Momentaufnahme, Besitz

Es ist eine der Nächte, in denen die Natur dem Menschen zeigt, dass sie ihm überlegen ist. Und zwar immer.
Der erste Herbststurm hat die Insel erfasst, obwohl es bis zum meteorologischen Herbstanfang noch ein paar Tage hin ist. Den ganzen Tag lang peitschten Wind und Regen durch die Straßen; das Wasser sammelte sich in zitternden Pfützen vom Ausmaß mittlerer Gartenteiche.
Und nun ist die Nacht hereingebrochen. Angesichts des Tobens, Donnern und Heulens der Naturgewalten vor der Tür sollte man eigentlich nicht mehr das Haus verlassen, aber ich wollte der Freundin den Weg zu mir nicht zumuten — also wage ich mich noch kurz vor Mitternacht hinaus.

Die Dunkelheit verschluckt alles. Zwar habe ich eine Taschenlampe bei mir, aber deren winziger Lichtkegel dient eher dazu, dass mich andere Leute sehen; weniger dazu, dass ich etwas sehe. Auch der Mond nützt mir heute nichts, denn er hängt als schmutziggelbe, schiefe und schmale Sichel zwischen den dunklen Wolkenbergen. Der Wind ist brutal, und ich muss genau gegen ihn anmarschieren. Die Brille wird mir ins Gesicht gedrückt, Tränen laufen, ich komme kaum vorwärts; auch das Luftholen fällt schwer. Dazu das Toben und Brausen in meinen Ohren. Bäume und Sträucher entlang des Weges — sonst vertraut und von pittoresker Harmlosigkeit — umringen mich als bedrohliche, tiefschwarze Gestalten; der Wind lässt die Schatten ihrer Zweige wie Tentakel nach allem fingern, was sich nähert. Obwohl ich sonst die Nächte liebe, wird mir jetzt unheimlich zumute, und ich reiße mir trotz des Regens Kapuze und Mütze vom Kopf, um wenigstens noch irgendetwas hören zu können außer dem Sturm und dem flatternden Stoff an meinen Ohren. Mir wird bewusst, wie hilflos der Mensch wird, wenn man ihm auch nur zwei seiner Sinne zur Orientierung raubt; hier: Das Sehen und Hören. Der Weg zum Haus meiner Freundin erscheint mir ewig, obwohl es unter normalen Wetterbedingungen kaum 5 Minuten zu Fuß sind. Als ich mich gegen die Böen stemme und dabei immer wieder zur Seite und rückwärts gedrückt werde,  bin ich doppelt froh, sie nicht hinausgejagt zu haben bei diesem Wetter, und es beruhigt mich, ihre Fenster von Weitem schon friedlich leuchten zu sehen. Sie sitzt mit einem Buch bei Kerzenlicht und Tee, als ich atemlos hineinpoltere, nach gefühlter Endlosexpedition durch unwirtlichste Welten.

Am nächsten Morgen ist der Spätsommer in aller Pracht zurück. Nur noch ein paar abgerissene Zweige und Pfützenreste erinnern an den Tumult der Nacht; den leuchtend blauen Himmel zieren persilweiße Schönwetterwölkchen. Auch der Wind ist nur noch ein Lüftchen.
Die Freundin ist längst bei der Arbeit, und ich nutze den noch stillen Morgen für einen Ausflug zum Strand. Die Luft ist von herrlich-kühler Frische; Wolken spiegeln sich im Flutsaum, in dem unbeweglich Möwen dösen. Im Priel liegt ein Ast. Drumherum ist absolut nichts. Nicht einmal die See ist noch nennenswert aufgewühlt; sie legt ihre Wellen mit beruhigendem Rauschen ans Ufer. Ich setze mich auf eine verwaiste Schaukel und freue mich über das Wiedersehen mit einer fast verloren geglaubten Liebe. Denn das hier, denke ich, ist das Langeoog, für das ich herzog. Das ist die Insel, in der ich mich spiegele wie der Himmel im Priel, und wo mein Herz sich täglich freischwimmt. Das überlaufene, laute Langeoog des Hochsommers dagegen wird mir zunehmend fremd.

In irgendwelchen Langeoog-Fan-Foren schreiben euphorische Urlaubende oft von „ihrer“ Insel: Unser Langeoog, unser Strand, unser Meer. „Bald bin ich wieder auf meiner Insel.“
Nicht immer behagt mir der Gebrauch dieser Possessivpronomina, weil unter kritischer Betrachtung auch etwas Kolonialistisches dabei mitschwingt, und ich selbst spreche eigentlich nie von „mein“ Langeoog, obwohl ich hier dauerhaft lebe. Aber die Insel gehört mir nicht; auch nicht den Ur-Insulanern, die hier geboren wurden; nicht der Wittmunder Kreisverwaltung, nicht dem Land Niedersachsen, Frau Dr. Merkel oder sonst irgendwem. Langeoog gehört Gott, oder maximal sich selbst, und wir haben lediglich die Gnade, hier wohnen und das Eiland bewirtschaften zu dürfen; für immer oder auf Zeit. Und dass uns die Insel nicht gehört, zeigt uns jede Sturmflut, jeder Orkan und überhaupt jede Naturgewalt, die uns mit Leichtigkeit von diesem Fleckchen Erde kegeln könnte.
Angesichts des galoppierenden Größenwahns in der Gesellschaft (im Großen wie im Kleinen) finde ich es im Übrigen auch nicht verkehrt, ab und zu mal wieder an die eigene Winzigkeit unter dem Himmelzelt erinnert zu werden.

Aber auch wenn ich den Ausdruck nicht mag, so frage ich mich, auf der Schaukel sitzend, jetzt doch: Was ist eigentlich „mein“ Langeoog?
Die permanenten Spannungskopfschmerzen der wuseligen Hochsaisontage verfliegen, als ich meinen Blick über die unberührte, blaue Weite schweifen lasse. Es sind nur wenige Menschen unterwegs; viele allein, einige Paare. Die lärmenden Gruppen sind fort, kein Menschenlaut übertönt mehr die Brandung und das Rufen der Seevögel; die wenigen leisen Gespräche der anderen verweben sich mit der Musik der Natur zu einem harmonischen Grundrauschen.
Es ist kühl genug, um wieder meine geliebten Stricksachen tragen zu können, aber nicht so kalt, das man unterwegs friert. Und nachts kann man sich wieder ein Nest aus kuscheligen Daunendecken bauen; bezogen mit duftendem Leinen oder weichem Flanell, anstatt unter irgendeinem dünnen Laken zu schwitzen. Zum Einschlafen prasselt sanfter Spätsommerregen ans Fenster und morgens weht ein kühler, salziger Duft nach Herbst vom Meer hinein, während Spatzen in Pfützen baden und Finken in fröhlichen Scharen aus den Erlen stieben. Aus den Dünentälern, die jetzt das leuchtende Rotorange von Vogelbeeren und Hagebutten ziert, das satte Grün der Moose und das tiefe Violett der Krähenbeeren, steigt Nebel. Die zunehmenden Temperaturunterschiede zwischen den einzelnen Luftschichten zaubern beeindruckende Quellwolkengebirge; und schon bald badet die Sonne, die jetzt noch wärmt, aber nicht mehr verbrennt, die ganze Landschaft in Gold.

Und das, denke ich, ist dann wohl meine Antwort. Diese friedlichen Spätsommer- und frühen Herbsttage, wenn der Massentorismus ein Ende nimmt und die Natur sich wieder auf ihren berechtigten Thron setzt; wenn man am Strand allein sein kann und wieder eins wird mit der Insel, mit all ihren Gerüchen, Farben und Wundern: Diese Tage zeigen wohl am ehesten „mein“ Langeoog. Ein Langeoog, das ich aber trotzdem nie besitzen möchte, weil es — wie auch wir Menschen — in Freiheit, mit dem nötigen Respekt und aus gesunder Distanz betrachtet — noch immer am Schönsten ist.

Momentaufnahme, Ruhepol

Der Himmel gibt sich heute alle Mühe, um einen nicht vergessen zu lassen, warum es auf Langeoog schön ist. Vor dem Korallenrot und Gold des Sonnenuntergangs präsentieren sich winzige Wölkenflöckchen, schwungvolle Federwolken und Wolkenfelder, die aussehen wie ein Strang ordentlich gekämmter Wolle. Darunter glänzt silbrig die unendliche Weite des Meeres.
Dass sich in den Duft nach Seewasser noch der Diesel der Baufahrzeuge mischt, die zurzeit eine Strandaufspülung bewerkstelligen — geschenkt; ebenso wie das Hämmern und Rumpeln des Sand-Wasser-Gemischs, das durch die ausgelegten Rohre schießt. Die Maßnahme ist nötig, und sie hilft uns allen. Sie verspricht mehr Sicherheit für die nächste Sturmflutsaison und ein noch höheres Maß an Geborgenheit auf der bis dahin hoffentlich etwas einsameren Insel.

Noch immer hat der Saisonbetrieb nicht nachgelassen, obwohl an den Bäumen bereits die ersten Kastanien reifen und auch der Sanddorn bald in voller Pracht steht. An manchen Morgen riecht auch die Luft schon herbstlich, aber die Tage sind immer noch gefühlter Hochsommer. Es ist so heiß, dass man nicht bei geschlossenem Fenster arbeiten oder gar schlafen kann. Lässt man aber die Fenster offen, so dringt unablässig Lärm herein, der an Konzentration und Nerven zerrt. Ich kann nicht behaupten, dass ich diese Zeit genieße. Viele Bekannte machen derzeit auf Langeoog Urlaub, und gerne sähe ich den einen oder die andere davon, aber die Saison raubt mir jede Kraft zum Socializing. „Kommt im Herbst wieder, im Winter oder im Frühjahr“, sage ich dann, und die meisten verstehen das sogar. 
Nicht einmal die Freundin sehe ich zurzeit in nennenswerter Menge, denn zum einen sind unsere Arbeitszeiten reichlich (und reichlich verschieden), und zum anderen möchte man nicht noch unbedingt ein 37°C warmes Lebewesen neben sich im Bett haben, wenn man in der winzigen Wohnung ohnehin schon das Schicksal des heiligen Laurentius teilt, den man bekanntlich lebendig grillte.

Jetzt am Strand aber ist sie bei mir, und sie ist mir die Insel der Ruhe, die Langeoog zurzeit nicht sein kann. Ich bin dankbar für ihre Anwesenheit und sehne den stillen Tagen entgegen, in der mehr Zeit für ein Miteinander bleibt und die ständige Reizüberflutung durch die Vielzahl an Menschen endlich zum Stillstand gelangt.
An manchen Tagen der Hauptsaison fällt es mir schwer, nicht in einen Zustand von Anhedonie zu verfallen; und ja, es gab sogar schon Momente, in denen ich an meinem geliebten Meer stand und fürchtete, dass das mit mir und Langeoog doch irgendwann enden könnte — und zwar auf eine Weise, wie sie Erich Kästner in seinem Gedicht „Sachliche Romanze“ unübertrefflich beschreibt:



„Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut. (…)“

Aber dann stellte ich mir vor, wie es wäre, wieder kilometerweit vom Meer entfernt zu leben, und jeder Zweifel an der Haltbarkeit meiner Liebe zur Insel war unverzüglich ausgeräumt. Ich habe hier das Beste aller bisherigen Leben, und es ist zweifelsohne eine große Quelle des Unglücks, nur auf das zu schauen, was man nicht hat, anstatt sich seines aktuellen Beschenktseins bewusst zu werden. Die Hauptsaison ist für jemanden mit meinem Naturell schwer auszuhalten; das ist sie jedes Jahr — aber ich erfahre auch immer wieder, dass sich das Aushalten lohnt.

Eines der schönsten Geschenke dieses Jahres klettert soeben über die Rohre im Sand, um zu den Strandkörben zu gelangen, und ich bin froh, dass ich nichts weiter tun muss, als ihr zu folgen. Dass ich nichts haben, nichts sein und nichts beweisen muss, und sie trotzdem bei mir sein will; dass ich für ihre Liebe nichts tun muss, außer zu existieren. Ich war in dieser Lage nicht oft, aber das ist wohl das vielbesungene Wunder der Liebe. Liebe, so denke ich, gibt einem wohl immer exakt das, was man gerade braucht: Liebe bringt Stille in den Lärm, liefert Zerstreuung, wo man angespannt ist, und die gemeinsamen Träume vom Winter bringen sogar etwas Kühlung in diese heißen Tage. Die Liebe ist mein Schutzschild in Zeiten des ständigen Ausgeliefertseins; die Rettungsinsel im Menschenmeer. Auch der heilige Bernhard von Clairvaux, dessen Gedenktag heute gefeiert wurde, hat zum Thema „Liebe als Ruhepol“ etwas sehr Schönes gesagt: 
“Wir finden innere Ruhe bei denen, die wir lieben und schaffen Orte der Ruhe in uns für jene, die uns lieben.“

Die Freundin wird mir fehlen, wenn ich mich für meinen Herbsturlaub alleine in die vollkommene Stille verabschiede, aber es ist ein gutes Gefühl, dass sie mit einer vergleichbaren Unaufdringlichkeit, Anmut und Tiefe auf mich warten wird, wie der Wald, in den ich mich flüchte.

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