Momentaufnahme, Ruhepol

Der Himmel gibt sich heute alle Mühe, um einen nicht vergessen zu lassen, warum es auf Langeoog schön ist. Vor dem Korallenrot und Gold des Sonnenuntergangs präsentieren sich winzige Wölkenflöckchen, schwungvolle Federwolken und Wolkenfelder, die aussehen wie ein Strang ordentlich gekämmter Wolle. Darunter glänzt silbrig die unendliche Weite des Meeres.
Dass sich in den Duft nach Seewasser noch der Diesel der Baufahrzeuge mischt, die zurzeit eine Strandaufspülung bewerkstelligen — geschenkt; ebenso wie das Hämmern und Rumpeln des Sand-Wasser-Gemischs, das durch die ausgelegten Rohre schießt. Die Maßnahme ist nötig, und sie hilft uns allen. Sie verspricht mehr Sicherheit für die nächste Sturmflutsaison und ein noch höheres Maß an Geborgenheit auf der bis dahin hoffentlich etwas einsameren Insel.

Noch immer hat der Saisonbetrieb nicht nachgelassen, obwohl an den Bäumen bereits die ersten Kastanien reifen und auch der Sanddorn bald in voller Pracht steht. An manchen Morgen riecht auch die Luft schon herbstlich, aber die Tage sind immer noch gefühlter Hochsommer. Es ist so heiß, dass man nicht bei geschlossenem Fenster arbeiten oder gar schlafen kann. Lässt man aber die Fenster offen, so dringt unablässig Lärm herein, der an Konzentration und Nerven zerrt. Ich kann nicht behaupten, dass ich diese Zeit genieße. Viele Bekannte machen derzeit auf Langeoog Urlaub, und gerne sähe ich den einen oder die andere davon, aber die Saison raubt mir jede Kraft zum Socializing. „Kommt im Herbst wieder, im Winter oder im Frühjahr“, sage ich dann, und die meisten verstehen das sogar. 
Nicht einmal die Freundin sehe ich zurzeit in nennenswerter Menge, denn zum einen sind unsere Arbeitszeiten reichlich (und reichlich verschieden), und zum anderen möchte man nicht noch unbedingt ein 37°C warmes Lebewesen neben sich im Bett haben, wenn man in der winzigen Wohnung ohnehin schon das Schicksal des heiligen Laurentius teilt, den man bekanntlich lebendig grillte.

Jetzt am Strand aber ist sie bei mir, und sie ist mir die Insel der Ruhe, die Langeoog zurzeit nicht sein kann. Ich bin dankbar für ihre Anwesenheit und sehne den stillen Tagen entgegen, in der mehr Zeit für ein Miteinander bleibt und die ständige Reizüberflutung durch die Vielzahl an Menschen endlich zum Stillstand gelangt.
An manchen Tagen der Hauptsaison fällt es mir schwer, nicht in einen Zustand von Anhedonie zu verfallen; und ja, es gab sogar schon Momente, in denen ich an meinem geliebten Meer stand und fürchtete, dass das mit mir und Langeoog doch irgendwann enden könnte — und zwar auf eine Weise, wie sie Erich Kästner in seinem Gedicht „Sachliche Romanze“ unübertrefflich beschreibt:



„Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut. (…)“

Aber dann stellte ich mir vor, wie es wäre, wieder kilometerweit vom Meer entfernt zu leben, und jeder Zweifel an der Haltbarkeit meiner Liebe zur Insel war unverzüglich ausgeräumt. Ich habe hier das Beste aller bisherigen Leben, und es ist zweifelsohne eine große Quelle des Unglücks, nur auf das zu schauen, was man nicht hat, anstatt sich seines aktuellen Beschenktseins bewusst zu werden. Die Hauptsaison ist für jemanden mit meinem Naturell schwer auszuhalten; das ist sie jedes Jahr — aber ich erfahre auch immer wieder, dass sich das Aushalten lohnt.

Eines der schönsten Geschenke dieses Jahres klettert soeben über die Rohre im Sand, um zu den Strandkörben zu gelangen, und ich bin froh, dass ich nichts weiter tun muss, als ihr zu folgen. Dass ich nichts haben, nichts sein und nichts beweisen muss, und sie trotzdem bei mir sein will; dass ich für ihre Liebe nichts tun muss, außer zu existieren. Ich war in dieser Lage nicht oft, aber das ist wohl das vielbesungene Wunder der Liebe. Liebe, so denke ich, gibt einem wohl immer exakt das, was man gerade braucht: Liebe bringt Stille in den Lärm, liefert Zerstreuung, wo man angespannt ist, und die gemeinsamen Träume vom Winter bringen sogar etwas Kühlung in diese heißen Tage. Die Liebe ist mein Schutzschild in Zeiten des ständigen Ausgeliefertseins; die Rettungsinsel im Menschenmeer. Auch der heilige Bernhard von Clairvaux, dessen Gedenktag heute gefeiert wurde, hat zum Thema „Liebe als Ruhepol“ etwas sehr Schönes gesagt: 
“Wir finden innere Ruhe bei denen, die wir lieben und schaffen Orte der Ruhe in uns für jene, die uns lieben.“

Die Freundin wird mir fehlen, wenn ich mich für meinen Herbsturlaub alleine in die vollkommene Stille verabschiede, aber es ist ein gutes Gefühl, dass sie mit einer vergleichbaren Unaufdringlichkeit, Anmut und Tiefe auf mich warten wird, wie der Wald, in den ich mich flüchte.

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Momentaufnahme, Stillstand

Das Wetter ist nahezu statisch. Seit drei Wochen gibt es kaum eine Änderung. Die Sonne scheint aus einem wolkenlosen, beinahe absurd blauen Himmel. Der Wind ist unspektakulär; an den letzten Regen kann ich mich kaum erinnern. All das bietet eine wundervolle Kulisse für Fotos erwartungsfroher Strandkörbe, niedlicher Jungtiere und roséfarbener Blütenpracht. Die späte Sonne zaubert mit warmgoldenem Glanz den Menschen Jahre aus dem Gesicht, erste Surfer gleiten pittoresk durch silberschimmernde See.
Mir macht der ausbleibende Regen indes ein wenig Sorgen: Lässt nicht schon das erste zartgrüne Kastanienlaub wieder Anzeichen von Schlaffheit erkennen, kaum, dass sich die Blätter entfaltet haben? Färbt sich der Deich mit seinem märchenhaften Gänseblümchenteppich nicht schon langsam braun? Und die Tiere, finden sie genug Süßwasser?
Der Stillstand beim Wetter kann nicht ewig andauern: Die Folgen wären fatal.

Ähnliches gilt für den Corona-bedingten Stillstand des Tourismus auf den Inseln und an den Küstenorten. Erste ernstzunehmende Hilferufe werden laut; auch eigentlich wohlhabende Menschen müssen inzwischen anfangen zu rechnen. In Personalgesprächen werden Existenzen verhandelt; die Behörden ersticken unter Hilfsanträgen. Unnötige Käufe werden vermieden; Fixkosten summiert, Geldreserven geprüft. Dahinter die bange Frage: Wie lange noch? 
Ein Freund, der ansonsten ein leuchtendes Beispiel für Optimismus und kreative Schaffenskraft ist und daher gleich mehrere wirtschaftliche Standbeine unterhält, traut sich als erster aus dem nahen Umfeld, mit einem klaren Wort an die Öffentlichkeit zu gehen: „Wir können nicht mehr“, posted er.
— Es bricht mir das Herz. Schließlich war es genau dieser Freund, der mich über viele Sommer hinweg mit enormer Großzügigkeit bei Kost und Logis bedachte, ebenso wie mit freigiebiger Unterstützung meines eigenen Kunstschaffens. Und nun kann ich nicht viel mehr für ihn tun, als ein paar Dinge im Onlineshop seines Lädchens zu kaufen, so wie ich auch bei anderen Freunden hier und da etwas kaufe, um wenigstens einen Hauch von Not zu mildern, wiewohl auch mein Finanzpolster mehr denn je geradezu fadenscheinig dünn ist. Aber wenn wir als Kleinunternehmer und Künstler nicht genau jetzt zusammen halten — wann dann?

Und immerhin, so denke ich mit einer Art leisen Beschämtseins, geht es bei uns ja nur um die wirtschaftliche Existenz. In Nachbarländern geht es um viel mehr. Dort müssen Ärztinnen und Ärzte entscheiden, wer das letzte Beatmungsgerät bekommt; deutlicher ausgedrückt: Wen sie sterben lassen müssen. Zoos denken über Notschlachtungen nach. Was für ein Gefühl muss es für einen Tierpfleger sein, seinem Elefanten, den er vielleicht seit 30 Jahren pflegt, dem er vielleicht einst eine große Milchflasche ins graue Mäulchen schob, bevor der Elefant zu einem stattlichen Bullen heranwuchs — was für ein Gefühl muss es für einen Pfleger sein, ein letztes Mal in die langbewimperten, weisen Augen dieses Tieres zu sehen, bevor der Tierarzt mit dem Giftpfeil kommt? Um mir die Situation der Entscheidung über ein Menschenleben näher auszumalen, fehlt mir die Kraft. Ich ertrage es nicht. Und weiß doch um die Menschen, die es vielleicht genau in dieser Minute ertragen müssen: Die Schuld. Die Ohnmacht. Die Trauer der Angehörigen. Die Wut. Die Hoffnung der Menschen, deren Angehöriger weiterleben darf.

Es muss weitergehen. Auch in meinem Bekanntenkreis gibt es nun die ersten Infizierten; in Schweden betrauert ein Freund seinen Schwiegervater. Aus dem ersten Infektionsfall in Deutschland — an die Berichterstattung erinnere ich mich, als sei es gestern gewesen — sind mittlerweile 140.000 Fälle geworden. Wenn dieser Text als Buch erscheint, sind wir mit den Zahlen Gottweißwo. Aber hoffentlich noch am Leben.

Die Insel habe ich nun seit zwei Monaten nicht verlassen. Mir macht das nichts aus, denn noch immer sind wir — bin ich — auf Langeoog überaus privilegiert. Die Natur bietet genügend Auslauf, um sogar einen Mindestabstand von einem Kilometer einzuhalten, wo nötig. Die Läden sind zur Genüge bestückt. Ich beziehe noch mein reguläres Gehalt, wenn auch auf mittlerweile dünnem Eis. ich habe eine Wohnung, in der ich mich wohlfühle und einen Menschen bei mir, der mir in all dem Surrealen täglich ein Gefühl von Wirklichkeit zurückgibt; der mich von innen und außen wärmt und mir nahe ist. 
Auch die Kirche ist nach wie vor geöffnet und streckt mir die weit aufgesperrten Türflügel entgegen wie die Arme eines Freundes: porta patet, cor magis.
Diesen Leitspruch der Zisterzienser hat unsere Pfarrbeauftragte auf einem Schild in die Kirche gestellt — Die Tür steht offen, das Herz noch mehr.

Die Erinnerung an diesen Orden wiederum lässt mein Herz aufgehen wie die Blüten der Kirschbäume in den Gärten rund um St.Nikolaus. So weit weg scheint mir die Erinnerung an den tiefen Frieden im Januar, als ich mein Heil zwischen altehrwürdigen Klostermauern fand; nichtsahnend, in was sich die Welt nur wenig später verwandelt haben würde. Inzwischen ist natürlich auch dort der Ausnahmezustand eingetreten, dem man bestmöglichst und mit tiefem Gottvertrauen entgegenwirkt — aber in meiner Erinnerung ist der Anblick schwarzweißer Gewänder, der Widerhall eilender Schritte und flatternder Chormäntel, der Klang der Stiftsglocken und der Geruch nach Kerzen und uralten Steinen noch immer verknüpft mit einem Gefühl von Klarheit, Geborgenheit, Zuversicht und einer ungeahnt reinen Form von Liebe. Und über all dem liegt diese heilende, nährende Form von Stille, die von dem furchteinflößenden, beunruhigenden und gespenstischen Stillstand des Jetzt nicht weiter entfernt sein könnte.

Ich vermisse meine Eltern und meine Freunde. Es macht einen Unterscheid, ob man sich Monate nicht sieht, weil man gerade keine Zeit oder kein Geld hat, aber es theoretisch könnte — oder ob es schlicht unmöglich ist.
Ein noch recht neuer Freund, den ich aber sehr liebgewonnen habe, hängt seit einigen Wochen quarantänebedingt in Niedersachsen fest. Normalerweise wohnt er wesentlich weiter weg. Nun aber könnte ich sogar für einen Tagesausflug bei ihm sein, wenn nicht der Virus zwischen uns stünde, eine angeordnete Kontaktbeschränkung und eine nichtfahrende Bahn und ein nichtfahrender Bus. Alles vernünftige Maßnahmen, zweifelsohne, aber trotzdem fühlt es sich absurd an. Denn nun ist da diese Sehnsucht. Nach Normalität im Allgemeinen, dem Freund im Besonderen, und ich wünschte, ich könnte mit ihm in Teetassen rühren und über die wolligen Schafe am Deich lachen, mir sein Gesicht in Erinnerung rufen und seine Stimme. Natürlich kann man telefonieren, was wir auch tun; man kann über die sozialen Medien Kontakt halten, auch das geschieht. Dennoch ist da die diffuse Angst, dass die Erinnerung an gemeinsam verbrachte Tage, das freundschaftliche Gefühl gar, nach und nach verschwimmt wie ein Aquarell und sein liebes Gesicht mit dem schlemischen Grinsen bald nur noch eine Ahnung im längst entpackten Reiseköfferchen ist. Womöglich, denke ich, ist alles, was irgendwann von ihm bleibt, diese Zeile aus einem alten Roxette-Song: „All I knew / your eyes so velvet blue.“

Auf der Insel gibt es derweil zaghafte Schritte voran. Einige Läden öffnen für ein paar Stunden, erste Restaurants bieten wieder Essen zum Mitnehmen und Abholen an. Man kann Blumen kaufen und Eishörnchen. Die Plankenwege werden am Strand ausgelegt, als wäre das Schiff mit der ersten Fuhre Tagestouristen schon unterwegs zum Hafen. Fröhlichbunte Strandkörbe werden von Inselbewohnenden probegesessen. „Das ist wie Urlaub“, sagt meine Freundin, als wir auf meinem Balkon in der Sonne Kaffee trinken und sie ihr hübsches Gesicht den wärmenden Strahlen entgegenstreckt. Das Vogelkonzert aus dem Nachbarsgarten dröhnt geradezu in die Stille des Morgens. Ja, denke ich: Es tut gut, für einen Moment zu vergessen, dass das hier keineswegs Urlaub ist.
Und so planen wir eine Zukunft, die mehr als ungewiss ist; abends sehe ich mir im Internet eine Modestrecke und schönes Interieur an. Ich weiß nicht, ob ich mich dafür schämen muss, aber ich spüre, dass mir diese Oasen der oberflächlichen Unbekümmertheit gerade jetzt guttun. An Urlaub denken, an schöne Kleidung und neue Ideen für die Wohnung. Daran, dass ich all das vielleicht bald nicht mehr bezahlen kann, denke ich diesmal nicht.

Sommerende

der sommer geht nun fort
ohne dich mein freund
das eis hör ich
fast wieder knirschen
unter unseren schuhen

doch wenn das eis kommt
werden es allein noch
meine schuhe sein
wo du dann bist
werd ich nicht wissen

 

 

Momentaufnahme, Nachglühen

Die Hitze hält an. Es ist der trockenste Sommer, an den ich mich erinnern kann; nicht nur auf Langeoog. Die Deiche sind braun, ebenso wie die Dünen. Viele Bäume und Sträucher haben schon jetzt ihre Blätter abgeworfen, um zu überleben. Die Dohlen am Strand belauern die Süßwasserduschen in der Hoffnung, herabfallende Tropfen zu erhaschen. Das bisschen Regen, das in den letzten zwei Monaten fiel, reichte nicht einmal für meine Balkonkästen: Täglich leere ich Gießkanne um Gießkanne und fülle das Vogelbad. 
Heute verlasse ich erst am Abend das Haus. Meine Haut wehrt sich trotz Sunblocker gegen die Strahlen, es ist fühlbar eine Grenze erreicht, an der ein hellhäutiger Mensch wie ich drinnen bleiben sollte.

Unglaublich, dass sich im März noch Eisschollen am Strand türmten, denke ich, während das Festland, auf das ich von Gerk-sin-Spoor aus schaue, in der warmen Luft flimmert. Auf der anderen Seite ergießt sich die untergehende Sonne über auflaufende See. Endlich wird es ruhiger am Strand.
Die Saison laugt aus. All das Geschrei, Gewusel, Geklingel. Stau in allen Geschäften, auf allen Straßen; kaum ein Restaurantbesuch, den man ohne Reservierung unternehmen könnte. Die Insel ist voll. 
Lauter und lauter wird die Sehnsucht nach stilleren Zeiten, nach Herbst.

Die Natur nährt diese Sehnsucht. Auf den verbrannten Flanken der Braundünen breitet sich seit ein paar Tagen ein dunkelgrüner Teppich aus: Heide und Moosbeeren. Der Sanddorn reift. Aus ihrem Dornengeäst leuchten flammend rote Hagebutten, die Blätter zum Teil schon in herbstlichem Gelb; andere, an Schattenplätzen, stehen noch im satten Grün des weniger heißen Frühsommers.
Es ist eine seltsame Zwischenzeit. 
Zwischen zwei Jahreszeiten. Zwischen Beruf und Berufung. Zwischen Liebe und Loslassen. Ein fortwährendes Jonglieren mit Wissen und Wahrheit, mit Möglichkeit und Machbarkeit, mit Traum und Tatsachen. 
Hier Chaos, dort Klarheit. Es wird Zeit für eine Pause.

An diesem Abend fühle ich mich allein. Das kommt selten vor, und keinesfalls darf man dieses „allein“ mit einsam geichsetzen, aber ich denke an den Mann, der vor wenigen Tagen noch hier war, und dass es schöner wäre, allein durch seine Anwesenheit nicht so viel nachdenken zu müssen. 
Ich weiß noch nicht, was mir dieser Mensch bedeutet, aber er bringt Ruhe in all den Aufruhr, und was könnte mir jemand Besseres bringen zu dieser Zeit?
Die Wellen sind heute besonders schön. Sie rollen groß und sanft zugleich an den Strand, kraftvoll wie ein Arm, der einen hält.

Natürlich: Ich kann ihm ein Bild von den Wellen schicken. Ich kann ihm Worte schicken: Schau mal, wie schön. Ich kann versuchen, die Farbe des Meeres in Worte zu fassen. Ich könnte aber auch einfach die Reflektion der Abendsee in seinen Augen sehen. Dann bräuchte ich gar nichts sagen und gar nichts tun. Dann müssten wir einfach nur in die gleiche Richtung sehen, und er wüsste, was ich meine.
Es ist ein eine noch fremde Nähe zwischen uns. Er wohnt nicht allzuweit weg, also wird er wohl bald wieder hier sein. Geduldig und langmütig ist er; er ist so anders als der, der fortging, als noch das Eis am Strand lag. Indes: Diesen liebten wir einst beide. Und ich weiß nicht, ob es als gemeinsame Basis reicht, dass einem einst derselbe Mann das Herz brach. Es gibt viel zum Nachdenken dieser Tage.

Die kommende, stille Zeit des Herbstes liegt als Hoffnungsschimmer in Sichtweite wie der verglimmende Sonnenrest am Horizont. Die Nacht verschafft Abkühlung. In dem verglühenden Sonnenstreifen schimmert schwach die Erinnerung an warme Nächte und Hände, die Geborgenheit eines Strandkorbs. Ich wusste schon gar nicht mehr, wie das geht. Doch wo verläuft er, der schmale Grat zwischen Sinnlichkeit und Sünde? Ich weiß nicht, ob ich es will, das stetige Austarieren, das Abwägen zwischen Zuneigung und Leichtsinn. Soll ich es zulassen, soll ich es aufgeben? Ist uns nicht anderes bestimmt, das doch ein Lossagen verlangt?
Aber jetzt ist noch keine Zeit für Antworten: Noch ist nicht Herbst. Und der Sommer ist noch nicht vorbei.

Momentaufnahme, Erwachen

Um 4:30 Uhr ist es bereits hell. Ich höre die Wellen an den Strand rollen. Die ersten Vögel regen sich zwitschernd und schnatternd, ein kleiner Schwarm Austernfischer trillert in pfeilschnellem Fluge. Ich liege schlaflos und bin dankbar für den Beginn dieses neuen Tages. Draußen auf dem Balkon höre ich es aus der Vogeltränke plätschern; irgendein kleines gefiedertes Wesen nimmt sein Morgenbad. 
Ich erinnere einen Verflossenen, der sich mit einem entnervten „Boah, diese Scheißvögel“ jetzt noch einmal umgedreht hätte, aber mir entlocken sowohl die Erinnerung daran als auch die Scheißvögel selbst nur mehr ein kleines Lächeln. Ich bin froh, dass noch kein Menschengeräusch, kein Zivilisationslärm in diese Naturidylle bricht. Keine Toilettenspülung, keine rauschende Dusche, keine tapsenden Füße aus irgendeiner der Wohnungen über mir, kein Streit, kein Möbelrücken.
Frieden.

Mit meiner Schlaflosigkeit bin ich alles andere als versöhnt, aber da ich, Gott sei es gedankt, zu keiner festen Zeit mehr an irgendeinem Arbeitsplatz sein muss, gerate ich darüber zumindest nicht mehr in Panik. 
In die Bettdecke gewickelt, trete ich auf den Balkon. Die Fenster sind vom Morgentau beschlagen, und selbst meine Blumen schlafen noch: Die Köpfchen der Chrysanthemen sind zur Hälfte geschlossen. 
Es ist windstill. Auf der Straße, über die in wenigen Stunden Fahrräder, E-Karren und Kutschen rollen werden, geht in aller Seelenruhe eine Dohle spazieren, stolz wie ein feiner Herr aus früherer Zeit, und fast meint man Monokel, Stock und Melone zu sehen.
Ein wenig beunruhigt mich die Ahnung über das Ausmaß des toten Punktes, der mich vermutlich gegen 9 oder 10 Uhr ereilen wird, wenn alle anderen erwachen — aber noch genieße ich den Luxus dieser wundervollen Art morgendlicher Eremitage. Vor dem Balkon schält sich die Sonne als goldener Ball aus dem rosafarbenen Dunst und lässt die Tautropfen am Fenster wie Lametta leuchten.

Ich widerstehe dem kindlichen Bedürfnis, mit dem Finger auf dem beschlagenen Fenster zu malen, wiewohl mir unweigerlich eine Liedzeile von Reinhard Mey einfällt:

„Ich sag es einfach und ich schreibe / auf jeden Spiegel / an die Wand / auf die beschlagene Fensterscheibe / wofür ich so viele Umwege erfand …“
Das Lied war der Soundtrack des letzten Sommers. In diesem Sommer war ich glücklich. Oder zumindest verdammt nah dran.
„Ich liebe Dich.“ Im Gegensatz zu Mey sprach ich das nie aus. Manchmal weiß ich nicht einmal mehr, ob ich das wirklich fühlte. Aber auch hier war ich zumindest verdammt nah dran. 
Eine diffuse Sehnsucht beschleicht mich, wohl wissend, dass sich der letzte Sommer nicht zurückholen lässt. Die Leichtigkeit, die Sicherheit. Dieses: „Mit Dir kann ich alles schaffen.“
Damals begann jeder neue Tag mit irgendeiner lieben Nachricht von ihm; dieser Tage speicherte ich den Mailverlauf fürs Archiv: Das PDF umfasst 3350 Seiten.
 Dass wir uns nichts zu sagen gehabt hätten, denke ich mit einem Anflug wehmütiger Bitterkeit, kann man nun wirklich nicht behaupten. 2,5 Jahre. Vorbei. 
Dass er mir nicht mehr fehlt, kann ich auch nicht behaupten.

Die Luft riecht nach Herbst. Zwar ist es erst Ende Juni, aber die extreme Hitze und Trockenheit der vergangenen Wochen, gefolgt von einer nassen Kälteperiode, hat viel Vegetation verrotten lassen. Die kleine Grasfläche vorm Haus ist nur noch ein Streifen Sand, selbst die nahezu unverwüstlichen Kartoffelrosen haben merklich gelitten. Nun ist ihre Blüte aber bald ohnehin vorbei, der Duft verweht, Hagebutten bilden sich heran, die ersten sind bereits im flammenden Rot des Spätsommers. 
Die Natur macht keinen Halt, die Zeichen stehen auf Veränderung.
Ich gebe das Vorhaben des Weiterschlafens auf. Nach einem erfolglosen Versuch, mich noch einmal hinzulegen, nehme ich die Strickjacke vom Haken und mache Kaffee. Es ist 6:00 Uhr. Irgendwo im Haus wird die erste Dusche aufgedreht. Eine Tür schlägt. 
Die Sonne steht nun voll am Horizont. Es wird ein klarer, warmer Tag. 
24 neue Stunden mit der Option auf so gut wie alles, denke ich: Annehmen, was kommt. Wir sind am Leben.

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Momentaufnahme, Winter

Es ist warm, beinahe frühlingshaft. Und doch ist November.
Kriechkiefern klammern sich an sandige Dünenränder. Entlaubte Brombeerranken strecken sich mit ihren Dornen wie dürre, warzige Finger über den Radweg. Die Sonne wärmt noch immer und taucht die Landschaft am späten Nachmittag in Rot und Gold. Das Gras zu meinen Füßen, über das auch leise schnatternde Graugänse watscheln, hat nichts von seinem sommerlichen Sattgrün eingebüßt: noch nicht.
Es ist ein schöner Tag, und so zieht es mich in die Natur, weil man so ein Wetter nicht umkommen lassen kann, egal ob man in Ausflugslaune ist oder nicht.
Schließlich kann es nun täglich umschlagen, und aus der milden, blaubehimmelten Pracht werden viele Monate kalter, karger Dunkelheit.
Über der Melkhörndüne, Langeoogs höchster Erhebung, ballt sich eine Wolke in reinstem Weiß. Unten, in Richtung Süden, breitet sich die See hinter den Salzwiesen wie ein silberfarbener Spiegel, darüber die Umrisse der Windräder auf dem Festland. Im Norden tost das noch immer sturmbewegte Meer: Von der Melkhörndüne aus sieht man das Wasser zu allen Seiten.

Der Wind weht heute nur frisch; es ist gut auszuhalten hier oben. Die Böen spielen mit meinem Schal, streichen über die Haut, verwirbeln die Haare. Die Natur kennt keine Berührungsängste, und ich wünschte, es wäre mit den Menschen ein wenig anders.
Manchmal, denke ich, hadere ich ja doch damit, maximal noch intellektuell von Interesse zu sein. 
Man lernt damit zu leben, in erotischer Hinsicht tot für den Markt zu sein, aber zuweilen hätte man ja auch als mittelalter Mann noch gerne, dass einen zumindest mal einer in die Arme nimmt. Dass man für irgendjemanden mal Prio A auf dem Stapel ist. Es ist schwer, diese Form von Bedürftigkeit zuzugeben, man schämt sich. Aber so sei es, denke ich. Wenn Gott das will, hat es seinen Sinn, und es ist nicht zu hinterfragen: SEIN Wille geschehe.
Wie hätte ich, als ich mich noch als Agnostiker bezeichnete, getobt über einen solchen Satz! Eine Ausrede für Denkfaule — Denn ist es nicht allzu leicht, sich alles und jedes im Leben mit Gottes Willen zu erklären? Ist das nicht ähnlich unbefriedigend wie damals, als man als Kind auf Fragen nach dem „Warum?“ oft nur ein „Darum!“ als Antwort erhielt? 
Aber es liegt auch viel Beruhigendes darin. Denn auf manche Themen im Leben, so lernt man, gibt es einfach keine Antworten. Vieles im Leben ist und bleibt unerklärlich. Und die Liebe gehört zweifelsohne dazu. Ich werde keine Antwort dafür finden, warum es davon in manchen Leben überreichlich gibt und in anderen Leben zumindest konventionelle Formen von Liebe überhaupt nicht oder nur in hömoopathischen Dosen stattfinden. Also, schlussfolgere ich, kann ich es auch gleich so sehen: Gott will es so. Und dann muss mir SEINE Liebe reichen.

Ein paar Regentropfen fallen plötzlich wie aus dem Nichts aus dem Himmel, in Ostfriesland ist das oft so. Sie versickern im sandigen Untergrund, kaum, dass sie fielen, ein paar glänzen noch Sekundenbruchteile in Zweigen wie eilig drapierter Weihnachtsschmuck: Auch dieses Fest ist jetzt nicht mehr weit.
Ich denke, dass Liebesglück meist ist wie diese kurzen Regengüsse: Da ist dann plötzlich dieses Gefühl von Geborgenheit, ein beiderseitiges Vertrauen, das man seit Ewig vermisste, diese Zärtlichkeit zwischen den Zeilen, ein hauchfeines Klingen von Zuneigung, ein Schimmer Hoffnung auf Ewigkeit oder zumindest viele Jahre. 
Für einen Moment wäscht dieses Glück einem dann den Dreck ab, löst die Krusten alter Verletzungen, enthüllt neue, rosige Haut, heilt, füllt, polstert. Und dann ist man eine Weile immun gegen all die kleinen Betrübnisse des Alltags, weil man ja seine Arme hat oder zumindest die warme Umarmung seines Trostes, die Stärkung seiner Worte am Telefon oder im Brief. 
Aber immer ist es zu schnell vorbei, aufgebraucht, verlebt, zerlebt, und das Glück versickert. Der Lieblingsmensch geht, empfindet nur Freundschaft oder liebt einen anderen, und man leidet, weil er nicht mehr da ist — oder zumindest nicht in der Form, in der man ihn gerne hätte.
Erneut wird Brachland aus der Liebe, durchsetzt von brackigen Tümpeln, von denen man wünschte, sie wären aus Tränen, aber Weinen kann schon Jahre nicht mehr.
Die Dürre bringt dann die Furchen zurück — in das noch gerade lächelnde Gesicht, in den Acker. Die zarten Hälmchen der Setzlinge, in deren kümmerlicher Gestalt man schon die prachtvollen Pflanzen des nächsten Jahres erkannt hatte und von deren Früchten man träumte, sinken zurück in die Erde, untergepflügt mit der nächsten Fuhre idiotisch-naiver Hoffnung. Und erneut erblödet man sich zu meinen, dass daraus mal irgendetwas wachsen könnte, obwohl man längst weiß, dass dieses ausgedörrte Stück Land einen niemals ernähren wird.

Die Aussichtsdüne füllt sich, die Leute wollen sich den Sonnenuntergang anschauen. Ich mache mich an den Abstieg: Zuviel Romantik für einen desillusionierten alten Mann.

Über Dreebargen ziehen Weißwangengänse. Ich denke an ein Lied von Robert Wyatt, in dem es übersetzt heißt:

Wir fühlen die Wärme Eures Atems nicht
an den eisigen Rändern der Erde
Ihr hört nicht den Rythmus unserer Rufe
in dem wir um Frühling beten

Auf dem Rückweg halte ich an der Kirche, um für einen erträglichen Winter zu beten. Fast alle Opferkerzenplätze sind besetzt; ein verglimmender Kerzenrest, angezündet für irgendjemanden, tropft laut in die Stille. 
Es ist kalt geworden mit Einbruch der Dunkelheit. Aber ich denke, dass es gut ist, dass ich jetzt friere. Denn so wird mir die Wärme meiner Wohnung willkommen genug sein: Willkommen genug, um kurz das Sehnen nach einer Art von Wärme zu vergessen, die ich mir selbst zu spenden nicht in der Lage bin.

Momentaufnahme, Sommerwolken

Es gibt Tage, an denen mag ich sogar die kleinen Kreuzspinnen, welche an meinem Fahrradlenker ihre Netze bauen; die weniger intelligenten bauen die Netze in den Speichen. Noch winzige Vorboten des Herbstes, so wie die in den Gärten reifenden Äpfel und die leuchtend roten Hagebutten, welche nach und nach die Blüten der Heckenrosen ersetzen. Morgens ist Tumult in meinen Staudentöpfen: Spatzen forsten, randalierend in den Blättern, nach ungeernteten Johannisbeeren.
Auch die ersten Starenschwärme sind da; sie ballen sich in der Luft oder zeigen ihr irisierendes Gefieder auf vom Sommerregen satten Feldern.

Am Strand liegt eine alte Holzpalette; ein ärmliches Podest, auf das ich meine Sachen breite, aber heute, mit einer sanft brandenden See vor mir und nichts als dem Himmel über mir, ist es ein Thron.
Müde von einer mehrstündigen Wanderung strecke ich mich aus auf dem sonnenwarmen Holz und blicke in das Blau, auf dem Wolken treiben. Zarte Schleier nur, ab und zu ein kleines Flöckchen dazwischen; sie lösen sich auf, formieren sich neu, treiben weiter, verschwinden, entstehen. Ich frage mich, wie lange man das ansehen kann, ohne dabei in Trance zu fallen, und es beruhigt mich ebenso wie der regelmäßige Herzschlag des Meeres.

Es sind Momente berauschender Vollkommenheit. Ich erzähle dem Lieblingsmenschen davon, den Satz umschiffend: Ich wünschte, Du wärst hier. Glück wird größer, wenn man es teilt, genau wie Liebe. Das ist keine besonders schlaue Weisheit, aber so ist es. 
Und ich weiß, dass er denselben Himmel sieht, dort, wo er wohnt, wenn auch mit anderen Wolken. Wir teilen ja immerhin einen Planeten.
Nein, korrigiere ich mich. Wir teilen mehr. Er fühlt das auch.
Dann ist sie da, diese diffuse Sehnsucht, und ich weiß nicht, ob es Liebe ist, und wenn ja: welche Art davon. Man sollte ja meinen, in meinem Alter wüsste man irgendwann Bescheid darüber, aber das stimmt nicht, es ist immer wieder neu, es gibt keinen Konstruktionsplan dafür. Aber ich weiß, dass er mich glücklich macht, oder beginnen wir bescheidener: zufrieden. In mir ruhend. Er gibt und ich darf geben. Es liegt kein Nehmen darin, keine Gier. Und ich bete, dass uns das erhalten bleibt, dass die Trivia der Liebe einmal nicht Einzug halten mögen, dass wir verschont bleiben von Misstrauen, Eifersucht, ja sogar von jeder Form übermäßigen physischen Begehrens, denn so, wie es jetzt ist, liegt etwas Heiliges darin; eine mir bislang unbekannte Form von Reinheit.

Natürlich streift mich gelegentlich der Gedanke, wie er wäre, der Stillstand der Welt in seinen Armen. Wie es wäre, sein schönes Gesicht nicht nur mit Blicken zu berühren. Ich denke an sein jungenhaftes Lächeln, in dem so etwas Bescheidenes, nahezu Beschämtes liegt, das jeden Verdacht der Überheblichkeit von ihm nimmt. Seine Augen sind dunkel, klar und tief wie ein Waldsee, fern jeder Bedrohlichkeit. Kein morastiger Grund, kein undurchsichtiges Wurzelwerk, in dem man sich verfinge; nichts, das einen herabzöge in die Finsternis. Ich mag seinen Intellekt, seine Geduld und seine Güte. Seinen Humor und seine Ehrlichkeit. Ich denke an den Segen dieser sehr langsam, aber kontinuierlich gewachsenen Verbundenheit und dass es vielleicht gerade die Notwendigkeit eines gewissen Maßes an Distanz, an Mäßigung ist, die für uns Zukunft schafft. Alles andere liegt in Gottes Hand.
Ich setze den Weg fort, es wird kühl. Und doch schweige ich darüber, dass mich auf meiner Insel manchmal friert. Da, wo er wohnt, schlägt Regen an die Scheiben. Ich sehe ihn hinter alten Mauern. Mich umschließt das Meer.

Schwalben begleiten meinen Weg auf dem Rad nach Hause. Auch sie sind unaufdringliche Begleiter, schön und frei. Kamille blüht in Ackerfurchen, das Heu ist gemacht. Am Horizont, vor der Silhouette der Windräder auf dem Festland, gleitet ein hellbeleuchtetes Schiff. Es bleibt noch lange hell in diesen Tagen.
Der Sommer ist nicht vorbei.

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