Durst

Es war ein kalter, trockener Frühsommer. Die Temperaturen klammerten sich noch Ende Mai an die 10°C-Marke, obwohl die Sonne schier ununterbrochen gegen die Kälte anzuscheinen versuchte. Regen fiel, wenn überhaupt, nur in homoöpathischen Dosen, die gerade ausreichten, um die erschlafften Blüten und Blätter mit ein paar fotogenen Perlen zu benetzen. In den letzten Tagen hat sich zumindest die Trockenheit ein wenig gebessert, aber ich weiß nicht, was dieser Regen zu retten vermag. Die lang ersehnte Feuchtigkeit lockt den Duft der Kartoffelrosen und Maiglöckchen noch einmal hervor; im Morgendunst singen Nachtigallen, irgendwo verborgen im dichten Rosengestrüpp, das schon mit herbstbraunen Blättern durchsetzt ist. Daneben jedoch, als kleiner Hoffnungsschimmer, zeigt sich ganz neu ins Leben geholtes, frisches Grün, das das verdurstete, welke Laub verbirgt.
Nun steht in wenigen Tagen der meteorologische Sommeranfang bevor. Am Strand ist das längst unübersehbar: Die Saisonausstattung ist vollständig. Strandkörbe, Plankenwege, Spielgeräte, Umkleidehäuschen, Duschen, alles da. Austernfischerküken tapsen durchs Gras, die Highland-Rinder säugen zottelige Kälbchen mit honigfarbenem Fell. Durch die Salzwiesen streicht der Wind und enthüllt ihr sommerliches Farbenspiel.
Dahinter liegen die weiten Wattflächen.
Ich sehe mir das alles an und sehe es dabei doch irgendwie nicht; ich sehe diesen Sommer nur mit den Augen. Herz und Seele schweigen. Die Farbenpracht ist wunderschön und die Tierkinder sind entzückend, und ich weiß, was ich bei dem Anblick fühlen sollte, aber ich fühle nichts. Da ist wieder diese Milchglasscheibe und diese Schallschutzmatte zwischen mir und der Welt; hochgezogen von irgendeiner Leibgarde meiner Seele, über die ich nicht befehlen kann. Die Depression ist zurück.
Nun höre ich schon wieder das Geunke, wie ich denn unglücklich sein könne, denn ich hätte doch alles, allem voran eine Wohnung am Meer, aber man kann tatsächlich eine depressive Episode haben, ohne unglücklich zu sein, denn Depressionen sind nunmal eine Krankheit — und kein temporärer Gemütszustand oder gar ein Gefühl. Vielmehr gehen Depressionen mit einer Art Gefühlstaubheit einher; man ist weder traurig noch fröhlich, sondern einfach … gar nicht. Eine atmende Hülle, die nach außen hin noch eine Weile funktioniert, wie sie es trainiert hat, aber auch das ist endlich. Sonst ist da nichts. Und hinter dem Funktionsmodus nur noch Leere.
Alles ist schwer; das Leben wird zähflüssig. Man kämpft sich mit jeder Bewegung durch dicklichen Sirup, der aber nicht süß ist, sondern so farb-, geschmack- und geruchlos wie alles andere, das einen umgibt, und das man aus der Erinnerung noch lieben oder verabscheuen kann, aber in Wirklichkeit ist da gar nichts. Man kann einen Ausflug machen, um sich abzulenken, und minutenweise funktioniert das auch: Man lacht über einen Witz, bewundert einen hübschen Vogel und die zartgrünen Weizenfelder entlang der Birkenalleen. Man sieht die Schönheit: Die Felder gesäumt von schwarzgrünem Wald, die Zweige der Trauerbirken wehen im Abendwind, die roten Fachwerkhäuser stehen von der Abendsonne vergoldet in kleinen, heimeligen Ansammlungen wie alte Freunde. Grün lackierte Scheunentore mit leuchtenden Rosen davor und riesigen Rhododendren mit plüschigen Hummeln in den Blütentrichtern. Aus dem Wald ruft der Kauz; Störche klappern, aus dem Schilf am Teich quakt es. Der treue Mensch weicht nicht von meiner Seite, ist weich und warm und und liebt und lächelt unerschütterlich; baut einen warmen, weichen Kokon aus Geborgenheit. Und dennoch.
Man fällt zurück in den zähen Sirup; alles verhallt und verschwimmt und verblasst — obwohl man weiß, dass es noch da ist. Und obwohl man weiß, dass es schön ist. Wenn man sich dann dabei ertappt, dass man irgendetwas machen wollte und doch nur minutenlang vor sich hingestarrt hat; dass man tagsüber bald irre wird vor Müdigkeit und nachts doch kein Auge zubekommt, weil da zu viel ist, was einen plagt und sorgt, auch wenn die Vernunft im Hintergrund ebenso vergeblich wie ununterbrochen gegen das Plagen und Sorgen anplappert — dann weiß man, dass die Depression wieder da ist, der schwarze Hund, F 33.2. oder wie immer man das Elend nennen mag.

Depression ist ein bisschen wie diese riesige, weite Wattfläche hinter der Salzwiese, denke ich manchmal. Eine graubraune, plane Ödnis. Allerdings ohne das Glitzern der Siele, ohne all die Geräusche, die vom Leben unter dem Schlamm erzählen. Und im Gegensatz zum Watt bietet eine Depression weder Nahrung noch Lebensraum. Im Gegenteil: Depressionen laugen aus; sie saugen Farbe und Leben aus allem und beschneiden die eigene Welt auf ein Minimum an Funktionsradius. Und mit jedem Außenreiz wird es schlimmer. Dann kommen die körperlichen Symptome: Das schrille Pfeifen im Ohr, die Luftnot, die Erschöpfung, die Muskelschmerzen, der Schwindel und die Schlaflosigkeit. Danach funktioniert gar nichts mehr.
Selbstverständlich tue ich dem Watt mit diesen Vergleichen Unrecht, denn das Watt ist ein wundervolles, faszinierendes Ökosystem, in dem, genauer betrachtet, mehr los ist als auf jeder Partymeile — mit unendlich viel Leben in jedem Kubikzentimeter, mit geschäftigem Gewusel, mit Leben und Sterben, Gedeihen und Vergehen. Die vermeintliche Ödnis, die das Watt auf den ersten Blick bietet, hat ihre ganz eigene, unverwechselbare Schönheit und ist von unschätzbarem Wert.
Sicher gilt das auch für die Wüste und vielleicht sogar für die Mondlandschaft, auch wenn ich beides noch nie mit eigenem Auge gesehen habe. Insofern gibt es wohl keine Landschaft, die sich wirklich mit der Seelenlandschaft eines Depressiven vergleichen ließe, aber Betroffene und deren Angehörige wissen, was ich meine.

Leider gibt es da noch die anderen.
30% aller Deutschen halten Depressionen auch im Jahr 2022 noch für eine Charakterschwäche, las ich dieser Tage. Für einen Fall von Faulheit, von „Stell-dich-nicht-so-an“, von „Lach-mal-die-Sonne-lacht-auch“ und „andere-Menschen-haben-echte-Probleme“. Von diesen kommen dann die Kalenderweisheiten und irgendwelcher esoterischer Klimbim der Richtung „Glücklichsein ist eine Entscheidung“; letzteres entspringt vermutlich der Unsitte, dass einige Menschen umgangssprachlich von „depressiv“ reden, wenn sie lediglich „schlecht drauf“ oder „unglücklich“ meinen. Und nein, es geht auch nicht jeder depressiven Episode ein Schicksalsschlag voraus. Längere Phasen von Stress können eine solche begünstigen; traumatische Erlebnisse auch, aber letztlich springen Depressionen doch recht wahllos Menschen an: Auch schöne, erfolgreiche, glückliche. Tote Film-, Literatur- oder Sportstars sind dafür traurige Beweise. Depressionen sind eine Krankheit, mitunter tödlich. Und es muss vorbei damit sein, dass man nicht darüber reden darf. Ist es nicht vollkommen absurd, dass man für jede harmlose Erkältung Mitgefühl bekommt, sich in einer schweren depressiven Episode aber „halt einfach mal mehr bewegen“ soll? Depressive Menschen sind keine undankbaren Jammerlappen, sondern krank. Nicht mehr, nicht weniger, und in den meisten Fällen sogar behandelbar krank. Depressionen sind nicht immer komplett heilbar, aber doch kontrollierbar. Dafür gibt es Fachärzt:innen und Medikamente. Warum ich das hier erzähle, anstelle ausschließlich ein Farbe und Leichtigkeit sprühendes Glitzerbild des Inselalltags zu zeichnen? Weil es Leben retten kann, darüber zu reden. Und weil Depressionen — ja, tatsächlich — auch reisen und schwimmen können.

Hinweis:
Wer sich hier allzu sehr wiedererkennt — ich habe seit mehr als 3 Jahrzehnten Depressionen und kann die Schwere einer Episode mittlerweile halbwegs einschätzen; folglich auch rechtzeitig Hilfe in Anspruch nehmen. Wer das nicht kann: Bitte ruft lieber einmal zuviel als einmal zu wenig eine Fachärztin, einen Seelsorger, den Krisendienst, den Psychosozialen Dienst oder die Telefonseelsorge (0800-1110111) an. Auch die 116 117 hilft. Bei akuten Suizidgedanken wählt bitte den Notruf 112! Bei der Seelsorge oder dem PSD kann man sich auch als Angehörige:r von depressiven Menschen beraten lasen, Hilfe und Ohr finden. Ihr seid nicht alleine — und die Menschheit besteht tatsächlich nicht nur aus den rohen, unzivilisierten, schadenfrohen und gehässigen Arschlöchern, die unter Artikel über Depressionen und Suizide dämliche Lachsmileys pappen. Da draußen ist auch eine Menge Licht — Immer noch. Alles Liebe!

Kunst

Zunächst weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Ein Malset zum Geburtstag, für Anfänger und Wiedereinsteiger. Setzte mich das nicht unter Druck, jetzt, da die Schmerzen in meinen Fingern kein kleinteiliges Zeichnen mehr erlaubten, dennoch etwas Kreatives schaffen zu müssen? Hatte es nicht gar etwas Marie-Antoinette-eskes an sich, im Sinne von „Wenn er nicht mehr zeichnen kann, soll er halt malen?“ Hätte es nicht an mir gelegen, mich wieder dafür zu entscheiden? Die Kunst und ich, wir hatten schon eine wesentlich längere Beziehung als die Schenkende und ich, und, bei Gott, es war kompliziert. Fast fühlte ich mich auf unangenehme Weise verkuppelt.

Die überraschende Konfrontation mit dem Thema „Malen“ warf mich unvermittelt in meine Schulzeit zurück; einen Zeitraum, den ich rückblickend verabscheue wie keinen zweiten in meinem Leben. Ich habe die Schule an jedem einzelnen Tag, an den ich mich nicht davor drücken oder schwänzen konnte, gehasst. Außer die Kunststunden. 
Kunst war das einzige Fach, in dem mich die mobbenden Mitschülerinnen in Ruhe ließen und in dem ich nicht der ewige Zweite neben vermeintlich universalbegabten Geschwistern war. Kunst war etwas, das nur mir gehörte; etwas, in das ich mich flüchten konnte und etwas, in dem ich nicht angreifbar war. Kunst war gut, weil ich in Kunst gut war. Der Lehrer gab mir eine Empfehlung für die Kunstakademie in Düsseldorf; kurz darauf fuhr ich zum Tag der offenen Tür hin, betrat die Akademie mit großen Augen und pochendem Herzen als vermeintliches Tor zur Welt meiner Zukunft — und kehrte demütig heim. Ich liebte alles, was ich dort gesehen hatte. Ich liebte die farbbeschmierten Schürzen der Studierenden, die hellen, riesigen Räume; den Esprit, die Kreativität, die alles und jedes winzige Detail und jedes Lebewesen in diesem Gebäude atmete. Ich liebte den Geruch nach Steinstaub, Terpentin und Farben. Aber ich wusste auch: das kann ich nicht. Hier hat der liebe Gott meinem Talent eine deutliche Grenze gesetzt. Die Leute hier an der Akademie waren so, wie ich nie sein würde. Ich trage keinen solchen Geysir an Kreativität in mir und ich besitze weder die Neugier noch die Experimentierfreude oder den Innovationsgeist, um mich in diesem wirklich hart umkämpften Feld durchzusetzen. Und vor allem besitze ich nicht die Frustrationstoleranz, die es für ein Dasein als Berufskünstler braucht; in einem ständig belächelten Berufsfeld, das selbst bei Menschen, die wesentlich talentierter sind als ich, oft kaum die Miete zahlt.
Es folgten Jahre, in denen ich irgendwann nur noch mit Sprache Bilder erschuf. Aber ganz wurde ich die Kunst nicht los. „Man merkt an deinen Texten, dass du viel gemalt hast“, sagte mir eine Sprachdozentin, „,man sieht jedes Detail in Farbe vor sich.“ Bis heute gehört das zu den schönsten Dingen, die mir je jemand in beruflichem Kontext gesagt hat, und ich trug es all die Jahre mit mir wie einen seelischen Notfallproviant — für Zeiten, in denen es wieder dunkel wurde um mich. Letzlich war es aber genau so eine Zeit, in der ich das Malen wieder begann. Genaugenommen: Man zwang mich. In einer Tagesklinik für Menschen mit Depressionen. Dort musste ich kreativ tätig werden, Speckstein schleifen, Malen, Lavendelsäckchen nähen, Basteln, Mosaikkleben, Weben, irgendwas. Ich fürchtete mich davor, weil ich meinen Anspruch an mich selbst fürchtete. Mir war klar, dass diese Tätigkeiten vom Grübeln befreien und der Seele Ausdruck verleihen sollten, wo die Sprache versagte, und auch, dass es dabei nicht um den künstlerischen Wert ging. Aber ich wollte nicht. „Ich war mal ganz gut in sowas“, sagte ich. „Aber irgendwann habe ich eingesehen, dass ich mich nicht mehr steigern kann, egal, wie sehr ich mich anstrenge. Dass mein Talent Grenzen hat. Dass ich nie so gut werden werde, wie ich gern wäre. Das jetzt erneut zu erfahren, zöge mich noch mehr runter.“ Ich glaubte nicht daran, dass es mir helfen würde und fragte, ob ich nicht lieber etwas anderes machen könnte. Ein Beet umgraben, den Sandsack verhauen oder sowas. Es half nichts. Ich musste Malen. Viele Frustrationen und Dutzende Bilder, die ich schamesrot zerknüllte später, zeichnete ich ein Rotkehlchen, das abflugbereit auf dem Rand eines Blumentopfes saß. Die Mitpatienten und Therapeutinnen liebten es und es wurde in den Klinikflur gehängt. Und dann war es kurz zurück: Das Gefühl, dass ich doch irgendetwas konnte.
Es war ein wohliges, duftendes Bad, aus dem mich die nächste toxische Beziehung und der nächste wirtschaftliche Misserfolg aber schnell wieder auskippten. Das Rotkehlchen starb irgendwo allein im Dreck. Es kommt ja nicht nur auf den gelungenen Abflug an. Sondern auch darauf, wo und wie man landet.

Doch das nächste Mal, bei dem ich wieder zu Zeichenstift und Pinsel griff, war erneut mit einem Abflug verbunden. Obwohl ich es damals noch nicht ahnte, leitete ich mit einer Serie von Vogelzeichnungen den Abflug nach Langeoog ein. Es gab Erfolge und Rückschläge mit den Zeichnungen. Verkäufe und Ausstellungen ebenso wie Phasen, in denen kein einziges Bild gelang. Doch das Malen mit Sprache war längst zum ersten, sicheren Standbein geworden: Der Druck, auch mit Pinsel oder Zeichenstift etwas schaffen zu müssen, war weg.

Und nun lag da vor mir dieser Malkasten und der Druck kehrte zurück; ebenso wie alle Erinnerungen. Verschiedene Materialien lagen zum Ausprobieren bereit: Aquarell? Bin ich zu ungeduldig für. Acryl? Riecht und braucht zuviel Platz in der Wohnung. Kohle? Been there, done that. Stoff meiner destruktivsten Teeniephasen. Was eignete sich dafür auch besser als ein Herumsauen in tiefschwarzem Staub? Furchtbare Zeit, weg damit. Ölpastellkreiden? Nur selten gemacht, riecht nicht, trocknet schnell, die Handhaltung bedarf weniger Feinmotorik, also her damit. Tipps bei einer befreundeten Künstlerin mit Expertise in dieser Technik geholt. Freude gehabt. Ergebnisse noch stark ausbaufähig, aber ansehnlich.
Es ging also doch noch ein bisschen. Viele Erinnerungen an Hilfsmittel und Techniken kamen zurück und ich spürte, dass sich ein Dranbleiben lohnen könnte. Und ja, ich hatte das Malen vermisst. Ich hatte vermisst, wie sehr man dabei Raum und Zeit vergessen konnte. Ich hatte vermisst, wie sehr man sich darin verlieren und dabei abschalten konnte, und wie gut es tat, schönen Erinnerungen, Träumen und Phantasien Leben einzuhauchen, indem man sie zu Papier brachte.

Es ist faszinierend zu sehen, wie die Motive im Schaffensprozess eine Eigendynamik entwickeln: wie der Baum, den man im Sommergrün geplant hatte, plötzlich Herbstrot werden möchte; wie das Gewand der Gottesmutter, auf dem Vorlagen-Foto sandfarben, sich fast von alleine Marienblau färbt.
Vor allem aber liebe ich, wie sehr das Malen einen neuen Blick auf Gewohntes ermöglicht. Plötzlich teile ich die Langeooger Dünenlandschaft im Vorbeiradeln in Farbflächen auf. Beobachte Licht und Schatten genauer; überlege, wie ich die Lichtreflexe auf einer Pfütze anlegen könnte oder ihr zartes Wellenspiel. Überlege, wie man welches Motiv abstrahieren könnte. Mit welchen Strukturen man welchen Effekt erzeugen könnte. Knüllen, Kratzen, Streichen? Eine neue Welt öffnet sich, allein dadurch, dass ich jetzt mit diesem neuen — oder wiederbelebten — Blick durch die Gegend fahre. Mir hätte gerade jetzt, zur Pandemiezeit, wo ich nicht reisen und anderswo neue Impulse sammeln kann, eigentlich nichts Besseres passieren können.
Denn auch ich bin inzwischen an einem Punkt, wo ich zugeben muss: Das Reisen fehlt mir. Oft erwische ich mich dabei, wie ich nächtelang im Internet Pauschalreiseangebote anschaue, die ich mir eh nie leisten könnte. Nordlicht-Safari in Norwegen. Thermalquellenbaden auf Island. Ein grasgedecktes Häuschen auf den Färöern: Einsame Landzunge, nur ich, die Seevögel, viele Bücher und der Blick auf winzige Inselchen. Noch mehr Nordlichter. Noch mehr Norwegen: Stabkirchen, Fjorde. Endlose Wälder. Papageientaucher auf schroffen Felsen. Irland, schottische Heide im Nebel und südenglische Küstenromantik. Lavendelfelder irgendwo; der Vatikan und Mont St.Michel. Klöster, uralte Bibliotheken. Freundliche Mönche, die weißen Alben so rein und duftend wie die rosige Unschuld ihrer alterslosen Gesichter. Die Sehnsucht ist groß. Die Unerreichbarkeit auch. Doch nun kann ich all das zu mir holen, indem ich es male. Die ganze Welt ist in uns: Wir müssen sie nur rauslassen. Welche Erkenntnis könnte an Tagen, die sich mit ihren ewiggleichen Routinen zu einer erdrückenden Art von Leere verdichten, denn schöner sein?
Kunst befreit. Kunst heilt. Kunst eröffnet neue Horizonte, ungeachtet der eigenen Talentgrenze. Kunst erweitert das eigene Selbst, wo man sich selbst für limitiert hält: Denn auch ein unter handwerklichen Aspekten schlechtes Bild ist immer noch etwas Selbstgeschaffenes und damit einzigartig und nicht kopierbar — wie eine Menschenseele. Heute kann ich all das bezeugen. Und auch, dass ein auf den ersten Blick falsches Geschenk letzten Endes genau das Richtige sein kann.

Momentaufnahme: Uhl und Nachtigall

Am Horizont reihen sich kleine Cumuluswolkenberge hinter dem Deich wie eine Perlenkette. Zeugen einer neuen Kaltwetterfront, und dennoch ist am Fuße des Deiches der Frühling in vollem Gange. Kiebitze staksen durch die Weiden, die charakteristischen Häubchen wippen dabei im Takt. Nebenan stochert eine Pfuhlschnepfe nach Nahrung, kleine Schwärme von Steinschmätzern gesellen sich dazu, das Federkleid in der Farbenpracht der Brutsaison. Rinder dösen.

Der Wind fegt in steifen Böen über das Land und erschwert das Fortkommen auf dem Rad. Ich raste kampfmüde an der Weide. Auf dem Asphalt zu meinen Füßen zeichnet sich ein V-förmiger Schatten ab: Eine Formation Gänse ist im Anmarsch. In den Salzwiesen auf der anderen Seite des Deiches trillern Austernfischer. Ein Paradies — für den, der Vögel liebt.

Für Ornithophobiker muss die Insel dagegen ein Albtraum sein, denke ich amüsiert, und dass es doch interessant ist, wie in dem, was einigen perfekt erscheint, für andere das blanke Grauen lauert. Oder wie oft ein winziges grausiges Detail ausreicht, um die Illusion des Perfekten zu zerstören.

Ich denke beispielsweise an Efeuhecken. In meinen Träumen sehe ich mich ja immer gern auf einem Landsitz; ein viktorianisches Gemäuer mit — natürlich — einer mächtigen Efeuhecke, aus der stets ein beeindruckendes Spatzenkonzert ertönt. Ich finde Efeuhecken schön.
Außerhalb meiner Träume wöllte ich eine solche aber nicht geschenkt haben wollen, Spatzenphilharmonie hin oder her. Der Grund hat acht Beine und liebt Efeuhecken ebensosehr wie die Spatzen: Spinnen.

Erst vor wenigen Tagen, im Rahmen einer Osterandacht, wurde die Schöpfungsgeschichte zitiert, und mir ging mit Grausen auf, dass es dort tatsächlich „und Gott schuf alle Lebewesen, die fliegen und weben …“ heißt, d.h. Spinnen werden dort explizit als gleichberechtigter Teil der Schöpfung aufgeführt, sofern mit „weben“ nicht Webervögel oder generell Vögel beim Nestbau gemeint sind. Mist, denke ich, hatte ich meine geliebten Vögel doch bisher unter „Gottes Werk“ und die achtbeinigen Sujets meiner schlimmsten Albträume unter „Teufels Beitrag“ verbucht.
Ein Grund mehr, ihre Existenz zumindest akzeptieren zu lernen, auch wenn ich nicht mehr daran glaube, jemals von meinem unbändigen Ekel vor Spinnen geheilt zu werden. Immerhin: Sie dienen Vögeln als Nahrung.

Auf jeden Fall muss ich wieder an die armen Ornithophobiker denken und daran, wie es wohl wäre, quartierte man mich auf einer Insel ein mit lauter Arachnoiden.

„Watt dem einen sin Uhl, is dem annern sin Nachtigall“ zitiert mein Vater hier gern, wobei mir persönlich Uhl und Nachtigall gleich lieb sind, aber die Botschaft ist klar.
Ich käme jedenfalls nicht auf die Idee, einem Ornithophobiker zu sagen „Stell Dich nicht so an“, auch wenn ich diese spezielle Phobie persönlich nicht im Geringsten nachfühlen kann. Aber ich kann Tierphobien als solche nachfühlen. Und ein paar andere Phobien auch noch.

Das wiederum bringt mich auf den Gedanken, warum es eigentlich so schwer fällt, das mit dem „Leben und leben lassen“. Nehmen wir zum Beispiel Sozialphobien, oder deren „harmlose“ Ausprägung, die Introvertiertheit. Nicht jeder Mensch fühlt sich in Gesellschaft wohl. Nicht jeder langweilt sich, wenn er allein ist. Nicht jeder schöpft Kraft aus einer Beziehung. Nicht jeder ist unglücklich ohne prall gefüllten Terminkalender. Nicht jeder mag Lärm, Gewusel und laute Farben.
Für einige ist Socializing und Smalltalk mit all den Gefahren des Bewertetwerdens und Sichblamierenkönnens eine regelrechte Qual, die Überwindung kostet und Kraft. Die Gründe sind vielfältig; oftmals stecken Traumata durch Mobbing oder ein liebloses, durch Leistungsdruck geprägtes Aufwachsen dahinter. Angst vor Menschen und Panik in Menschengruppen kann entstehen, wenn man in Menschengruppen, der Familie oder Beziehungen selten Geborgenheit fand, sondern Ignoranz, Demütigung und Gewalt, oder wenn man Menschen in irgendeiner anderen Form als potentielle Gefahr kennen gelernt hat.
Manchen steckt die Introvertiertheit aber auch schlicht in der Natur, fern jeder traumatischen Erfahrung. Auch glückliche Menschen ohne Traumata können introvertiert sein.
Und wie wertvoll ist es dann auf Leute zu treffen, die einem die Introvertiertheit weder zum Vorwurf machen noch meinen, einen mit roher Gewalt (z.B. der Mitleidskeule) aus dem vermeintlichen Schneckenhaus zerren zu müssen, sondern die einfach zuverlässig und unaufdringlich da sind.

Was ich über Freundschaften, die auch mit Introvertierten funktionieren, weiß, ist Folgendes: Vertrauen wächst aus Vertrauen. Ganz einfach.
Wenn ein Freund mir Dinge offenbart, aus denen ich ihm, wäre ich bösartig veranlagt, einen Strick drehen könnte, fällt es mir natürlich wesentlich leichter, ebenfalls etwas Persönliches preiszugeben: Quid pro quo. Beschleicht mich hingegen das Gefühl, ich bin für die Person (im harmlosen Fall) nur ein Objekt, um einen wie auch immer gearteten altruistischen Narzsissmus auszuleben (aka Helfersyndrom) oder, im schlimmsten Fall,  nur dafür gut, um die Klatschsucht irgendwelcher tragischen Clowns zu füttern: No way. Leider braucht es mitunter Jahrzehnte, um die einen von den anderen zu unterscheiden.

„Wat dem einen sin Uhl, is dem annern sin Nachtigall“ gilt auch für zahlreiche andere, zentrale Lebensbereiche: Manche Menschen wären ohne Kinder todunglücklich, andere wären es mit. Manche vermissen den Respekt vor den Alten, andere den vor der Jugend. Kann man so stehen lassen. Sollte man auch. Und dennoch entbrennen über solche Dinge Diskussionen, die besonders in den Untiefen des Internets oft dergestalt ausarten, dass man jede Zivilisation in unerreichbarer Ferne wähnt. Die eigene Sicht wird zum Maß aller Dinge. Wer ein anderes Leben bevorzugt? „Neidisch“, natürlich: das Totschlagargument Nummer eins. Und immer wird versucht, irgendeinen Rechtfertigungsdruck zu erzeugen.

Du hast kein Kind, weil du es dir finanziell nicht leisten kannst? Egoist, denk doch mal an die Gesellschaft. Du hast ein Kind, obwohl du es dir finanziell nicht leisten kannst? Egoist, denk doch mal an die Gesellschaft. Du bist auch ohne Partner_in glücklich? Du machst dir was vor, „no man is an island“. Du bist überzeugt, den_die Richtigen zu haben? Du machst dir was vor, 50% aller Ehen gehen schief. Die dreisten Fragen sind Legion: Warum bist du Single? Warum hast du so früh geheiratet? Warum hast du keine Kinder? Warum hast du so viele Kinder? Warum hast du sowas Brotloses studiert? Warum hast du nur auf Karriere studiert? Warum hattest du im Leben erst einen Sexualpartner? Warum hattest du Hundert? Warum trinkst du keinen Alkohol? Warum trinkst du so viel? Weil, möchte man da manchmal, in Verzweiflung mit den Händen ringend, ausrufen: Weil … es euch einfach einen Scheiß angeht! Weil man sowas nicht fragt, weil es übergriffig ist und jeder von uns exakt nur ein einziges Leben hat und darum doch bitteschön selbst entscheiden darf, was er_sie daraus macht, solange es niemandem schadet! Und selbst wenn der Lebensweg nicht immer von klugen Entscheidungen geprägt war: Wer sind wir, um die Entscheidungen anderer zu hinterfragen?

Manchmal wird es unerträglich, all das Rotieren der Meinungen im Kreise, das Lärmen und Toben der Welt um einen. Und dann ist sie da, die Sehnsucht nach Stille, nach dem sicheren Kokon der eigenen Welt. Die Stille, die auf Langeoog zum Glück immer nur ein paar Hundert Meter entfernt liegt, selbst in der Hauptsaison. Ich bin froh, hier so viele Plätze zu kennen, wo die Gesellschaft der Vögel einen wieder kräftigt für die Gesellschaft der eigenen Spezies. Wo Wind und Wellen das Herz stärken und nähren und der Deich auch zum Schutzwall der Seele wird: Die Insel ist Medizin.

Ostern liegt hinter uns, der Sommer noch vor uns: Erfreuen wir uns an der Botschaft des Neuanfangs, der Vergebung und Heilung. Und vor allem: Öffnen wir die Augen für die Schönheit von Vielfalt. In der Natur, in uns selbst, und auch im Leben der anderen.

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