
19:00 Uhr

Momentaufnahme, Fülle

„Leben in Fülle“. Es ist ein Leichtes, sich vorzustellen, was die Bibel damit meint, wenn man dieser Tage über Land fährt. Vor dem Busfenster, auf der Straße Richtung Norden, wogen goldene Ähren. Der Mais schießt in die Höhe, auf den Obstplantagen bekommen die Äpfel schon rote Bäckchen. Auf den Verkehrsinseln leuchtet der Rainfarn in goldener Pracht. Die Natur ist hier weiter als auf Langeoog, denn dort hat diese von mir geliebte Pflanze, die unter anderem an den Strandaufgängen wächst, noch grün verschlossene Knospen.
Blühstreifen, welche die Äcker und Weiden säumen, sind blauweiß geblümt wie zartes, friesisches Teegeschirr: Kornblumen und Kamille, Disteln und Schaumkraut geben sich ein „Landlust“-Covertaugliches Stelldichein. In einem funkelnden Wassergraben füttert eine Teichralle ihr Kleines, Holsteiner Fleckvieh käut, träge und wohlgenährt, auf saftiggrünen Wiesen wieder. An den Straßenrändern zeichnet sich eine Allee junger Birken strahlend weiß gegen den königsblauen Himmel ab. 
All diese Pracht ist über das zarte Erwachen des Frühlings weit hinaus; sie trägt bereits das Verprechen auf die Ernte des Herbstes in sich, ohne jedoch schon erkennbares Verfallen, die Vorboten des Winters, zu zeigen. Der Sommer ist auf seinem Zenit.
Kurz vor der Stadt Norden steige ich aus. Das Schloss Lütetsburg ist mein Ziel mit seinem beeindruckenden Park, an den ich mich nur vage aus sehr jungen Jahren — damals in Begleitung meiner Eltern — erinnere. 
Mit ihren alten Gewächshäusern, die heute ein Café und einen Laden beherbergen, erinnert mich die Anlage an die Königlich-Preußische Gartenakademie in Berlin, unweit des Botanischen Gartens, wo ich liebend gern den mir ansonsten unerträglichen (obwohl hochgepriesenen) Berliner Sommer verbrachte.
Im Inneren des Glashauses, in dem sich das Café befindet, ranken Weinstöcke aus den 50er Jahren und zaubern entzückende Schattenspiele auf das schlichte, aber gepflegte Interieur. Sogar das Klo befindet sich in einem bezaubernden Backsteinhäuschen, an dem üppige Rosen wuchern. 
Es ist später Vormittag; das Café hat gerade erst aufgemacht. Außer mir ist nur ein älteres Ehepaar sowie ein Damenkränzchen anwesend, das bereits bestgelaunt dem Sanddornprosecco zuspricht. 
Die Kuchen und Torten in der Vitrine sehen ebenfalls aus, als entstammten sie geradezu einer „Landlust“-Ausgabe, aber es ist eindeutig noch zu früh dafür. Also bestelle ich Tee und eine Gemüsequiche, die hier nicht profan mit einem „Beilagensalat“, sondern mit einem „kleinen Salatgesteck“ angepriesen wird. Alles ist stilvoll und edel, ohne protzig zu sein: Cleanes Understatement. Und wo wäre das Wording „Gesteck“ passender als in einer Schlossgärtnerei? Eben. Der Ex-Werbefuzzi in mir nickt. Und fast wäre mir auch schon nach Prosecco.

Nach dem Brunch rüste ich mich für den Gang durch den Park, dessen gewaltige Ausmaße mir erst bewusst werden, als ich im zweiten historischen Gewächshaus — dem Lädchen — einen ausführlichen Parkguide kaufe. Mir dämmert jetzt schon, dass ich nicht alles schaffen werde, bis ich den Bus zum letzten Schiff zurück nehmen muss. Also picke ich mir die interessantesten Stationen heraus: Die Kapelle, die 300 Jahre alte Eiche, die Nadelgehölze, den größten See. 
Aber es fällt schwer, sich an den Plan zu halten. 
Hinter jeder Ecke eröffnen sich faszinierende Perspektiven, spektakuläre Sichtachsen, ausgeklügelte und doch so zufällig wirkende Blickwinkel. Zwischen den sonnendurchwirkten Zweigen immer wieder: Das Schloss.
Eine Hochzeitsgesellschaft hat sich unterhalb des „Tempels der Freundschaft“ versammelt, der eine Außenstelle des Standesamts Hage beherbergt. Die nächste Gesellschaft wartet bereits auf ihren Einzug. Eine hochgewachsene Dame in einem eleganten, bodenlangen grünen Kleid, mit weich aufgesteckten, edelholzbraunen Haaren und sensationeller Figur, verschmilzt förmlich mit dem Sattgrün der Bäume und stiehlt der Braut zweifelsohne die Show. Ich sehe sie nur vom Weiten, aber es ist einer der seltenen Fälle, in denen sogar ich eine Frau anbetungswürdig finde. Und jedes Mal, wenn jetzt jemand „Holla, die Waldfee sagt“, denke ich, werde ich wohl genau diese bezaubernde „Waldfee“ vor Augen haben.
Unter einer Baumgruppe posiert ein drittes Brautpaar gerade für eine Fotografin. Alle, die daran vorbeimarschieren, rufen „Herzlichen Glückwunsch“: Es sind viele. Die Braut ist zu stark geschminkt und sieht gestresst aus. Aber sie bedankt sich und versucht zu lächeln. Die Fotografin hat ihr und dem Bräutigam Holzbuchstaben in die Hand gedrückt: L, O, V, E. Die Braut soll sich das O über den Kopf halten. Es sieht albern aus und sie tut mir Leid. So eine Erinnerung wöllte ich nicht im Album. Aber der Baum, unter dem sie stehen, ist schön. Und der Bräutigam auch.

Ich erreiche die „Nordische Kapelle“. Das winzige Gotteshaus wurde 1802 nach skandinavischem Vorbild errichtet, inklusive künstlicher Felsen, Nadelbäume und kunstvoll arrangierten Wurzelwerkes. Ein Schild am Eingang mahnt zur Stille.
Ich bin überrascht, hier das Gotteslob sowie Kniebänke vorzufinden, aber tatsächlich ist und war die Eigentümerfamilie des Schlosses katholisch: In Ostfriesland eine Seltenheit. Aber auch für die Öffentlichkeit kann die Kapelle für Trauungen oder Trauerfeiern genutzt werden. Freilich eher von Menschen mit wenig Anhang, denn mehr als ein Dutzend Menschen passt kaum hinein. 
Ich schlage ein Kreuz und knie mich auf die hellgrauen, weich gepolsterten Bänke. Außer mir ist niemand da, und so genieße ich kostbare Momente der Andacht vor einem schlichten, aber Wärme und Zuhause ausstrahlenden Altar unter einer leicht schiefen, weißgrauen Kuppel. Etwas schief hängen auch die Kerzen in ihren Halterungen; auf der Altarstufe steht ein Strauß frischer Blumen.
Ich mag die Kapelle: Sie vertrömt die Geborgenheit eines abgeliebten Kuscheltieres, auch wenn dieses Bild vielleicht ungehörig klingt. Aber ich spüre, dass man hier gut zur Ruhe kommen kann. Und nach Hause. 
Wie sehr dieser Eindruck passt, wird mir erst später klar werden. 

Die Abfahrzeit des Busses rückt näher. Quasi im Sprint eile ich durch die wichtigsten Areale des Parks, immer wieder ausgebremst von meinem fotografischen Auge, das unbedingt noch diesen und jenen Winkel mitnehmen möchte. Und in einem Bereich mit besonders vielen Nadelbäumen, riesigen Lärchen und Zypressen, kann ich einfach nicht anders als verweilen. Wie lange ich keinen Waldboden mehr unter den Füßen hatte! Fast hatte ich vergessen, wie federnd-weich man auf einem dicken Polster aus Lärchennadeln und -zapfen läuft! Ich wippe ein wenig darauf herum und lasse gleichzeitig den Blick die Stämme emporgleiten, hinauf zu den hellgrünen Kronen. Zwischen den braunen Ästen im lichtundurchdringlichen Teil der Bäume glänzen Spinnweben.
Sofort zücke ich das Smartphone, um zu recherchieren, ob ich nicht einen Bus später nehmen kann. Leider geht es nicht. Und nun rennt die Zeit wirklich. 
Ein letztes Abbremsen im Westteil des Parks: Ein großes Schild weist auf einen „Begräbniswald“, der in diesem Areal liegt, und listet Verhaltensregeln dafür auf. Um das Schild herum tanzen Schmetterlinge. Ich schaue zu den Bäumen: Das sind Gräber? Augenblicklich bin ich so fasziniert wie begeistert, denn bis zum Abschnitt „Begräbniswald“ war ich zuvor auch im Parkführer nicht gedrungen. Und diese Entdeckung hätte ich wirklich nicht erwartet. Schnell reiße ich einen Flyer aus dem angehängten Plexiglaskasten: Darüber möchte ich mehr wissen!

Vor den Busfenstern entfaltet sich erneut die Fülle des Lebens in allen leuchtenden Farben. Urlauber auf dem Weg zu den Fähranlegern Bensersiel und Harlesiel plappern fröhlich in den Sitzreihen ringsum, planen Strandbesuche und Essen. Ich ziehe den Flyer aus der Tasche. Will ich mich jetzt wirklich mit dem Tod beschäftigen? Werden mich meine Freunde nicht für akut depressiv halten, wenn ich davon erzähle? Aber ich bin es nicht, und wann sollte man sich denn sonst mit dem Tod beschäftigen, wenn nicht auf dem Zenit seines Lebens? Die Hälfte ist rum, sage ich mir. Und niemand weiß, was noch bleibt.
Freilich: Mich mit meinem eigenen Ableben zu beschäftigen, macht mir nichts aus. Zumal ich mir, da Nachkommen- und Ehepartnerlos, zwangsläufig selbst Gedanken ums Wo und Wie machen muss, wenn ich kein DIN-genormtes Sozialbegräbnis haben möchte. Ich bin nicht immer in der Lage, mir über das Wie des Sterbens Gedanken zu machen oder gar über das, was nach dem Tode kommt oder auch nicht, auch wenn ich mir da als Christ vielleicht sicherer sein sollte. Aber über die Beerdigung? Bittesehr.

Indes fällt es mir schwer, andere davon sprechen zu hören. Insbesondere Nahestehende. Ich weiß, dass es wichtig wäre, beispielsweise die Eltern zu fragen, was sie sich für einen Abschied von der Welt wünschen, aber ich habe das noch nie fertiggebracht. Man will ja nichts heraufbeschwören. Und ja, ich verdränge auch den Gedanken daran. Nach dem Motto: Wenn ich ausblende, das Eltern sterben, tun sie es auch nicht. Aber so wird das nicht sein. In sehr vielen Todesanzeigen sind die Leute schon jetzt jünger als meine Eltern, und es zerreißt mir bei jedem und jeder das Herz.
Die Tage sprach mich mein Vater auf mein potentielles Erbe an, aber so schön ich das Haus auch finde: Wenn das Eigentum daran an seinen Tod geknüpft ist, will ich es nicht haben. Und nicht einmal daran denken. 
„Ich werde es nicht verkaufen“ — dieses Versprechen zumindest konnte ich geben: Das Haus wird länger leben als wir alle, so Gott will.
Kein Gentrifizierungsbagger wird das Haus im Berliner Nordosten zugunsten irgendeines neumodischen Einheitsklotzes zerreißen, keine Abrissbirne die doppelglasigen Fenster zertrümmern, aus denen auf einem Foto von 1928 mein Urgroßvater schaut. Letzterer liegt keine 600 Meter vom Haus entfernt beerdigt: Und so schließt er sich wieder, der vielbesungene „Circle of Life“.

Nun also, der Friedwald in Lütetsburg mit seiner heimeligen, katholischen Kapelle. Wenn Langeoog die Insel fürs Leben ist, denke ich, warum sollte sie zwangsläufig auch die Insel fürs Sterben sein? Natürlich möchten die meisten Menschen dort beerdigt werden, wo sie — zumindest in summa — glücklich waren, wo ihr Zuhause war. Ich hege keinen Zweifel daran, dass dieser Platz Langeoog ist. Aber will ich auf den Dünenfriedhof, wo sommers Heerscharen lärmender Touristen zu Lale Andersen pilgern, wo Menschen picknicken und mit Fahrrädern herumsausen, jede Friedhofsordnung missachtend? Will ich eines dieser mitleiderregenden Gräber werden, um die sich sichtbar niemand mehr kümmert? Und eine Seebestattung? Schön, aber viel zu teuer. Der Wald, denke ich, ist eine gute Idee. Man kann sich sogar den Baum aussuchen, unter dem man bestattet wird, mit Namensplakette oder ohne. Und niemand sieht, ob man noch Angehörige hat oder nicht, ob man den Leuten egal ist oder nicht, weil diese Gräber per se nicht geschmückt werden. Im Friedwald gibt es keine Beliebtheitswettbewerbe mehr. Nicht, dass die einem nach dem Tode nicht ohnehin egal wären — aber man kann ja nie wissen.
Die dem Flyer beigelegte Postkarte mit der Bitte um „mehr Informationen“ fülle ich aus. Nach dem Baumaussuchen könnte man doch auch im Schlossparkcafé etwas Leckeres genießen oder auf dem benachbarten Golfplatz eine Partie spielen, wirbt die Postkarte. Fast muss ich darüber lachen. Aber muss der Tod auch immer todernst sein? Die Karte ist auch nicht schwarz, stelle ich überdies fest: Es ist ein sattes Tannengrün. 
Als ich danach den Kopf hebe, um erneut aus dem Busfenster zu sehen, fühle ich mich selten lebendig.

Momentaufnahme, Krähen

Das Geschrei der Krähen in den Ästen ist ohrenbetäubend. Die alten Baumkronen sind schwer beladen mit ihren Nestern, an denen, Zweiglein im Schnabel, unermüdlich geflickt wird. Der Widerhall ihres Gekrächzes kleidet das Gewölbe zur Vorburg aus und dringt bis ins Innere der dicken, weißgetünchten Burgmauern.

Hinter diesen beinahe 1000 Jahre alten Mauern stehe ich an einem winzigen Fenster und schiebe die Spitzengardine beiseite; vom Alter patiniert wie die Burg als solche. Die Kammer, in der ich für einige Tage lebe, ist mit den gleichen Möbeln ausgestattet wie sie mein Jugendzimmer aufwies. Das erweckt eine gewisse Nostalgie: Zugleich ist er eigenartig, dieser Stillstand von Jahrzehnten, Jahrhunderten, gar einem Jahrtausend auf so wenig Raum.

Vor dem Fenster fließt ruhig das Wasser im Burggraben. Das Schnattern von Enten mischt sich in das Gezänk der Krähen.

Aber zanken sie überhaupt? Wer weiß, worüber die sich unterhalten, denke ich. Den ganzen Tag geht das so: Kräh, kräh, kräh. Selbst in der Nacht höre ich es vereinzelt noch. Dennoch, das muss ich eingestehen, stresst mich die Dauerberieselung mit dem Geschwätz der Rabenvögel nicht halb so viel wie der Lärm der Welt, vor dem ich hierhin floh.

Die Krähen, denke ich, bewerfen sich in ihrer Kommunikation immerhin nicht mit Dreck. Ihr Geschrei, was auch immer dessen Inhalt sei, beinhaltet eines jedenfalls mit Sicherheit nicht: Neid, Missgunst, Spott, Häme, Verachtung. Da eine Krähe bereits sprichwörtlich der anderen kein Auge aushackt, wird in keinen Laut vorsätzlich Gift gestreut sein; kein Krächzen wird, und sei es auch zuweilen aggressiv, bewusst als verletzende Spitze eingesetzt, es ist, wenn überhaupt, dann ein direkter Angriff ― aber niemals feige, hinterhältig und berechnend. Kein langsam wirkendes Toxin ist darin, kein Kuss eines Verräters, kein kalt lächelnder, schleichender Liebesentzug.
Es wird, so vermute ich, durchaus Besitzanspruch geklärt. Revier verteidigt. Territorium abgesteckt. Das ja. Aber auf eine erholsam durchschaubare, profane, im besten Sinne „bestialische“ Art. Von der Bestie Mensch würde man sich das auch öfter wünschen, resigniere ich, aber da tarnt sich die Aggression doch zu oft hinter falschem Lachen, hinter einem dünnen Mantel an Zivilisation, der weder wirklich zu wärmen noch zu bedecken vermag.  Unter beschwichtigenden Beruhigungen folgt das strategisch geplante Wühlen in Wunden, deren Lage und Tiefe zuvor mit vermeintlich freundschaftlichem Gestus ausgekundschaftet wurde. Man sagt sich: Es ist nicht so schlimm. Es tut bald nicht mehr weh. Es hat auch etwas Gutes.
Doch der nagende Schmerz all der kleinen Demütigungen, die einzeln betrachtet nichtig und in summa vernichtend sind, lässt sich nicht für immer ausblenden. Man wird so müde irgendwann. Zu müde zum Weinen. Zu müde für Wut. Es bleibt nichts bis auf ein in seiner Monotonie narkotisierendes Grundrauschen von Traurigkeit: Einschläfernd, ohne Schlaf zu bringen, lähmend. Ein stilles, sinn- und schmutzloses Verbluten.

Homo homine lupus.

Aber selbst das absichtsloseste Menschengeplauder, fern jeder bösartigen Intention, das Sprechen um des Sprechens willen, weil niemand mehr Stille aushält ― auch daran kann man erkranken, denn irgendwann ist es einfach zu viel, zu schnell, zu laut, zu überall.
Man sehnt sich nach Stille, Inhalt, nach Wahrheit, nach Substanz. Und muss sich doch erst durch den Lärm der eigenen Seele, durch die eigenen Fassaden, durch Schutzwälle, vernarbtes Gewebe, Trümmerreste von Träumen, Sickergruben der Desillusionierung und eine gewaltige Leere wühlen, um auch nur ansatzweise zu finden, was man ersehnt.

Auf der Insel ist die Saison angebrochen, die Karwoche steht kurz bevor. Am Anleger wimmelte es bereits vor Menschen bei meinem Aufbruch. Hier hingegen, in meinem Refugium, wo ich die Terra incognita der Seele im absoluten Nichts des ostfriesischen Niemandslandes zu ergründen suche, liegt die Quote Corvus vs. Homo sapiens bei gefühlten 200:1.
Die abendlichen Lichter in den kleinen, geduckten Friesenhäuschen lassen auf Einwohner schließen, indes: man sieht sie nicht. Auch die Wirtin der Gaststube, in die ich einkehre, huscht wie ein freundliches kleines Gespenst nahezu unsichtbar durch den Raum, zart und blass.
Der einzige andere Gast des Wirtshauses, in dem ich Tee trinke und eine analoge, beruhigend heimelig raschelnde Zeitung lese, entpuppt sich als neu hinzugezogene Pastorin.
Es gibt weit und breit keine katholische Kirche in dieser Ortschaft und auch nicht in den angrenzenden Dörfern, also gehe ich am Palmsonntag zu den Lutheranern und höre mir an, was diese Theologin über Gott zu sagen hat.

Das Haus Gottes steht auf einer Warft und ist so alt wie die Burg; es ist benannt nach einem katholischen Heiligen, aber bereits seit der Reformation evangelisch. Aus dem schiefen, gemauerten Glockenturm schwingt eine gewaltige Bronzeglocke, die bereits seit Jahrhunderten Christen zum Gebet ruft, in Zeiten von Pest, Hunger, Krieg wie auch in Zeiten des Überflusses und prosperierenden Handels.
Die 200 Jahre alte Buche vor der Kirche hat ebenfalls beide Weltkriege überlebt und ist einer der schönsten Bäume, die ich je sah. Zwischen ihrem flechtenüberwachsenen Wurzelwerk verwittern Kreuze und Grabsteine längst profanierter Grabstätten. Schneeglöckchen schmiegen sich zwischen die gewaltigen Lebensadern dieses ehrfurchteinflößenden Gewächses. Wie klein man dagegen ist, wie kurzlebig! Meine ausgespannten Arme könnten kaum ein Fünftel des Stammes umfassen; meine gesamte Lebensspanne ist für die Buche wohl kaum ein Wimpernschlag: ich bin nur eines der Tausenden und Abertausenden Mitgeschöpfe, die im Laufe ihres Lebens unter der perfekt geformten Krone dieses Baumes herumkrochen.
Eine Straße am Rande des Ortes heißt „Galgenhügel“: Über deren Geschichte möchte ich lieber nicht genauer nachdenken. Was ich jedoch spüre ist, dass die Beschäftigung mit der Vergänglichkeit, das Zurechtrücken der eigenen Unwichtigkeit für den Lauf der Welt, dabei hilft, wieder ins Leben zu finden und auch den Lebenswillen zurückzuerlangen.
Was uns eine persönliche Katastrophe erscheint, ist für die Natur: Nichts.
Staub bin ich, Staub werde ich, ebenso wie der Mensch, der mir das Herz brach, und: wie leider alle, die ich geliebt habe, liebe, lieben werde.
Also lohnt sich der Blick aufs Jetzt gar nicht, wenn wir ohnehin fast alle nur eine Randnotiz der Geschichte sind? Doch, denke ich. Das irdische Leben, das Jetzt zu würdigen, bin ich meinem Schöpfer schuldig, nicht nur obwohl, sondern weil ich an das Ewige Leben im Jenseits glaube.

In einem kleinen Wald begegne ich der Ruhe.
Auf einem gefällten Baum sitzt eine Krähe reglos. In ihrem schönen, schwarzen Gewand sieht sie mich an und ich frage mich, ob da nicht doch ein Anflug von List in ihren dunklen Augen blitzt.
Doch den Vogel interessieren meine Fragen nicht. Er wendet den Kopf ab, breitet die Schwingen aus und fliegt mit einer raschen, fließenden Bewegung davon. Ich sehe dem Vogel nach, wie er jetzt hoch oben auf einem Baum thront, näher am Himmel, als ich auf diesem Waldweg sein kann.
Der Flügelschlag verhallt; kurz wähne ich mich in absoluter Stille. Dann füllt das leise Fließen von Wasser die Synkope, das Rascheln von Kleintieren im Unterholz, das ferne Rauschen der Straße. Zuletzt nehme ich auch den omnipräsenten Radau der anderen Krähen wieder wahr.

Es ist noch zu früh für eine Rückkehr in die Welt. An den Wald grenzen Äcker, auf denen sich hungrige Möwen sammeln. Ich werfe ihnen meinen Kummer hin, während ich durch die ausgetretenen Pfade schnüre, als läse ich eine frische Fährte.

BucheDornum

SchlossDornum

Band 4 ist da!

Seit heute überall im Buchhandel bestellbar! Ich freue mich sehr.

Mayk D. Opiolla
Momentaufnahmen 4 — Neue Betrachtungen von der Insel
Paperback
184 Seiten
VK 10,00 €
ISBN-13: 978-3-7431-9561-5
Verlag: Books on Demand

Klappentext:

Mit Band 4 der Reihe „Momentaufnahmen“ legt Mayk D. Opiolla erneut eine Liebeserklärung an seine Wahlheimat Langeoog vor. 32 neue Geschichten bieten einen bildgewaltigen Reigen an Naturbetrachtungen und feingeistigen Reflektionen über das Leben; immer getragen von einer Melodie sinnlich-melancholischer Heiterkeit.
Das Themenspektrum ist groß: Während langer Streifzüge durch die Inselnatur gibt sich der Ich-Erzähler in gewohnter Manier Tagträumen, Erinnerungen und Gedankenspielen hin. Überlegungen zu politischen und gesellschaftlichen Themen reihen sich dabei an lakonisch aufbereitete Beziehungsdesaster oder die subtile Beschreibung romantisch-zarter Bande; das Suchen und Finden von Gott ist ebenso Thema wie die Vermüllung der Meere, der Status der Bundeswehr oder die Frisur von Donald Trump. Und was hat eigentlich die ostfriesische Teezeremonie mit einem Priestergewand zu tun, was ein Brauhaus zu Jever mit Emanzipation? Mayk D. Opiolla schlägt auch dort Brücken, wo es auf den ersten Blick keinen Kontext zu geben scheint. Wir erfahren von männlicher Midlife-Crisis, von Depression, Winterstürmen, Verrat und Entfremdung, aber auch von Freundschaft, Vergebung, Geborgenheit und dem Wunder des Neuanfangs.

Bildschirmfoto 2017-09-29 um 20.05.19

Momentaufnahme, Norderney

Als die Sonne um 5 Uhr morgens über die Deichkrone flutet und die Wolkenränder erglühen lässt, bin ich sofort hellwach. Ein Ausflug steht an, und so sehr man die Insel auch liebt, so schön ist es doch, auch ab und zu etwas herumzukommen. Aber ich entferne mich nicht weit von Langeoog: Norderney heißt das Ziel; die zweitgrößte der Ostfriesische Inseln, welche 1797 zur ersten Königlich-Preußischen Seebadeanstalt an der deutschen Nordseeküste ernannt wurde. 
Am Hafen besteige ich die LANGEOOG II, mit knapp 33 Metern Länge eines unserer kleineren Seebäderschiffe. Am Kai gegenüber löscht ein Arbeitsschiff Möbelcontainer der Luxusmarke „Rolf Benz“: Die Gentrifizierung hat hat ihre gierigen Ausleger bis Langeoog gestreckt.

Es ist überraschend ruhig auf dem Schiff, keiner der Tagesausflügler an Bord plappert oder quengelt. Die Windrichtung ist Nordost. 
Ich steuere den Kahn nicht, also ist diese Information für mich eigentlich ohne Belang, aber da ich seit Tagen an einer noch nicht ausgestandenen Magen-Darm-Infektion laboriere, könnte sich das Wissen um die Windrichtung, gepaart mit einem Platz nahe der Reling, im worst case durchaus als nützlich erweisen.
Wir legen ab.

An Bord Nachdenken über das Ziel: Der Wikipedia-Eintrag zu Norderney umfasst, ohne Inhalts- und Quellenverzeichnis, 51 Seiten. Meine praktische Erfahrung beschränkt sich auf einen Kurzausflug vor einigen Jahren, in dessen Rahmen ich vor allem die Naturschutzgebiete im fast unbewohnten Ostteil der Insel erkundete. Heute soll es ein Stadtbesuch werden, denn tatsächlich: Auf Norderney befindet sich eine Stadt, welche gleichnamig mit der Insel ist, sich aber nicht über deren ganzes Gebiet erstreckt.

Es riecht nach Diesel und Salzwasser. Wir passieren Baltrum. Dann schält sich das Ostende Norderneys aus dem morgendlichen Dunst, golden beleuchtet von Sonnenstrahlen, die sich aus dichten Cumulus-floccus-Feldern drängen. 
Der Kapitän mahnt aufgrund „vermehrter Schiffsbewegungen“ zum Sitzenbleiben; zwei Teeniemädchen, die sich der Mahnung widersetzen, kreischen vergnügt, als das Schiff bugabwärts in die Wellen taucht und zu rollen beginnt.
Als braver Passagier bleibe ich sitzen, obwohl ich jetzt auch lieber auf dem Achterdeck stünde, Gischt im Gesicht. Aber so schaue ich nur herab auf die brodelnde See und fühle jede Woge in meinem Herzen. Wie ich dieses Element liebe, denke ich ergriffen, wie ich es liebe. Aller Gefahren zum Trotz: Gibt es denn irgendwetwas Schöneres auf der Welt?


Das Bild eines ehemaligen Marinesoldaten, den ich sehr liebgewonnen habe, legt sich in den Anblick der von silbernem Sonnenfunkeln durchwobenen See. Und ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich den Mann jetzt gerne bei mir hätte, um diesen Augenblick zu teilen; um ihm zuzuhören, wie er erzählt von der See — mit seiner schönen Stimme, deren weicher, süddeutscher Einschlag zunächst gar keine Seeaffinität vermuten lässt.
Auf dem Foto, das ich von ihm aus Seezeiten im Herzen trage, hat das Meer dieselbe Farbe wie heute. Weiches Sonnenlicht fließt über das Schanzkleid der Fregatte und legt sich weich auf seine schöne Haut, die vollen, klar gezeichneten Lippen, läuft den Ärmel des blauen Dienstanzugs herab und lässt den Ring an seiner rechten Hand aufgleißen. Ich seufze mit resignierender Wehmut: Es gibt Dinge, die dürften nicht sein.

Der Mann steht lächelnd neben seinen Kameraden; das Schiffchen sitzt akkurat über seinen ebenmäßigen Zügen und er blinzelt ein wenig in die Sonne, der Schatten seidiger Wimpern malt feine Streifen auf sein Gesicht.

Mit einem zweiten wehmütig-resignierenden Seufzen blättere ich die Seite meines inneren Fotoalbums um, oder, zeitgenössischer: Ich wische.


Und so erzähle ich sie auch heute allein, meine Geschichte vom Meer. Und die See liegt vor mir und lauscht, in ihrer stoischen, uralten Ruhe, ungeachtet all des Sich-Türmens, Tobens, Auseinanderstiebens und Brechens an ihrer Oberfläche. 
Norderney dehnt sich steuerbords: Bald sind wir da.

Ich nehme einen Bus in die Stadt. Das erste Ziel ist das 1840 fertig gestellte Conversationshaus, das heute die Touristeninformation, Veranstaltungsräume und eine atemberaubend schöne Bibliothek mit passendem Lesesaal beherbergt. Das prachtvolle Gebäude erinnert an altehrwürdige Seebäder und lässt erahnen, warum Norderney auch heute noch als das „St. Moritz des Nordens“ gilt und zur Hochblüte der Badekultur viele gekrönte Häupter als Gäste begrüßen konnte. 

Auch eine elegante, kleine Café-Bar gehört dazu, wo ich (der Vernunft geschuldet) Kamillentee trinke und (der Unvernunft geschuldet) ein warmes Croissant mit Marmelade esse. Die sich der Unvernunft wegen unvermeidlich einstellende Übelkeit sitze ich in dem eingangs erwähnten Lesesaal aus, geflegte Sanitäranlagen in Reichweite wissend.

Auf einem Sideboard liegt eine reiche Auswahl an analogen Tageszeitungen aus, dazu gibt es Illustrierte und dunkle Holzregale mit Büchern vom Boden bis zur Decke. Mit seinem großen Kamin, den Ledersesseln, champagnerfarbenen, floral gemusterten Seidentapeten und der Bronzeskulptur eines Uhus verströmt der Raum das Flair eines englischen Herrenzimmers mit leichter Kolonialnote. Durch die riesigen Bogenfenster fällt der Blick in den gepflegten Park mit seinen Rosen, weißen Sitzbänken und Springbrunnen. Im sonnendurchfluteten Erker steht ein Flügel, ein frisches Bouquet gefüllter, viktorianischer Rosen steht in einer Kristallvase darauf, darüber majestätische Lüster.
 Stunden könnte ich hier verbringen, was sag ich: Tage, und einziehen könnte ich eigentlich auch. 

Irgendjemand, der das Schild „Tür bitte leise schließen“ am Entree nicht verstanden hat, donnert mich aus meinen Träumen von der Privatisierung dieses Gebäudetraktes, in denen ich am Erkerfenster dichte und der Lieblingsmensch dem Flügel musikalische Poesie entlockt. 

Auch meinem Vater würde es hier gefallen, denke ich, und es dauert mich einmal mehr, dass die Menschen, die einem am Wichtigsten sind, immer so weit weg sind. Und plötzlich wird mir auch klar, warum ich diesen Lesesaal liebe und mich darin geborgen fühle, als wäre ich darin aufgewachsen: Er riecht nach meinem Vater. 
Wenn mich jemand frage würde, welche Gerüche ich mit ihm verbinde, so wären das nämlich zweifelsohne die gedruckte FAZ und Kaffee. Wenn ich früher morgens in die Küche oder ins Wohnzimmer kam, und es roch nach Kaffee und Druckerschwärze, so wusste ich sicher: Papa war hier. Und so riecht es, mit den vielen ausliegenden Zeitungen und den vom Café herüberziehenden Kaffeedüften, auch im Conversationshaus nach Zuhause.

Im Kurpavillon spielt jemand Jazz, und fast sehe ich elegante Damen mit langen Kleidern und Sonnenhüten flanieren, dazu Männer in nicht minder eleganten Dreiteilern mit sonntagsfein gebürsteten Terriern an der Leine. Das dunkle Vibrieren der gezupften Kontrabass-Saiten durchströmt mich wohlig und lässt jede Übelkeit vergessen.


Es wird Zeit für einen Spaziergang. In den Straßen prachtvolle Gründerzeitbauten und Bäderarchitektur; filigrane Geländer, Veranden mit Rosen, Lavendel, Königskerzen; Gußeiserne Nostalgie-Schilder weisen auf Lädchen mit hübschen Dingen.
Natürlich gibt es auch auf Norderney Geschäfte mit dem handelüblichen Küsten-Kitsch sowie Discounter; es gibt einige Bausünden aus dem Siebzigern am Strand sowie schmucklose Nachkriegsbauten, wo britische, kanadische, französische Bomben Lücken in die Prachtstraßen der Insel und ehemaligen Seefestung gerissen haben. 
Auf dem Weg von der Einkaufszone zum Strand passiere ich die Kirche Stella Maris; ein 1931 von Dominikus Böhm im Stil der Neuen Sachlichkeit erbautes Gotteshaus und die größte katholische Kirche in Ostfriesland. 
Auch die befestigte Strandpromenade überzeugt mit mondänem, aber nie angeberischen Charme, wie ich ihn bisher nur von Seebädern auf Rügen — Binz und Sellin — kannte. Es ist ein wunderbares Lebensgefühl: Sommerliche Leichtigkeit.

Der Rückweg führt mich in die Kirche St. Ludgerus, 1884 geweiht. Die neogotische Saalkirche, ein kleiner Backsteinbau, öffnet nach Durchschreiten eines Vorraums mit großem Weihwasserbecken den Blick auf einen Altarraum, der in seinem Purismus unterkühlt wirken könnte, wären da nicht die weich gepolsterte Lederbestuhlung, die blitzende Orgel, die geschmackvollen, großen Blumenarrangements. 
In einem kleinen „Raum der Stille“ lederbezogene Kniebänke, eine aufgeschlagene Bibel, Weihrauchduft. Eine hölzerne Gottesmutter wacht über den Opferkerzen. 
Eine Frau kommt hinein, sie weint. Zuerst denke ich, sie ist nur erkältet, als ich das leise Schniefen vernehme, aber dann sehe ich Tränen in Bächen auf ihren Wangen und ihre zitternde Hand, als sie eine Kerze entzündet. 
Eine Träne tropft auf den Handrücken, die Gottesmutter wirft ihren Schatten darauf, das Kind im Arm. 
Gib ihr Trost, denke ich, denn mir tut die Frau Leid, aber es gibt ja nichts, das ich, ein Fremder für sie tun könnte, ohne anmaßend zu sein. 
Und so entferne ich mich nachdenklich. Meine beiden Kerzen, mit denen ich für diesen wundervollen Tag und all das Glück der vergangenen Wochen dankte, flackern im Luftzug der Tür, als ich St. Ludgerus verlasse.


Draußen tobt die pure Sommerfreude. Kinder herzen die drei großen Bronzerobben, welche die Fußgängerzone zieren; es duftet nach Waffeln, Liebe und Glück. 
Es ist gut, dass es offene Kirchen gibt. Denn wohin, außer zu Gott, sollte man sonst mit seinem Leid an einem Tag, der förmlich überquillt vor Lebensfreude? Seinen Freunden mag man ja auch nicht die Sommerstimmung verderben. In Kirchen indes darf man immer trauern, und auch wenn Maria das Kind in einem Arm trägt: Den anderen hat sie noch frei, und so hoffe ich, dass sich auch für die weinende Frau noch eine Umarmung findet.

Das Wetter ist prachtvoll, und so wandere ich ein zweites Mal Richtung Strand, zur „Marienhöhe“. Die Marienhöhe ist eine 11,5 Meter hohe Düne, welche nach Königin Marie von Hannover benannt ist, die gemeinsam mit ihrem Mann, Georg V. von Hannover, zu Lebzeiten hier häufig kurte. 
Auch Heinrich Heine dichtete auf Norderney: Ihm zu Ehren ließ die Königin einen Pavillon auf der Dünenkuppe errichten, der 1923 durch den heutigen markanten Rundbau ersetzt wurde, welcher ein Café beherbergt. Am Fuße der Marienhöhe indes geht es gerade wenig poetisch zu: Dort keilen sich Möwen um die Eishörnchen leichtsinniger Touristen.

Heinrich Heine weilte 1825, 1826 und 1827 mehrfach auf der Insel und verfasste hier seinen Zyklus „Die Nordsee“ sowie die Reihe „Seestücke“. Heute schaut er als Denkmal, ein Buch in der Hand, gedankenverloren auf das Pflaster vor dem architektonisch nicht allzu reizvollen „Haus der Insel“. In seinem Rücken bewegen sich die schönen Blattfächer alter Kastanienbäume im Wind.


Die Zeit vergeht zu schnell auf Norderney, ich muss zurück. Vor der riesigen FRISIA IV wirkt unsere LANGEOOG II wie ein Spielzeugschiffchen. Die Maschinen laufen, der vertraute Dieselgeruch steigt auf, ein Segler gleitet lautlos ins Hafenbecken. Die Mitreisenden sind müde, die meisten dösen. Auch ich falle nach dem Ablegen in kurzen, festen Schlaf; all die schönen Bilder und neuen Eindrücke speichernd. 


Es gibt nichts Schöneres, als einen Heimathafen zu haben, sei es ein Ort, ein Mensch oder beides. Ich liebe mein Langeoog und die Menschen, die mir Heimat bedeuten. Aber fast noch schöner als einen Platz zu haben, an dem ich sein darf, finde ich das Gefühl, einen Ort zu haben, an den ich zurückkehren kann. An den ich all meine Eindrücke und Bilder bringen kann, um sie neben die gewachsenen und gehegten Erinnerungen zu stellen und dort ebenfalls kostbare Erinnerung werden zu lassen. 

Ich denke an den Lieblingsmenschen und wie sich Geborgenheit und Freiheit in ihm treffen wie die Wolken und das Meer: Wie wir unsere eigene Schönheit im jeweils anderen spiegeln und die seine in uns festschreiben; Stürmen trotzend, ewig.

Momentaufnahme, Teetied

Es hat zu regnen begonnen. Aber die Tropfen, welche vereinzelt aus einem nur dünn bewölkten Himmel fallen, vermögen gegen die Sommerhitze der vergangenen Tage nichts auszurichten; sie versickern in staubiger Erde, ohne Spuren zu hinterlassen.
Die Insel hätte Regen nötig. Das farbenprächtige Grün der Dünenvegetation vergilbt, die Dünenrosen welken, und auf meinem Balkon sieht es aus wie auf dem Kirchplatz nach einer Hochzeit: Abgefallene Blütenblätter überall, obwohl ich täglich fege und gieße.
Nun aber verdunstet der meiste Regen bereits in der Luft; es herrscht ein Klima wie im Tropenhaus eines meiner so geliebten Botanischen Gärten.

Im Strandkorb, in dem mich der warme Dunst schläfrig wegdämmern lässt, ziehen Gedanken vorbei wie die Wolkenfedern, zwischen denen längst wieder so viel Blau strahlt, als hätte St. Petrus nicht einmal einen Gedanken an Regen verloren. Ich wandere durch das Land in meinem Inneren, und auch hier vermag kein Regen die gespeicherte Wärme erkalten lassen, welche die letzten Wochen brachten. Und mag der Sturm auch die Blütenblätter davon wehen, so schafft er ja doch nur Platz für die Früchte, wie sie jetzt schon die Dünenrosen zeigen, für die Johannisbeeren auf meinem Balkon, für das farbenprächtige Laub milder Herbstage. Auf dem Dünenfriedhof ragt das Kreuz in sonnenbeschienene Tannengipfel.

Ich denke an die Stürme der vergangenen Jahre, die Kämpfe, die Kälte. Ich denke an den Schmerz und den Kummer, und wie oft die Liebe, oder das, was ich dafür hielt, ursächlich dafür war. Es war Zeit, das Vergangene loszulassen und die Strohfeuer zu ersticken. Denn nun, denke ich, fand ich vielleicht endlich den wahren Schatz unter all dem Tand und Plunder.
Merkwürdig ist nur, denke ich weiter, dass ich, um den Wert der Liebe zu erkennen, erst einmal eine Zeit lang gar niemanden zu lieben lernen musste, zumindest nicht in irgendeiner romantisch-erotisch konnotierten Form.
Und so wanderte ich, befreit von allem destruktiven Begehren, in den letzten Wochen über mein Langeoog und fand, klaren Geistes, … die Liebe.

Sollte sich jetzt das ein oder andere Ohr aufrichten, gespannt auf einen Namen oder zumindest eine präzise Personenbeschreibung lauschend, so muss ich jedoch passen: So einfach ist das nicht.
Und dennoch: Die Düsternis und Depression der letzten Monate ist vorbei, die mich lebenslang quälenden Schlafstörungen, die Ängste, das Wachliegen — aufgelöst in tiefen, erholsamen Schlaf und einen Grund zum Lächeln am Morgen.
Ich finde plötzlich Zeit zum Pflegen von Freundschaften, die ich so lange vernachlässigte, und all die Zuneigung, die ich bislang immer verzweifelt auf eine Person konzentriert hatte, sprudelt plötzlich so reichlich, dass ich endlich all jene damit bedenken kann, die so treu und nahezu unbemerkt all die Jahre um mich herumprusselten — und die es im Grunde doch viel mehr verdient haben, geliebt zu werden. Menschen, deren selbstlose und unaufdringliche Zuneigung ich nun endlich auch anzunehmen in der Lage bin.
Ich bin so alt, denke ich. Warum also erst jetzt? Wurde ich wirklich erst so spät erwachsen? Sollte ich mich schämen dafür, oder einfach nur dankbar sein, dass es so ist, dankbar für die Chance, zu erkennen, wem ich wirklich wichtig bin?

Abends liege ich, angenehm müde vom Tage, in meinen blütenweißen Kissen. Ich berge das Gesicht in dem weichen Bettzeug, dem ein Duft aus Inselsommer, selbstgezogenem Lavendel und Weihrauch anhaftet. Letzterer, Marke „Lourdes Gold“, den ich mir allabendlich zu verräuchern angewöhnte, beruhigt und weckt zugleich Erinnerungen an Sommerferien in Bayern mit den Eltern, an winzige Kirchlein, in denen es nach eben jenem Weihrauch duftete, nach Kerzen und Hoffnung. Und man konnte die sommererhitzte Stirn an das kühle, weiße Gemäuer lehnen, das schon so viele Jahrhunderte in sich trug und noch immer von den Gläubigen dort gehegt und gepflegt wurde. Ich liebte als Kind all den Barock, die kunstvollen Deckengemälde, die Säulen, Seitenaltäre, die Blumen und Heiligen. Als Protestant kannte man das ja nicht: So viel Sinnlichkeit in einem Gotteshaus. Bei uns gab es ein nacktes Kreuz, das Taufbecken, unverputzte Backsteine und mit Glück ein Fenster, durch das etwas verwaschenes Licht auf den nicht minder verwaschenen Talar des Predigenden fiel, der meistens langweiliges Zeugs erzählte, und dann hatte man nicht einmal schöne Bilder zum Angucken drumherum. Ich erinnere, wie mich eine katholische Schulfreundin, die Messdienerin war, einmal in ihre Kirche mitnahm, in das Räumchen, in dem all die Gewänder hingen. Ich beneidete sie um ihr hübsches Messdienerkittelchen und den feierlichen Ernst, mit dem sie es zur Messe trug, das blondgelockte Mädchen, 8 oder 9 Jahre alt. Auch das Gewand des Priesters hing da, und ich strich, in einem Anflug zärtlicher Bewunderung, mit der Hand über den golddurchwirkten Stoff und die seidige Stola. Ich erinnere einen Anschiss des Küsters, weil wir da außer der Reihe nichts drin verloren hatten, und so sahen wir zügig zu, dass wir Land gewannen — aber schön war es doch. Und nun atme ich diesen Resthauch „Lourdes Gold“ aus meiner Bettwäsche, während mir all das wieder einfällt.

„Jetzt riecht mein Sündenpfuhl hier nach Kirche!“ berichtete ich lachend einer Freundin, als ich das Päckchen mit dem Weihrauch — Geschenk eines Freundes — auswickelte, und tatsächlich ist es wohl so zurzeit: Es ist als, hätte mir die Phase des Nicht-Verliebtseins wieder ein Stück Unschuld zurückgegeben und Platz geschaffen für Neues, das, wie die weißen Kirchenmauern, zwar viel Vergangenheit in sich trägt, aber dennoch ein Gefühl reiner und erhabener Heiligkeit mit sich bringt, die Erfrischung von Geist und Seele, den Balsam von Neuanfang und Versöhnung: Auch mit sich selbst.

Natürlich: Irgendwen hat man immer etwas lieber (oder auf andere Weise lieb) als andere. Bei irgendwem schlägt immer der ein oder andere Schmetterling mit dem Flügel, und man bangt, ob er wohl wieder Ruhe gibt oder ob man es sich demnächst erneut antun muss: Das Bangen, das Hoffen, das Leiden; die Detailverliebtheit beim Betrachten des geliebten Gesichts, die mit so viel Blindheit auf anderen Gebieten einhergeht. Dazu die Frage: Zulassen oder verdrängen? „Tell him that the sun and moon rises in his eyes“, singen Céline Dion und Barbra Streisand, „Worte zerstören, wo sie nicht hingehören“, setzt Daliah Lavi dagegen.
Die Morgensonne fließt mit warmem Kupferschimmer über die Dächer und beleuchtet meine Margeriten, den Lavendel und die Geranien: Zeit fürs Tagwerk.

Das Hufgetrappel der Kutschpferde lässt mich kurz aufsehen, als ich später am Schreibtisch sitze und arbeite. Der Himmel ist jetzt wieder grau; buntgekleidete Touristen schauen nach oben, ängstlich, ob der Urlaub wohl ins Wasser fällt, während erste Regenschlieren von der Plane des Kutschwagens rinnen. Auch ich beschließe, kurz vor die Tür zu gehen. Im Café ist es voll, dennoch herscht kein hektisches Gewusel; die Gepräche hängen im Raum wie der Sommerdunst über den Dünen: Diffus, wabernd, wahrnehmbar, aber nicht störend. Ein hübscher Kellner, ausgestattet mit einer natürlichen, aber souveränen Sanftheit, die sich nicht lernen lässt, bringt den Ostfriesentee.

Mit der Silberzange nehme ich die dicken, weißen Kluntjes aus der Schale und lausche dem Knistern, als sie im heißen Tee zerspringen. Dann gleitet ein Tropfen Sahne von dem winzigen Silberlöffel in die Tasse, versinkt und steigt kurz darauf wieder als weißes Wölkchen empor und erblüht in zarten Verästelungen auf dem Teespiegel. Man darf das nicht umrühren. Man braucht Geduld. Manche Dinge, denke ich, sind in sich perfekt, auch wenn man das oft nicht sofort überblicken kann. Aber die Geduld lohnt sich, das langsame Herantasten. Rührte man den Tee, so hätte man zwar einen guten Geschmack, aber man erführe nie das volle Spektrum, kostete nie von all den Nuancen, die Tee, Sahne und Kluntjes in sich bergen.
Ungefähr an diesem Punkt, denke ich, bin ich nun mit der Liebe: Das frisch eingelassene Wunder vor mir, das Wulkje erblüht. Alles ist möglich. Dann, der erste Schluck: Von eleganter Leichtigkeit und doch mit einer Ahnung von Bitterkeit, die man eher erinnert als schmeckt, und in die sich mit jedem weiteren Schluck mildernde Süße mischt. Noch weiß man: Das Bittere ist ebenfalls da, aber, ach, wie schön ist es doch, all das zu vergessen, sich seiner süßen Schwere hinzugeben, seine Wärme in sich aufzunehmen, und mehr will man, so viel mehr … bis plötzlich der Tee, in dessen tiefbrauner Farbe man noch eben von seidigen Wimpern umkränzte Augen wähnte, mit dem letzten Schluck zur Neige geht und den Tassenboden freigibt: Dünnes, weißes Porzellan, zerbrechlich und schnell erkaltend.
Ich lasse mir mit dem Trinken Zeit.

IMG_20150504_132440