Ich mag analoge Post. So sehr ich mich über E-Mails, Anrufe und Messenges lieber Mitmenschen auch freue, übertrifft doch wenig die Freude daran, einen „richtigen“ Brief, eine Postkarte oder ein liebevoll geschnürtes Päckchen in den Händen zu halten, das nur wenige Tage vorher noch in den Händen des geschätzten anderen war.
Ohne analoge Post würde ich von kaum einem meiner Freunde die Handschrift kennen. Da gibt es hingeworfene „Sauklauen“ wie meine oder akribisch gemalte Buchstaben; und auch alle Geschlechterklischees werden gern widerlegt: So hat ein Berliner Freund eine ausgemachte „Mädchenschrift“, überaus ordentlich, rund und harmonisch, während einige Freundinnen(w) jedes Apotheker(m)-Vorurteil erfüllen. Handschrift war in der Grundschule mein schlechtestes Fach; meine Schrift ist eine konzeptlose Ansammlung krakeliger Disharmonien, und oft kann ich sie selbst schon nach wenigen Minuten nicht mehr lesen, sodass ich einzelne Wörter im Notizbuch immer wieder durchstreichen und „ordentlicher“ überschreiben muss, was allerdings auch oft erst im zweiten oder dritten Anlauf gelingt. Mich ärgert das selbst, aber angesichts des Nachlassens der Feinmotorik mit dem Alter und mangelnder Übung im Mit-der-Hand-schreiben, kann ich diesbezüglich wohl wenig Besserung erwarten. Und, zugegeben: Die Erinnerung an die Grundschullehrerinnen-Schimpftiraden bezüglich meiner Sauklaue motivieren auch 40 Jahre später noch nicht unbedingt.
Da ich ansonsten eher pendantisch veranlagt bin und meine Wohnung mitnichten wie meine Handschrift aussieht, wäre ich indes vorsichtig, was Rückschlüsse aus der Schrift über den Charakter angeht. Tatsächlich erinnere ich aber einen Schweizer Verlag, bei dem ich eine Handschriftenprobe mit der Bewerbung einzureichen hatte — für ein graphologisches Gutachten. Freilich war das Anfang der Nullerjahre und ich bezweifle, dass das dort immer noch üblich ist; die Stelle bekam ich jedenfalls nicht.
Auf jeden Fall vermag auch die viehischste Schrift mir nicht die Freude an analoger Post verleiden; weder beim Senden noch beim Empfangen. Denn natürlich verschicke ich selbst gern schöne Dinge, Postkarten, Briefe und kleine Aufmerksamkeiten: Nur wenig schlägt die heimliche Vorfreude darüber, was der oder die Beschenkte wohl dazu sagen wird, und das Schönste ist, dass man diese Vorfreude die ganze Lieferzeit über auskosten kann. Bei Messenges, wo man die Antwort binnen Minuten erhält, ist das natürlich weniger ausgeprägt.
Das Faszinierende am Analogen, denke ich, ist wohl, dass einfach mehr Sinne daran beteiligt sind. So ein Paket zu öffnen, bietet schließlich eine ganze Menge haptischer, audiovisueller und sogar olfaktorischer Reize: Angefangen vom dezenten Zigaretten-Odeur, der noch im Seidenpapier des ketterauchenden Freundes festhängt, bis hin zum versehentlich hinterlassenen Tintenfingerabdruck eines anderen. Auch Lokalzeitungen aus der Heimatregion des Absenders als Paketpolsterung sind immer etwas Herzerwärmendes. Hinzu kommen die Geräusche des Aufschneidens und Kramens, des Entwirrens und Entfaltens und all die Gefühle dabei: Das glatte Klebeband, die grobe Papierwolle, die quietschenden Styroporflocken, die durch Reibungselektrizität an den Fingern haften bleiben. All das entfällt beim Öffnen einer E-Mail.
Die letzten Tage bekam ich überhaupt keine Post, nicht einmal Rechnungen, da ja sogar diese fast nur noch als PDF erhältlich sind — und zu deren Abrufen man sich dann 800 Passwörter für 900 Websites à 150 Zeichen merken muss. Eine Erleichterung für mich als Endkunden sehe ich hier nicht; sehr wohl aber die Portoersparnis für das Unternehmen. Auf jeden Fall machte mich die postlose Zeit so traurig, dass ich nicht nur über das besondere Vergnügen des Empfangens sinnierte, sondern auch über das Versenden. Und da fiel mein Blick auf den liturgischen Kalender.
„Jetzt bestellen!“ warb ein Zwischenblatt schon für die Ausgabe 2021; auf der Rückseite waren Linien eingedruckt, in die man die eigene Adresse eintragen konnte, um das Ganze dann im Umschlag zu verschicken. Natürlich: Man hätte vermutlich problemlos auch eine E-Mail-Bestelloption ergooglen können. Oder das Ganze per Telefon erledigen. Aber ich witterte meine Chance, etwas wunderbar Anachronistisches zu machen und bestellte den neuen Kalender per Post. Natürlich ist das, genau überlegt, ein Wahnsinn: Ökologisch wie ökonomisch. Man braucht einen Stift, einen Briefumschlag und eine 80-Cent-Marke. Das Postauto verbrät CO² auf dem Weg, und angekommen im Verlag muss irgendein armes Schwein den Umschlag öffnen, den Zettel hervorkramen, meine Sauklaue entziffern und die Adresse in den Computer tippen, damit der neue Kalender dann irgendwann vorm 31. Dezember den Weg nach Langeoog findet.
Ich erinnere, dass in einer der Werbeabteilungen, in denen ich früher gerabeitet hatte, eigens Praktikanten beschäftigt wurden, die 8 Stunden nichts anderes zu tun bekamen als Adressen auf Gewinnspiel-Postkarten abzutippen, obwohl es meist eh nicht wirklich etwas zu gewinnen gab oder die Gewinner aus Klüngelgründen bereits vorher feststanden. Dass die Praktikanten dabei nichts über Marketing lernten, außer, dass noch viel mehr Beschiss dabei ist, als man schon immer vermutet hatte, steht leider außer Frage. Und vermutlich gereicht die Möglichkeit zur Online-Teilnahme an Gewinnspielen heutigen PraktikantInnen sehr zum Vorteil.
Dennoch hatte das Ausfüllen des Kalender-Bestellzettels für mich etwas Besonderes: Es waren, wie auch beim Empfangen, fast alle Sinne beteiligt (hier sogar inklusive des Geschmacksinnes beim Anlecken der Briefmarke), und man hatte gleich doppelte Spannung: Kommt die Karte an? Und kommt auch der Kalender?
Zudem sind die Bestelloptionen auf so einem Zettel begrenzt, was auch vor Shopping-Exzessen schützt.
Im Internet hätte ich neben dem Kalender nämlich vermutlich noch Kerzen und Deko und Bücher und Rosenkränze gekauft — der Zettel indes sah genau eine Option vor: „Hiermit bestelle ich __ Exemplare ‚Liturgischer Kalender'“, mit oder ohne Rückwand, Unzutreffendes bitte streichen. That’s all.
Überdies wurden Kindheitserinnerungen wach: Plötzlich hatte ich wieder plastisch vor Augen, wie die ganze Familie früher am Esstisch über dem dicken OTTO-Katalog hockte. Der Bestellzettel dazu hatte vielleicht 15 Zeilen, und das war’s dann: Wenn voll, dann voll, während virtuelle Einkaufswägen bekanntlich das Fassungsvermögen eines Containerschiffes haben. Man musste sich also einschränken und seine Wahl weise treffen; nicht nur des Budgets wegen. Außerdem machte das Eintragen der ewig langen Artikelnummern, Farb- und Größencodes keinen Spaß, sodass auch dieser Punkt beim Zusammenreißen half. Danach verschickte man den Zettel mit der Post oder Muttern gab die Wünsche telefonisch durch; im Anschluss hieß es: Warten. 2-3 Wochen Lieferzeit juckten damals niemanden, während die Leute heute teils schon nach 48 Stunden eskalieren. Es war also nicht alles schlechter ohne Internet, wiewohl ich hier unumwunden zugebe, durchaus auch nostalgisch zu verklären. Auf einer Insel ist man ohne funktionierenden Online-Handel mitunter verloren. Wie sonst bekäme ich hier neue Möbel vor die Tür gestellt, Tinte für meinen Uralt-Drucker oder die von mir besonders begehrten internationalen Süßwaren, die man auf dem Festland maximal im KaDeWe, aber sicher nicht in Ostfriesland findet? Das Internet kann auch ein Segen sein.
Was persönliche Post angeht, möchte ich aber keinesfalls auf alles analoge verzichten, und gute FreundInnen wissen das. Umso mehr freute mich, als nach 3 postlosen Tagen gleich zwei schöne Briefe von den Lieben auf dem Kontinent eintrudelten — dazu eine Rechnung sowie ein Kreditangebot, das mir auf Papier sorgloses Online-Shopping versprach. Ich lehnte dankend ab.