Der Sommer ist auf seinem Zenit angelangt. Noch nie sah ich die Wiesen und Deiche um diese Zeit in so einem satten Grün; und noch nie erstrahlte der Dünenbewuchs in so leuchtenden Farben. Die Kartoffelrosen blühen nach wie vor in tiefem, samtigen Purpur, obwohl zwischen den Blüten bereits erste feuerrote Früchte wachsen. Der viele Regen der letzten Wochen und die verhältnismäßig kühlen Temperaturen haben der Natur offenbar gut getan und sie in all ihrer Schönheit bis in den August konserviert. Während der Rest der Republik zeitweise gebacken wurde, schaffte es das Thermometer auf Langeoog kaum über 20°C. Da meine Wohnung keine Zustände zwischen Sauna und Gefrierschrank kennt, bin ich darüber nicht traurig: ich kann weder extreme Hitze noch Kälte besonders gut gebrauchen. Noch mehr als die Wohnqualität, die dieses Sommerwetter mit sich brachte, freut mich allerdings die kraftstrotzende Natur mit all den Pflanzen, die in diesem Jahr nicht verbrannten und verdursteten. Zwar hat Irland den Beinamen „Grüne Insel“ bereits für sich gepachtet, und auf den Ostfriesischen Inseln rühmt sich Spiekeroog damit (beides natürlich nicht zu Unrecht) — aber in diesem Jahr, denke ich, geht auch Langeoog als „Emerald Island“ durch.
„So grün habe ich die Insel noch nie gesehen“, sage ich, als wir staunend am Strand gen Ostende marschieren; den Blick auf den wogenden Strandhafer und das in unzähligen Farben strahlende Naturschutzgebiet gerichtet. „Ich auch nicht“, pflichtet mir die Freundin bei: „Im letzten Jahr war der Deich um diese Zeit ganz braun.“
Später bin ich noch einmal allein unterwegs. Erneut hat es zu regnen begonnen. Ich betrachte einen Blütenkelch, aus dem Tropfen kullern. Er war so schwer davon geworden, dass er sich unter dem Gewicht des Wassers neigte und seine Regenlast der Erde schenkte. Unweit davon laben sich ein paar Drosseln an leicht zugänglichem Gewürm: Auch ihnen gefällt der regensatte Boden, zweifelsohne.
Der Regen ist warm und weich auf der Haut und weder von Donnergrollen noch von übermäßiger Dunkelheit begleitet. Es liegt so gar nichts Furchteinflößendes darin: Nur Leben.
Natürlich weiß ich um die Verheerungen, die starke Regenfälle und Dauerregen mit sich bringen können. Ich weiß von Erdrutschen, Überschwemmungen, Leid und Tod. Und dennoch finde ich den Regen jetzt und hier einfach nur schön.
Ich fahre ein paar Meter weiter, an den Weiden entlang, die nun ebenfalls sattgrün sind. Ein paar Pferde stehen darauf; ihr Fell glänzt in der Sonne, die mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder durch die Wolken bricht.
Fast könnte man vergessen, was aktuell noch so los ist in der Welt, denke ich, und ein wenig plagt mich das schlechte Gewissen. Es fällt so leicht, sich auf Langeoog in einer eigenen Welt zu fühlen. Aber die Insel ist keine eigene Welt. Sie ist Niedersachsen, Deutschland, Europa. Auch Langeoog ist Pandemie.
Und wie surreal ist es, denke ich weiter, hier all dieses kraftstrotzende, pralle grüne Leben zu sehen, all das Schöne und Beständige — während der Alltag in weiten Teilen noch immer von einer Krankheit bestimmt wird?
Es ist ein eigenartiger Kontrast, einerseits. Andererseits: Ist nicht genau das der Lauf der Welt? Der ewige Kreislauf von Tod und Geburt, von Krankheit und Genesung? Braucht es nicht die Zeiten des Blühens und Kraftschöpfens, um Zeiten der Schwäche und des Welkens zu ertragen, und sei es nur, um währenddessen von den schönen Erinnerungen zu zehren?
Nun will ich nicht philosophieren; und freilich nützt es jemandem, bei dem in dieser Minute in irgendeiner staubigen Stadt COVID-19 ausbricht, absolut nichts, dass auf Langeoog das Deichgras gerade so schön grün ist. Aber mich bringt der Gedanke einmal mehr zu dem Schluss, dass nichts selbstverständlich ist. Kein Sommer, kein Regen. Und auch keine Gesundheit. Es ist ein Geschenk, all das noch haben zu dürfen. Ich wünsche es jedem.