Die Rechnungen sind beglichen. Ich kritzele „bezahlt“ auf den letzten Überweisungsträger und werfe ihn auf den Stapel zu den anderen. Dort wird er ins Fach „Ablage“ wandern und irgendwann in den zugehörigen Ordner. Auch die Steuererklärung ist eingereicht, immer mit Herzklopfen, ob man trotz ohnehin ruinöser Steuerklasse 1 wegen der freien künstlerischen Betätigung nebenher nicht noch draufzahlt. Dennoch: Es ist ein gutes Gefühl, keine Schulden zu haben, wenn man von der noch abzuzahlenden Wohnung einmal absieht. Nur der Kontostand ist jetzt, nachdem alles abgebucht wurde, ein Desaster.
Dabei denkt man ja immer, dass man sich außer einer neuen Jacke, Balkonblumen, einem Ersatz für den kaputten Wasserkocher und ab und zu einem Essen auswärts keinen Luxus geleistet hat diesen Monat, aber Kleinvieh macht dann doch erstaunlich viel Mist. Das neue John-Grant-Album, das mir im Hintergrund gerade so treffsicher von meinem Leben erzählt, als sei der Mann mein Seelsorger, zähle ich nicht dazu, denn Musik ist in Phasen des Hungers mindestens so wichtig wie Essen. Das meine ich übrigens vollkommen ernst, und es trifft so ziemlich alle Arten von Kunst.
„Warum hast Du auch nichts studiert, womit man Geld verdient“ lauten die üblichen Unkenrufe, aber abgesehen von meiner Dyskalkulie, die ein MINT- oder BWL-Studium trotz Wollens unmöglich gemacht hätte, tue ich mich damit schwer, den Wert künstlerischer Betätigung nur ökonomisch zu erfassen.
Natürlich hadere ich mit meiner relativen materiellen Armut. Wenn jedes „Gönnen“ zwangsläufig mit einem „Verkneifen“ einhergehen muss. Wenn die Wahl lautet: ein neues Klo oder die seit ewig ersehnte Irland-Reise, neue Jacke oder neue Schuhe (letzteres zumindest, wenn man halbwegs auf Qualität Wert legt). Dass „relativ“ hier bedeutet, dass ich im Gegensatz zu den meisten Menschen auf der Welt im Überfluss lebe, muss ich wohl nicht erwähnen, dennoch kann es auch auf hohem Niveau nerven, das ständige Entweder-Oder.
Mit genügend Talent kann man auch von Kunst leben, dachte ich immer, aber ich kenne einen wirklich fantastischen Maler, der trotzdem kaum die Ateliermiete zusammengekratzt bekommt.
Ich kenne hervorragende Musiker_innen, die sich ihre Cello-, Harfen- oder Flötenhände trotzdem noch im Verkauf oder nachts hinter Bartresen ruinieren müssen, weil selbst angestellte Orchestermusiker nur einen Appel und ein Ei bekommen, von „verdienen“ mag ich nicht reden.
Aber soll deswegen niemand mehr Kunst machen? Ich würde ersticken in einer Welt ohne Kunst. Ohne Musik, ohne Fotografie oder Malerei, die uns die Schönheit der Welt nicht nur sehen, sondern auch fühlen lässt.
Und nicht nur als Konsument von Kunst, sondern auch als Kunstschaffender bekommt man etwas, das sich in Währungen nicht ausdrücken lässt.
Ich erinnere ein älteres Ehepaar, das mir eine meiner Zeichnungen abkaufte. Als ich ihnen das Bild vorbeibrachte, baten sie mich zum Tee in die gute Stube; ein vornehmer Raum in einem alten Friesenhaus, mit einem dicken, beigefarbenen, makellosen Teppich, auf dem ich mich für meine abgewetzten, sandigen Schuhe schämte, die ich anzubehalten aufgefordert worden war. Auf dem Tisch stand zartes Porzellan, Schälchen mit Kluntje und Gebäck, ein Kännchen dicker Rahm zum Friesentee, der auf einem versilberten Stövchen warmgehalten wurde. In tadelloser und respektvoller Höflichkeit wurde ich eingeladen, Platz zu nehmen. Jacke und Schal wurden mir abgenommen und ordentlich auf einem gepolsterten Bügel drapiert, der vermutlich mehr gekostet hatte als meine Jacke. Kuchen wurde serviert, Tee eingeschenkt.
Ich war so einen Umgang überhaupt nicht mehr gewöhnt.
Ich erinnere die ersten Jahre, in denen ich hier im Hotel arbeitete. Jahre, in denen man oft nur als ungebildeter Handlanger wahrgenommen und entsprechend behandelt wurde; in denen man sich von Leuten anschreien, beleidigen und demütigen lassen musste, während man deren Dreck wegputzte oder allein das Gepäck einer Großfamilie über eine steile Wendeltreppe in den dritten Stock hievte, während diese sich am Fuß der Treppe darüber lustig machte, wie ich unter der Last fast zusammenbrach. Ich erinnere einen Mann, der mir nach einem teuren Essen einen 5-Euro-Schein als Trinkgeld hinhielt und diesen, als ich danach greifen wollte, bösartig auflachend wieder zurückzog, wie einem Hund das Stöckchen. Ich hätte mich kaum billiger und besudelter fühlen können, wenn er mir das Geld in die Unterhose geklemmt hätte. Man sagt ja immer, man solle sich für keine Tätigkeit zu fein sein, und lebenslang war das auch meine Devise, aber es fällt doch schwer, wenn man eigentlich aus einer anderen Gesellschaftsschicht stammt und dann auf einmal ins unterste Spektrum der sozialen Nahrungskette einsortiert wird. Ich weiß nicht, ob das für Menschen, die immer nur Dienstleistungsberufe hatten, auch so schwer ist, oder ob man diese ständigen Demütigungen dann gar nicht wahr nimmt, aber für mich war es hart, und ich bin froh, dass diese Zeit vorbei ist: Dass man sich fabelhaft dumm stellen konnte, weil einen die Leute ja sowieso für dumm hielten, war eines der wenigen schönen Dinge daran.
Nun also saß ich in diesem vornehmen Wohnzimmer bei diesen höflichen und gebildeten Leuten und wurde behandelt wie ein VIP, weil ich ihnen etwas gezeichnet hatte. Auch meine Bücher lobten sie in hohen Tönen, ohne jede Falschheit.
Wir tauschten ein wenig Lebensgeschichte aus, ein schönes Gespräch unter drei Akademikern: Wohltuende Augenhöhe, die ich lange vermisst hatte. Und doch wunderte ich mich ein wenig darüber, dass den beiden meine Geschichten so gut gefielen, entstammten sie doch einer Generation, in der etwas weniger freimütig über Homosexualität und Ähnliches parliert wurde. Bis das Gespräch auf die Familie kam. „Unser Sohn“, erzählte die Frau mit einem sanften Lächeln, „der ist ja auch so wie Sie“. Ich war gerührt: Daher also der Wind. „Durch ihre Erzählungen können wir ihn noch viel besser verstehen und das alles nachfühlen“, sagte die Frau, und ich dachte, dass dies die Momente sind, in denen Kunst wirklich Werte schafft.
Unabhängig vom Kontostand, unabhängig vom Status: Solche Momente machen reich.
Man mag einen Monat sich jedes Vergnügen verkneifen müssen, schlimmstenfalls sogar ein bisschen Hungern: Aber es sind solche Erfahrungen, die einen als Künstler über die magere Zeit retten; Erfahrungen, von denen man zehrt und die einen nähren. Es ist ein Gottesgeschenk, etwas Bleibendes schaffen zu können, das Menschen bewegt.