Das Meer wartet noch. Seit einigen Tagen bin ich zurück auf der Insel, krankheitsbedingt ans Haus gebunden, der Weg zum Strand ist zu weit. Aber dieses einzigartige Blau des Himmels am Ende der Straße, hinter der das Meer liegt, lässt mich wissen, dass es da ist. Und auch das leise Wellenschlagen, das sich heute kaum hörbar in das Rauschen des Windes und des Herbstlaubs an den Bäumen webt, erzählt davon. Wie eigenartig es ist, zu dieser Übergangszeit fortgewesen zu sein. Ich betrat das Haus mit Schal und Mütze; im Bad trockneten noch Badehose und Strandtuch. Die abgerissenen Kalenderblätter, die meine liebe Blumensitterin säuberlich auf dem Regal stapelte, berichten von der verronnenen Zeit.
Es fühlt sich an, als hätte ich eine ganze Jahreszeit verpasst; in Wirklichkeit waren es keine drei Wochen. Vor zwei davon steckten noch Chirurgenhände in meinem Gedärm, andere zerrten meine Bauchdecke nach oben, auf der Suche nach etwas, das dort nicht hingehörte und freigeschnitten werden musste. Bei der Narkoseeinleitung hielt eine warmherzige und verständnisvolle Ärztin meine angstzitternde Hand. Ihr Kollege wartete respektvoll, bis ich mich bekreuzigt hatte, bevor er mir kalte Flüssigkeit in die Venen leitete. Ich hatte meinen Frieden. Und dieses Mal ging alles gut.
Mit dem Erwachen war aus dem eher geistig veranlagten Menschen ein durch und durch körperlicher geworden. Im Inneren herrschte eine unheimliche Grabesstille; noch war jede Darmbewegung gelähmt. Aus mir ragten Schläuche; aus der Bauchdecke, aus der Harnröhre. Dann explodierte der Schmerz. Aber ich fühlte, und deswegen wusste ich: Ich bin am Leben. Dank sei Gott.
Mit einer Tablette Oxycodon glitt ich in einen vertrauten Schmerzmittelrausch: So wunderbar, so weich, und so gefährlich. Ich schlief und erwachte davon, das mir kühle zarte Finger über die Wange strichen, ich roch Rosenduft. Ich vermutete die Schwester, aber im Zimmer war niemand. Ein Drogentrip, sagte mir die Vernunft, aber das Herz wollte glauben, dass es jemand vom Himmel war, der mich auf diese Weise tröstete. Der mir damit sagte, dass mir verziehen war und der wollte, dass ich lebte. Zwei Etagen über meinem Zimmer gab es eine Kapelle, ich schleppte mich mit meinen Schläuchen dahin, sobald ich das Bett verlassen durfte.
Nun aber scheint mir auch das schon wieder so weit weg. Auf dem Heimweg döste ich im fast leeren Salon der Fähre und sah den Reflektionen des Wassers an der Decke zu, die das Sonnenlicht durch die Bullaugen des Schiffes dorthin malte.
Nun sehe ich vom Bett aus dem Wolkentreiben zu und horche nach dem Meer. Mittags ist es noch warm genug, um mit Isoliermatte und Schlafsack auf eine Feldliege auf dem Balkon umzuziehen. Eine Primel hat sich von März bis in den Oktober gerettet und erfreut mich mit ihren Blüten und ihrem Vorbild an Lebenskraft. Inselarzt, Freundinnen und Freunde, Kollegen und Eltern kümmern sich. Ich leide keinen Mangel.
Und ich bestaune einmal mehr — und trotz kleinerer Rückschlage — was für ein Wunderwerk der menschliche Körper doch ist. Zwar sind die vier Schnitte in der Bauchdecke noch nicht verheilt, zwar scheint noch immer eine gewisse Unordnung im Gedärm zu herrschen, aber es ist doch erstaunlich, dass es heute überhaupt möglich ist, jemandem den Bauch aufzuschneiden, ohne damit sein Todesurteil zu fällen. Und dass man einen Menschen überhaupt halbwegs schmerzarm da durchbringen kann. Ich habe großen Respekt vor den Errungenschaften der Medizin. Vor allen Pflegenden und Helfenden sowieso. Am meisten aber erstaunt mich das Wunder der Heilung.
Diesem Wunder muss ich nun Zeit zur Entfaltung geben. Es ist nicht immer leicht: Man hat keine Geduld, man schämt sich um Hilfe zu bitten, man ist es nicht gewohnt, sich so sehr mit seiner eigenen Körperlichkeit beschäftigen zu müssen, auf seine physischen Funktionen zu achten und auf seine Grenzen. Ich muss auch mir Zeit geben. Das Meer, in seiner wundervollen Unendlichkeit, wird mich ohnehin überdauern. Es ist da. Und es wird auch weiter warten.