Momentaufnahme, Grün

Der Sommer ist auf seinem Zenit angelangt. Noch nie sah ich die Wiesen und Deiche um diese Zeit in so einem satten Grün; und noch nie erstrahlte der Dünenbewuchs in so leuchtenden Farben. Die Kartoffelrosen blühen nach wie vor in tiefem, samtigen Purpur, obwohl zwischen den Blüten bereits erste feuerrote Früchte wachsen. Der viele Regen der letzten Wochen und die verhältnismäßig kühlen Temperaturen haben der Natur offenbar gut getan und sie in all ihrer Schönheit bis in den August konserviert. Während der Rest der Republik zeitweise gebacken wurde, schaffte es das Thermometer auf Langeoog kaum über 20°C. Da meine Wohnung keine Zustände zwischen Sauna und Gefrierschrank kennt, bin ich darüber nicht traurig: ich kann weder extreme Hitze noch Kälte besonders gut gebrauchen. Noch mehr als die Wohnqualität, die dieses Sommerwetter mit sich brachte, freut mich allerdings die kraftstrotzende Natur mit all den Pflanzen, die in diesem Jahr nicht verbrannten und verdursteten. Zwar hat Irland den Beinamen „Grüne Insel“ bereits für sich gepachtet, und auf den Ostfriesischen Inseln rühmt sich Spiekeroog damit (beides natürlich nicht zu Unrecht) — aber in diesem Jahr, denke ich, geht auch Langeoog als „Emerald Island“ durch.

„So grün habe ich die Insel noch nie gesehen“, sage ich, als wir staunend am Strand gen Ostende marschieren; den Blick auf den wogenden Strandhafer und das in unzähligen Farben strahlende Naturschutzgebiet gerichtet. „Ich auch nicht“, pflichtet mir die Freundin bei: „Im letzten Jahr war der Deich um diese Zeit ganz braun.“

Später bin ich noch einmal allein unterwegs. Erneut hat es zu regnen begonnen. Ich betrachte einen Blütenkelch, aus dem Tropfen kullern. Er war so schwer davon geworden, dass er sich unter dem Gewicht des Wassers neigte und seine Regenlast der Erde schenkte. Unweit davon laben sich ein paar Drosseln an leicht zugänglichem Gewürm: Auch ihnen gefällt der regensatte Boden, zweifelsohne.

Der Regen ist warm und weich auf der Haut und weder von Donnergrollen noch von übermäßiger Dunkelheit begleitet. Es liegt so gar nichts Furchteinflößendes darin: Nur Leben.
Natürlich weiß ich um die Verheerungen, die starke Regenfälle und Dauerregen mit sich bringen können. Ich weiß von Erdrutschen, Überschwemmungen, Leid und Tod. Und dennoch finde ich den Regen jetzt und hier einfach nur schön.

Ich fahre ein paar Meter weiter, an den Weiden entlang, die nun ebenfalls sattgrün sind. Ein paar Pferde stehen darauf; ihr Fell glänzt in der Sonne, die mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder durch die Wolken bricht.

Fast könnte man vergessen, was aktuell noch so los ist in der Welt, denke ich, und ein wenig plagt mich das schlechte Gewissen. Es fällt so leicht, sich auf Langeoog in einer eigenen Welt zu fühlen. Aber die Insel ist keine eigene Welt. Sie ist Niedersachsen, Deutschland, Europa. Auch Langeoog ist Pandemie.
Und wie surreal ist es, denke ich weiter, hier all dieses kraftstrotzende, pralle grüne Leben zu sehen, all das Schöne und Beständige — während der Alltag in weiten Teilen noch immer von einer Krankheit bestimmt wird?
Es ist ein eigenartiger Kontrast, einerseits. Andererseits: Ist nicht genau das der Lauf der Welt? Der ewige Kreislauf von Tod und Geburt, von Krankheit und Genesung? Braucht es nicht die Zeiten des Blühens und Kraftschöpfens, um Zeiten der Schwäche und des Welkens zu ertragen, und sei es nur, um währenddessen von den schönen Erinnerungen zu zehren?
Nun will ich nicht philosophieren; und freilich nützt es jemandem, bei dem in dieser Minute in irgendeiner staubigen Stadt COVID-19 ausbricht, absolut nichts, dass auf Langeoog das Deichgras gerade so schön grün ist. Aber mich bringt der Gedanke einmal mehr zu dem Schluss, dass nichts selbstverständlich ist. Kein Sommer, kein Regen. Und auch keine Gesundheit. Es ist ein Geschenk, all das noch haben zu dürfen. Ich wünsche es jedem.

Momentaufnahme, Regenluft

Ich beobachte den Regen durch den aufsteigenden Dampf aus meiner Teetasse. Die aufs Dachfenster fallenden Tropfen verweben sich zu einem sanft ineinanderfließenden Muster, bevor sie die Schwerkraft Richtung Dachrinne befördert. Auf dem Dachfirst gegenüber sitzt reglos ein kleiner Vogel. Er könnte sich verstecken, wie viele seiner Artgenossen irgendwo im Geäst verkriechen, aber er thront dort wie eine Gallionsfigur, stolz und erhaben. Vielleicht aber auch einfach nur stoisch den Schauer ertragend; vielleicht sogar stumm genießend.
Der geliebte Mensch sitzt neben mir; auch wir müssen uns nicht mehr verstecken, dem Herrn sei Dank. Beide sind wir still, aber es ist keine Stille, bei der man sich nichts mehr zu sagen hat. Es ist wortlose Geborgenheit und eine Vertrautheit, die eigentlich in keinem Verhältnis zur Dauer unseres Kennens steht. Das Prasseln des Regens und die Wärme ihrer Nähe ist mir genug Versicherung meines Daseins. Es bedarf keiner Worte.

Irgendwann mache ich mich auf den Heimweg; die Arbeit ruft, der eigene Hausstand. Es zieht mich automatisch auf einen Umweg ans Meer. Dieser erste, lang ersehnte Regen nach einer schier endlosen Trockenperiode überflutet meine Sinne, kaum dass ich das Straßenpflaster betreten habe. Alles duftet nach Leben. Erdig, sinnlich. Zugleich so rein und klar und voller Unschuld. Wassertropfen perlen aus gerade eröffneten Blütenkelchen und setzen den Duft der Inselrosen frei; die Blätter sehen aus wie frisch lackiert. Zum Strand führt eine einzige Möwenspur im Sand. Kein menschlicher Laut ist zu hören; kein Mensch zu sehen. 
Am Horizont zeichnet sich ein roter Krabbenkutter ab; davor schlägt eine ruhige See weiche, bleigraue Wellen. Luft. Wie einen die Bedrohung durch eine neue Lungenkrankheit noch einmal ganz neu den eigenen Atem spüren lässt, denke ich und mache ein paar tiefe, bewusste Züge. In Zeiten, wo die Birken ihre Pollen über Langeoog verteilen, als gäbe es kein Morgen, ist das auch für einen Allergiker mit chronischem Asthma schon keine Selbstverständlichkeit. Aber nun, in dieser herrlichen Luft nach dem Regen, fühlt es sich leicht an. Man darf nichts für selbstverständlich halten, erkenne ich einmal mehr, gar nichts. Egal ob Erfolg, Geld, Sicherheit oder irdische Formen der Liebe.
Ewig, unerschöpflich und immer da ist nur die Liebe, Gnade und Treue des Herrn — aber auch über Gott denke ich viel nach dieser Tage. Genauer: Über katholische Sexualmoral, um es einmal ohne Umschweife auszudrücken. Denn natürlich habe ich nicht vergessen, welches Geschenk es sein kann und welche Freiheiten es bietet, sich zur Gänze nur Christus hinzugeben, selbst wenn man, wie ich, aus biografischen Gründen kein Diakon, Ordensmann oder Priester werden darf. Keuschheit um der Lehre willen und um dem Geheimnis zölibatären Lebens auf den Grund zu gehen; um frei von erotisch-konnotierter Zuneigung, die mich oft zu sehr fremdbestimmte, wirklich unverstellt auf mein eigenes Leben schauen zu können, auf meine Beziehung zu Gott, auf mein Wollen, auf mein Verhältnis zu Mitmenschen. 5 Jahre lang war dies mein Leben, und es war schön, zu erfahren, dass man wirklich so leben kann, ohne dass etwas fehlt. Im Gegenteil: Ich bin dankbar für diese Zeit, in der ich u.a. lernte, dass sich Liebe, Sinnlichkeit und Nähe auch auf unzähligen anderen Ebenen jenseits von Sexualität erfahren lassen. Möglicherweise hat mich dieses halbe Jahrzehnt in Enthaltsamkeit sogar erst Lieben lernen lassen, ich weiß es nicht.
Und ich weiß auch nicht, ob es richtig ist, diese Zeit nun zu beenden — aber dann betrachte ich einmal mehr dieses kleine Wunder, die schöne Seele dieses Menschen, der mich auf eine Weise liebt, die ich kaum je zu erhoffen gewagt hätte, und denke, dass auch dieses Geschenk irgendetwas mit Gott zu tun haben muss. Und dass es vielleicht nicht falsch ist.

Ich gehe oft mit meiner Freundin in die Kirche, auch wenn zurzeit keine Gottesdienste stattfinden. Wenn sie sich bekreuzigt und dann still in der Bank sitzt, liegt darin irgendetwas, das mich zu Tränen rührt. Weil ich weiß, dass wir füreinander beten, auch wenn wir es nicht sagen, und ich bete dann: Lieber Gott, wenn irgendetwas daran falsch ist, dann lass es mich bitte wissen. Lass mich wissen, was richtig ist. Aber ich höre nichts. Ich fühle nur tiefen Frieden. Aller Widrigkeiten zum Trotz.

Es gibt viel nachzudenken dieser Tage, aber heute möchte ich, dass nur der Frieden bleibt. Der Regen hilft mir dabei. Denn so, wie ich zusehe, wie die Tropfen auf dem Dachfenster ineinanderlaufen, abfließen und die Natur frischgebadet, rein und duftend enthüllen, so möchte ich mein Leben jetzt freigespült und frischgebadet betrachten können: Ohne Sorgen, Unsicherheiten und Theorien, von denen mich eine konfuser zurücklässt als die andere.

Vielleicht bin ich wirklich an einem Punkt, an dem ich Liebe ganz neu lernen muss. Zurück in meiner Wohnung finde ich schon etliche Zeugnisse ihrer Anwesenheit. Ein buntes Kosmetiktäschchen im Bad, ihre Zahnbürste in meinem Becher, ein weiches Nachtkleid in meinem Bett. Früher hätte mich das wahnsinnig gemacht. Ich hasste es, wenn andere Leute Sachen bei mir verteilten, weil es mein Interieur-Konzept sprengte, weil es Schlieren in mein Bild perfekter Ordnung zog; weil es neue Dinge waren, die sich in meine vertraute Umgebung noch nicht einfügten, weil sie fremd waren und ursprünglich nicht von mir gewollt; weil ich sie nicht selbst gekauft und nicht selbst dorthin gelegt hatte. Sie machten mir Angst, denn sie trugen die latente Bedrohung von Fremdbestimmtwerden in sich, von Kontrollverlust, von Territorialanspruch.
Bei ihr ist es anders. Der Anblick ihrer Sachen lässt mich lächeln, weil sie mich ihrer Existenz versichern, ihrer Ernsthaftigkeit und ihres „Ich komme wieder“. Nähme sie diese Dinge wieder mit, wäre für mich dort keine wiederhergestellte Ordnung mehr. Sondern ein ein Ort, an dem etwas fehlt.

Vielleicht ist auch dieser Mensch ein später Frühlingsregen, denke ich. Der die Krusten alter Verwundungen und Neurosen fortspült, und, wie die weichen runden Tropfen an der Fensterscheibe, die Dinge sanft zu einem neuen Muster webt. Die Dinge werden sich klären, so wie der Regen Staub und Pollen von den Pflanzen wäscht. Und auch der Wind wird da sein: Dieser wunderbar sanfte, warme Hauch vom Meer. Erdig, salzig, sinnlich. Und zugleich so voller Unschuld. Es wird wohl Zeit für ein paar tiefe Atemzüge.

 

Momentaufnahme, Grundrauschen

Das Meer schweigt heute. Obwohl für die nächsten Tage Sturmböen vorhergesagt sind, rührt sich kein Hauch. Auf dem Balkon lausche ich in die Stille. Irgendwo brummt ein Gartengerät. Jemand hustet. Wortfetzen von Vorbeiradelnden. Aber das Meer bleibt stumm.
Schlagartig wird mir klar, wie unendlich ich das Meer vermissen würde, wenn ich noch einmal woanders leben müsste. Wenn ich die treue, herrliche Weite der See nicht mehr in fußläufiger Entfernung wüsste. Wenn ich nicht genau wüsste, dass es da ist, selbst wenn ich es einmal nicht höre.
Auch jetzt weiß ich: Ich müsste nur die Straße hinaufgehen und dann läge es vor mir, still und schön, im hellen Grau eines Regentages.
Es regnet nun stärker. Das Wasser fällt in lotrechten Schnüren vom Himmel, ich rieche die nassen Straßen und höre das Rauschen in der hohen Hecke, die mein Haus vom Nachbargrundstück trennt.
Ein Kind kommt in einem winzigen gelben Ostfriesennerz angerannt, die Kapuze unter dem Kinn zusammenhaltend, und verschwindet in einer der Ferienwohnungen.
Ich genieße es, jetzt noch auf dem Balkon sitzen zu können, weil sich aufgrund der Windstille kein Tröpfchen unter das Dach verirrt. Es ist vollkommen trocken an meinem Platz, und ich beobachte die Welt durch einen Vorhang aus Regenschnüren.
Obwohl ich zurzeit nicht gern vor die Tür gehe, überkommt mich starke Sehnsucht nach dem Meer. Ich möchte hingehen und einfach nur nachschauen, ob es noch da ist. Natürlich ist das Blödsinn, weil ich genau weiß, dass es da ist — das Meer ist ja kein Mensch, es verlässt einen nicht.
Und ich möchte es auch nicht verlassen.

Es ist diese Beständigkeit, die mich die See so sehr lieben lässt. Die Gewissheit, dass all die Hektik und das Unbeständige der Menschenwelt die Wellen nicht aus dem Rhythmus zu bringen vermögen, beruhigt meinen Herzschlag schon beim bloßen Gedanken daran.
Dieser uralte Begleiter, keine 200 Meter von meiner Haustür entfernt, könnte mich problemlos töten. Aber er schenkt mir auch Heimat, Geborgenheit und Lebensfreude. Ich erinnere keinen einzigen traurigen Tag, an dem ich nicht getröstet vom Strand zurückkehrte. Und keine Verzweiflung, die ich nicht auf nimmerwiedersehen den Wogen übergeben hätte. Das Meer heilt. Und ich liebe es so unendlich, samt dem Himmel darüber.
Die Wolken sind heute schiefergraue Ballen, aber dort, wo der Strand ist, heben sich ihre dunklen Ränder wie die Volants eines altmodischen Theatervorhangs und machen Platz für das Licht.
Auch über dem Haus reißt der Himmel langsam auf und zeigt ein paar Stückchen Blau; durch einen letzten Hauch Regendunst leuchtet sogar die Sonne.

Dieser Tage machte ich mit einem Freund einen Ausflug. Wir fuhren nach Leer und Ditzum; vor dem Fenster: Deiche, Windräder, Schafe, winzige Dörfer und uralte Warftkirchen. Der Freund wuchs in dieser Gegend auf; wir trafen kaum jemanden, der ihn nicht grüßte oder ein paar Worte mit ihm wechselte. Im Restaurant, wo wir für den Preis einer Langeooger Vorspeise exzellenten Fisch aßen, kannte er die Familie der Kellnerin bis in den kleinsten Zweig beim Vornamen. Gegenüber schaukelten die Masten der Kutter im goldenen Licht eines späten Nachmittags. Es war ein friedvoller Tag und ich genoss es, die Landschaft in aller Privatheit vorm Autofenster vorbeiziehen zu sehen; ohne die Geräusche, Gerüche und Zwischenhalte des Busfahrens. Der Freund fuhr routiniert, aber mit Bedacht; außerdem bekreuzigte er sich vor jedem Anfahren, was mir zusätzlich ein gutes Gefühl gab. Ich hatte keine Angst, und vor dem Fenster lag die Schönheit unserer ostfriesischen Heimat, in der er tatsächlich als eines der wenigen katholischen Kinder großgeworden war.

Bald erreichten wir wieder die Stadt, ein Kirchturm schlug. Überrascht registrierte ich, dass der Freund eine Parkbucht ansteuerte, obwohl wir noch nicht am Ziel waren. „Es ist sechs Uhr!“, sagte er, „Lass uns den Engel des Herrn beten!“ „Ja klar“, sagte ich, wiewohl etwas verdutzt, und zerrte so hastig die Worte aus meinem Gedächtnis, als seien sie Kleider für eine überstürzte Reise. „Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft und sie empfing vom heiligen Geist …“ 
Das Gebet dauerte exakt so lang wie die Glockenschläge, sofort nach dem „Amen“ fuhren wir wieder los. Ich schmunzelte noch eine Weile in mich hinein. Da saßen wir also in einem hochmodernen Auto, das sogar noch recht neu roch, mit Navigationssystem und Smartphones in unseren Taschen, und doch gab nicht all diese Technik den Takt an, sondern ein uraltes Gebet, das schon im 14. Jahrhundert gebetet wurde, zum Angelusläuten um sechs Uhr.
Ich bewunderte den Freund auch um seine Routine in diesen Dingen. Wie beruhigend muss es sein, sein Leben nach einem Stundenbuch durchgetaktet zu wissen und die täglichen Gebetszeiten stärker verinnerlicht zu haben als die Mahlzeiten oder irgendwelche anderen Alltagsdinge? Wie beruhigend ist es zu wissen, dass da etwas ist, das immer viel größer als alles andere war und immer sein wird? Und wie schön ist die Gewissheit, dass diese Gebete bereits Jahrhunderte überdauert haben und, aller Konzile und der Reformation zum Trotz, noch heute den nahezu selben Wortlaut haben?
Nicht grundlos war ich vor einiger Zeit not amused, als sich ein Frauengebetskreis, der auf der Insel gastierte, während einer Andacht sogar am Vaterunser zu schaffen machte.
Ich mag keinen Stillstand. Aber ich liebe Dinge mit Bestand. Ich brauche diese kleinen Stückchen Ewigkeit, um im Getriebe der Welt nicht zermalmt zu werden. In dieser Hinsicht, denke ich, sind der Engel des Herrn, das Vaterunser, das Ave Maria, das Magnificat oder das Salve Regina wie das Meer: Sie waren vor mir da, werden nach mir sein, trösten und beruhigen den Herzschlag wie das stoische Rauschen der Wellen. Ich hoffe, dass auch ich mir irgendwann eine solche Gebetsroutine aneignen kann wie der Freund, denke ich. Denn auch wenn ich nicht vorhabe, jemals vom Meer wegzuziehen, ist es doch schön, noch etwas zu haben, das einen täglichen Haltepunkt im Alltag markiert. Wo man, fernab von jeder Technik und zeitgenössischen Errungenschaft, einfach nur aus dem Herzen lebt; klein vor den Wundern der Schöpfung, aber doch eins mit der Welt.

Momentaufnahme, Lärm

Endlich ist es still. Der Regen hat die Menschen vom Strand vertrieben und auch von den Straßen. Das Pflaster hat sich dunkel gefärbt. In den Blütenkelchen und Blättern entlang des Weges sammeln sich Tropfen; glasklar und schimmernd. Der sandige Boden hat das Wasser längst aufgesogen. Das braune, verdorrte Gras ist nicht mehr zu retten. Aber schon morgen, das weiß ich, werden sich zarte, grüne Halme dazwischen zeigen. Der Regen wirkt dieses Wunder, immer wieder.
„Ist es nicht wunderbar?“, fragt eine befreundete Langeoogerin, „die Luft riecht nach Pflanzen, nach Erde.“ Es riecht nach Leben. Und zugleich herrscht diese balsamische, befriedende Stille.

Auf der Sandfläche hinter dem Priel, wo sonst die Gäste toben, hat sich eine Kolonie Lachmöwen versammelt, die sich putzen oder schlafen; die schwarzen Köpfchen ins Gefieder gesteckt. Ansonsten ist der Strand leer und die Strandkörbe sind verwaist. Große Silbermöwen kreisen über dem Wasser, ab und zu trägt der Wind ihre Rufe ans Ufer. Am Horizont liegen riesige Frachter auf Reede, eine unserer Fähren kehrt zurück aus der Werft. Auch auf ihr ist es jetzt still und leer.

Zurzeit ist ein junger Jesuit aus Schweden zu Gast. Zum Fest dreier skandinavischer Märtyrer singt er mit uns ein schwedisches Kirchenlied. „Nu sjunker bullret“ heißt es, „Jetzt legt sich der Lärm“. „Eigentlich passt das ja gar nicht hierher“, sagt er lachend, „hier ist es doch so schön friedlich.“
„Schön wär’s“, sage ich zu dem hochgewachsenen blonden Mann. „In der Natur finden Sie hier Stille, ja. Aber ansonsten ist man auch auf Langeoog froh, wenn sich all der Lärm und Aufruhr am Abend legt. Ich finde, es passt daher sehr gut zur Abendmesse.“ Der Geistliche scheint erstaunt; offenbar ist er froh, dem hektischen Stockholm für eine Weile entkommen zu sein. Aber man kann es nicht beschönigen: Es gibt auch auf einer Insel Getöse genug. Und damit meine ich nicht einmal die übliche Saisonmischung aus Fahrradklingeln, Kindergeschrei, Ehekrächen und Pubertierenden mit dröhnenden Musikboxen.

Es knirscht gewaltig im lokalpolitischen Gebälk dieser Tage. War schon das Wahlkampfgetöse mitunter unappetitlich genug, so geht es nun munter weiter mit Nazikram und Lynchgejohle, und man fragt sich zuweilen einfach nur noch, ob das Langeooger Trinkwasser vielleicht doch nicht mehr so gut ist, wie alle behaupten. Andererseits: Warum sollten in den Mikrokosmos „Insel“ nicht alle Widerwärtigkeiten Einzug halten, die zurzeit auch den Rest Deutschlands und Europas beuteln? Und dennoch streife auch ich recht ratlos durch die duftenden, regenfeuchten Dünen und frage mich, warum der Mensch seine Hässlichkeiten eigentlich in alle Ecken dieser wundervollen Welt tragen muss.
Zugleich frage ich mich, wann eigentlich der Punkt gekommen ist, wo es für einen Schriftsteller von der Kür zur Pflicht wird, politisch zu sein.
Es ist schwer dieser Tage, und ich beneide niemanden zurzeit um ein öffentliches Amt. Was kann man da schon noch richtig machen? Die Leute sind nicht mehr zum Zuhören bereit, alles ist überemotionalisiert, es sind hysterische Zeiten. Von selbsternannten „Leistungsträgern“ wird über nutzlose Geisteswissenschaftler geschimpft, aber wohin wir gelangen, wenn niemand mehr gegenwärtige Phänomene in einen historischen oder kulturellen Kontext einordnen kann oder mangels Allgemeinbildung einfach keinerlei Gefühl mehr für Sagbares und Unsagbares hat — das sieht man an jeder Ecke und in jeder Kommentarspalte. 
Auch das moralische Abwägen scheint aus der Mode; die Notwendigkeit, zuweilen auch unangenehme Entscheidungen zu Gunsten des Friedens und zum Erhalt des Wohlstands aller treffen zu müssen. Man kann nicht alles einfach alles und jeden nach Rechts oder Links sortieren, nach Gut oder Böse. Und alle Extreme schaden.

Man weiß doch zum Beispiel gar nicht mehr, wo man überhaupt noch ansetzen soll, um den Menschen klarzumachen, wieviel ein funktionierender Rechtsstaat Wert ist. Und das, obwohl sich etliche Landsleute noch gut an das Unrechtsregime der DDR erinnern können — wo es „Zeugen“ im Dutzend billiger gab und eine Unschuldsvermutung nichts galt. Desgleichen in anderen totalitären Regimes. Als ich in China lebte, hörte ich früh morgens manchmal die Erschießungen im angrenzenden Volksgerichtshof. Minutenkurze Prozesse, unbequeme Leute, angeschwärzt von irgendwem.
Und selbst wenn es letztlich Schuldige traf: Jeder, absolut jeder hat das Recht auf einen fairen Prozess. Auch Nazis. Auch Kinderschänder. Auch kriminell gewordene Geflüchtete. Und absolut niemand hat das Recht, andere dazu aufzuwiegeln, Verdächtige an die nächste Straßenlaterne zu hängen oder auch nur deren Fensterscheiben einzuwerfen, egal, welches Verbrechens man diese Leute beschuldigt.
Ich bin überzeugter Demokrat. Ich lebe gerne in Deutschland, denn tatsächlich haben wir es hier mit vielen Dingen einfach verdammt gut, und wer das nicht weiß, hat sich offenbar noch nie mit anderen politischen Systemen beschäftigt. Ich bin gerne Europäer, Christ und Katholik. Ich mag unsere Kultur, die christlichen Werte und unsere gesellschaftlichen Errungenschaften. Ich mag unser Freiheitsideal und die europäische Idee. Ich mag Vernunft. Und ich mag Gerechtigkeit. — Gerechtigkeit auf Basis universell geltender Gesetze, nicht aufgrund irgendeines subjektiven Empfindens, nicht aufgrund einer gefühlten Mehrheitsmeinung, nicht aufgrund des Gebrülls irgendeines Mobs, nicht aufgrund irgendeiner hochemotionalisierten Debatte. 
Das letzte, endgültige Gericht liegt sowieso nicht in unserer Hand.

Es ist traurig, dass wir in Zeiten leben, in denen man für einen Satz wie „Ich mag Deutschland“ als rechtspopulistisch einsortiert wird und für die Selbstverständlichkeit, Menschen nicht ertrinken lassen zu wollen, als linksextrem. Es ist schier zum Verzweifeln, wenn eine Welt, die uns täglich mit Millionen von Farbnuancen erfreut, nur noch schwarzweiß betrachtet wird. Und mich ängstigt, dass in einer Welt, die geradezu platzt vor lauter Lärm und Geschwätz, kaum noch jemand wirklich miteinander redet. Auch deshalb, denke ich, während ich mich in einem der noch sonnenwarmen Strandkörbe niederlasse, liebe ich die Stille.

Der Fremde

Seit Tagen Grau
Kaum Wind, zu stille See
Und auch der Barbarazweig
lässt sich noch Zeit

Kein Leuchten mehr
im täglich-uniformen Nichts
Lauwarmer Regen nur
auf matten, leeren Straßen

Doch dann war da
ein Lächeln voller Herz
und Geist und schönen
Augen und dem Augenblick

Das nicht verweilen konnte
sondern kam und ging wie
das geliebte Meer, das
leise seine Lieder singt

MDO, Januar 2019

wetter13111708

Momentaufnahme, Drama

Und dann war es plötzlich wieder da, an einem dunstigen, gewittrig-feuchten Spätsommertag. Es sprang einen an wie ein irgendwo im Gesträuch lauerndes Tier, wild und gnadenlos, während sich eine riesige Gewitterwolke über dem Strand ballte, der bis vor wenigen Minuten noch zartblau überdacht worden war. 
Ich fühlte das Wegreißen des dünnen Schorfs wie durch einen kurzen Krallenhieb, zu schnell für irgendeine Reaktion; zu plötzlich, um gleich zu schmerzen. 
Der warme Regen fiel in ersten, dicken Tropfen. Weich, süß. Das Blut rann warm und zäh. 
Ich saß im Strandkorb und vermisste.

So lange nun schwieg er schon. Aber egal, wie unsere Freundschaft endete, dachte ich, während der Himmel auf den Sand weinte, du warst der beste Freund, den ich je hatte.
Ich dachte an seine treuen braunen Augen und daran, dass er mir nie das Gefühl gegeben hatte, irgendeine Mitleidsnummer zu sein oder ein Zeitvertreib. Und auch wenn wir gleichermaßen eloquent waren, gleichermaßen belesen, herrschte nie irgendein Wettbewerb zwischen uns. Im Gegenteil: Wir schenkten uns gegenseitig Worte wie andere Menschen sich Pralinen, Tausende von Seiten lang. Mehr als zwei Jahre lang. Jeden Tag.
Und nun ist da diese Stille und dieses Band, das nicht reißt. Seine Bücher in meinem Regal und die schöne Postkarte, die ich noch immer als Lesezeichen benutze.
Es ist wohl zu früh.

Doch mit dem Nachlassen des Regens verschwand auch das Vermissen. In kurzer, heftiger Anflug von Traurigkeit, dann war es wieder vorbei.
Er hat so viele Meere gesehen, denke ich, als ich mich aus dem Strandkorb erhebe, was nützt es, dass ich nun auf das meine starre und an ihn denke, immer noch. Mein Meer war grau und langweilig, als wir zusammen darauf sahen, gefühlte Äonen her. Sein Hund trottete durch den Flutsaum, roch hier und da an einem Krebs. Er ging als Fremder.

„Das ist die Liebe der Matrosen“ summt mir irgendeine zynische Stimme den alten Schlager ins Ohr. Und dass man es hätte gleich wissen können. Dass dieses wie auch immer geartete Verhältnis gar nicht erst hätte sein dürfen. Dass Kunst noch lange keinen Alltag macht. Aber was wäre das Dasein ohne Kunst, ohne Menschen, mit denen man sich Gedichte schicken kann; Menschen für die die See eben nicht nur eine große Ansammlung von Wasser ist. 
Er hatte das Meer in seiner Seele und war ihm in so vielen Dingen gleich: Unberechenbar, nicht zu greifen, punktuell überraschend kalt. Und dann wieder so tief und unergründlich, so heimatgebend und so schön. Eine Welt, die es sich immer wieder zu entdecken lohnte, gerade weil ich wusste: Ich werde nie fertig damit.

Nach dem Schauer bricht wieder Sonnenlicht durch die Wolken, die jetzt wieder strahlendweiß sind und in harmlose, kleine Flöckchen zerfallen. Die Menschen öffnen ihre Jacken und verlassen den Schutz ihrer Strandzelte. Am Horizont kreuzt ein Schiff der Küstenwache. Das Gefühl verweht, aber ich weiß, dass es mich noch eine Weile umfloren wird wie ein Trauerkranz. Es ist schwer, aufzugeben.

Zu schnell ist alles Vergangenheit. Die Zeit heilt, sagt man, aber ich glaube nicht, dass das auf Liebe oder auch nur auf eine innige Zuneigung zutrifft. Warum sonst sollte man sich in der Kirche ein „Für immer“ versprechen, in guten und in schlechten Tagen, bis das der Tod uns scheidet? Ich glaube an diese Ewigkeit. Ich glaube daran, dass es ein „Für immer“ geben kann, auch wenn es nur selten von gegenseitiger Dauer ist. 

Und dann ist da immer einer, der zurück bleibt mit seinem Teil von Ewigkeit und nicht weiß, wie er das abkürzen soll.
„Gott, hilf mir tragen“ betet man dann vor dem eisernen Kerzenständer unter den Blicken der Gottesmutter, dem Kerzenständer, an dem man so viele Lichter für ihn entzündete. Das Kerzenlicht leuchtet weich und warm wie der Regen; wie die Umarmung, mit der sie das Jesuskind hält.
Und man hofft, dass der HERR die Welle schickt, welche das Gefühl der Ewigkeit des Meeres übergibt und einem das Herz, sauber gewaschen, mit sanfter Dünung zurück ans Ufer legt.