Sommerahnung

Es ist Mitte Juni und ich bin das erste Mal in diesem Jahr im Meer. Mit den Füßen. Dass weniger verfrorene Naturen wie beispielsweise meine Freundin schon ganz drin waren: Geschenkt. Für mich war es bisher noch entschieden zu kalt, denn der Sommer ließ sich extrem viel Zeit in diesem Jahr — als hätte die Pandemie auch die Jahreszeiten zum Stillstand gebracht.
Dabei geht es in Sachen Pandemie sogar seit einiger Zeit wieder vorwärts, in positivem Sinne. Die Inzidenzwerte sinken erfreulich, der Tourismus läuft wieder an, das ganz große Chaos blieb dabei aus. Dennoch bedarf auch das wieder einer gewissen Eingewöhnung, nach sovielen Monaten der Stille, und zumindest auf den olfaktorischen Beitrag zur sommerlichen Wiederbelebung der Barkhausenstraße — einer Mischung aus Schweiß, Sonnencreme und Fischfrittierfett — hätte ich gerne ganz verzichtet.

Direkt am Flutsaum, wo ich nun auf Tuchfühlung mit der noch kühlen Nordsee gehe, sind Lärm und Menschengerüche zum Glück noch weit weg. Es ist noch verhältnismäßig früh am Morgen und es sind erst wenige Menschen unterwegs. 
Am Strandübergang bei der Kirche turnt eine Kinderkurgruppe. Die Rettungsschwimmer beziehen ihre bunten Wachhäuschen und rollen die Fahnen aus.
Hier im Westen der Insel riecht das Wasser noch ein wenig schlickig und ist von graubrauner Farbe. Die See steht ruhig, die Brandung umspielt gerade einmal meine Knöchel. Je weiter ich nach Osten laufe, desto mehr stellt sich ein Urlaubsgefühl ein. Der Untergrund wird weißer, das Meer blauer. Erste Familien stellen ihre Strandmuscheln auf. Kleine Kinder, um Längen mutiger als ich, rennen begeistert in die Fluten; wachsame Elternteile hintendran. Wie schön das wäre, denke ich, jetzt auch einfach zur Gänze hiersein zu dürfen. Mit Kopf und Herz. Ohne Termine. Ohne Haushalt. Ohne Verflichtungen und ohne Sorgen: Urlaub auf Langeoog. Einst gehörte ich hier auch zu den Touristen. Mit einem leisen Erschrecken stelle ich fest, dass die Erinnerung an diesen Zustand schon beinahe verblasst ist — in meinem achten Inseljahr.
Das Feriengefühl durchströmt mich nur wenige wohltuende Sekunden lang. Dann aber wird mir klar, dass ich, wie immer während der Saison, nur mit den Füßen im Wasser bin. Meine Gedanken sind längst bei all den noch unabgehakten Kästchen auf der To-Do-Liste, mein Herz indes unter dem Dach eines Hauses, das ich bereits vom Strandübergang sehen kann, auf den ich nun zusteuere. Die Freundin ist krank und schaut mit ihrem Schniefnäschen elend unter der Decke hervor. Durch ihre Südfenster knallt eine unbarmherzige Sonne, die am Strand noch so wunderschön gewesen war. Auch das gehört zum Inselalltag dazu: Man hat hier eben nicht nur gute Zeiten. Aber man leidet zweifelsohne in schöner Umgebung.

Später am Tage gehe ich noch einmal zum Strand. Jetzt feiert auch die kurze Hose Premiere, die bald ein Jahr im Souterrain meines Kleiderschrankes vergraben war. Ich errinere, dass in meiner Kindheit manche ältere Leute noch „Spielhosen“ zu Shorts sagten, weil es diesen Anglizismus damals einfach noch nicht gab. Spielhose. Ich muss schmunzeln; schließlich steckt nicht weniger als ein 45jähriger darin. Andererseits gefällt mir der Begriff, denn er verleiht meinem Strandoutfit erneut diesen wohltuenden Hauch sommerlicher Leichtigkeit.
Es ist voll geworden. Strandkörbe und Schaukeln sind besetzt; ein Meer farbenfroher Strandzelte zittert im Wind. Ich muss lange warten, bis der Plankenweg am Strandübergang frei für ein Foto ist; die Kolonne von Urlaubenden, die mir wie auf einer Rolltreppe entgegenbefördert wird, ist lang und reißt kaum ab. Möwen kreisen über der Szenerie, der Himmel ist leuchtend blau.
Lediglich ein paar weiße Wolkenschleier künden von der prognostizierten Rückkehr zur Kälte heute Nacht. Ich kehre bald wieder um.

Entlang der Wanderwege haben sich die Kartoffelrosen in vornehm-samtiges Bischofspurpur gekleidet. Ihr Duft webt sich durch die Dünentäler, und über allem liegt der Gesang der Lerchen. Unzählige der zierlichen Vögelchen sehe ich in die Lüfte steigen, und abends singt hier, verborgen in dichtem, dornigen Gestrüpp, die Nachtigall.

Es war ein seltsames Frühjahr, beinahe würde ich sagen: Der Frühling 2021 fiel auf der Insel aus. Klar: Es gab ein paar sonnige Tage. Es gab blühende Bäume. Es gab aprikosenfarbene Morgen, an denen die Luft erfüllt war vom Gesang der Schwarzkehlchen und eine Ahnung von Sommer mit dem Meer um die Wette glitzerte. Aber die meisten Tage war es kalt und grau, und wenn es nicht grau war, war es trotzdem kalt. Sogar dann, als der Rest der Republik (und angrenzende Länder) bereits bei weit über 25°C buk. Mit eingeschalteter Heizung und unter einem Berg Daunendecken schaute ich mir das Foto eines Freundes aus Österreich an: Er stand lachend am frischbefüllten Pool in seinem Garten und hielt eine Hand ins Wasser; Sommersprossen und erste Bräune im Gesicht. Ich freute mich für ihn; dennoch kam es mir vor, als befände er sich in einem Paralleluniversum.

Doch nun ist das große Frieren wohl fürs Erste vorbei. Der nächste Kälteeinbruch währt nur kurz und die Sonne wird unbeirrt vom Inselhimmel leuchten. Vergnügte Kinder werden sich in den Wellen tummeln, Genervte Radfahrende sich auf übervollen Straßen anblöken; vor den Fischbrötchenbuden und Eisdielen wird es lange Schlangen geben und gierige Möwen werden mit ebendiesen Leckereien kurzen Prozess machen. Ich werde vielleicht irgendwann bis zu den Knien ins Wasser gehen; irgendwann, in irgendeiner dem Alltag abgerungenen Stunde. Die Freundin wird wieder gesund und in ihrem neuen Badekleidchen schon weit rausgeschwommen sein. Ich werde die auf ihrer Haut glitzernden, aber eiskalten Wassertropfen ebenso fürchten wie wunderschön finden. Sand auf der Decke, Sand in den Haaren, Sand überall. Ein strahlendes Lachen, zu warme Getränke und wärmendes Glück. Für einen Moment werden wir dabei aussehen wie ganz normale Urlaubende. Und wenn wir Glück haben, fühlen wir uns sogar so.

Momentaufnahme, Grün

Der Sommer ist auf seinem Zenit angelangt. Noch nie sah ich die Wiesen und Deiche um diese Zeit in so einem satten Grün; und noch nie erstrahlte der Dünenbewuchs in so leuchtenden Farben. Die Kartoffelrosen blühen nach wie vor in tiefem, samtigen Purpur, obwohl zwischen den Blüten bereits erste feuerrote Früchte wachsen. Der viele Regen der letzten Wochen und die verhältnismäßig kühlen Temperaturen haben der Natur offenbar gut getan und sie in all ihrer Schönheit bis in den August konserviert. Während der Rest der Republik zeitweise gebacken wurde, schaffte es das Thermometer auf Langeoog kaum über 20°C. Da meine Wohnung keine Zustände zwischen Sauna und Gefrierschrank kennt, bin ich darüber nicht traurig: ich kann weder extreme Hitze noch Kälte besonders gut gebrauchen. Noch mehr als die Wohnqualität, die dieses Sommerwetter mit sich brachte, freut mich allerdings die kraftstrotzende Natur mit all den Pflanzen, die in diesem Jahr nicht verbrannten und verdursteten. Zwar hat Irland den Beinamen „Grüne Insel“ bereits für sich gepachtet, und auf den Ostfriesischen Inseln rühmt sich Spiekeroog damit (beides natürlich nicht zu Unrecht) — aber in diesem Jahr, denke ich, geht auch Langeoog als „Emerald Island“ durch.

„So grün habe ich die Insel noch nie gesehen“, sage ich, als wir staunend am Strand gen Ostende marschieren; den Blick auf den wogenden Strandhafer und das in unzähligen Farben strahlende Naturschutzgebiet gerichtet. „Ich auch nicht“, pflichtet mir die Freundin bei: „Im letzten Jahr war der Deich um diese Zeit ganz braun.“

Später bin ich noch einmal allein unterwegs. Erneut hat es zu regnen begonnen. Ich betrachte einen Blütenkelch, aus dem Tropfen kullern. Er war so schwer davon geworden, dass er sich unter dem Gewicht des Wassers neigte und seine Regenlast der Erde schenkte. Unweit davon laben sich ein paar Drosseln an leicht zugänglichem Gewürm: Auch ihnen gefällt der regensatte Boden, zweifelsohne.

Der Regen ist warm und weich auf der Haut und weder von Donnergrollen noch von übermäßiger Dunkelheit begleitet. Es liegt so gar nichts Furchteinflößendes darin: Nur Leben.
Natürlich weiß ich um die Verheerungen, die starke Regenfälle und Dauerregen mit sich bringen können. Ich weiß von Erdrutschen, Überschwemmungen, Leid und Tod. Und dennoch finde ich den Regen jetzt und hier einfach nur schön.

Ich fahre ein paar Meter weiter, an den Weiden entlang, die nun ebenfalls sattgrün sind. Ein paar Pferde stehen darauf; ihr Fell glänzt in der Sonne, die mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder durch die Wolken bricht.

Fast könnte man vergessen, was aktuell noch so los ist in der Welt, denke ich, und ein wenig plagt mich das schlechte Gewissen. Es fällt so leicht, sich auf Langeoog in einer eigenen Welt zu fühlen. Aber die Insel ist keine eigene Welt. Sie ist Niedersachsen, Deutschland, Europa. Auch Langeoog ist Pandemie.
Und wie surreal ist es, denke ich weiter, hier all dieses kraftstrotzende, pralle grüne Leben zu sehen, all das Schöne und Beständige — während der Alltag in weiten Teilen noch immer von einer Krankheit bestimmt wird?
Es ist ein eigenartiger Kontrast, einerseits. Andererseits: Ist nicht genau das der Lauf der Welt? Der ewige Kreislauf von Tod und Geburt, von Krankheit und Genesung? Braucht es nicht die Zeiten des Blühens und Kraftschöpfens, um Zeiten der Schwäche und des Welkens zu ertragen, und sei es nur, um währenddessen von den schönen Erinnerungen zu zehren?
Nun will ich nicht philosophieren; und freilich nützt es jemandem, bei dem in dieser Minute in irgendeiner staubigen Stadt COVID-19 ausbricht, absolut nichts, dass auf Langeoog das Deichgras gerade so schön grün ist. Aber mich bringt der Gedanke einmal mehr zu dem Schluss, dass nichts selbstverständlich ist. Kein Sommer, kein Regen. Und auch keine Gesundheit. Es ist ein Geschenk, all das noch haben zu dürfen. Ich wünsche es jedem.

Momentaufnahme, Kulisse

Es ist heiß dieser Tage. Seit Wochen brüllt die Sonne vom Himmel, und das Meer vor der Wohnungstür nützt mir auch gerade nichts, da ich die Insel für eine Weile verließ.
In der Stadt, in der ich mich nun befinde, prägt hanseatische Eleganz und preußisches Bürgertum bis heute das Straßenbild.
Die engen, kopfsteingepflasterten Gassen mit den schmalen, alten Häusern, den Kunstgalerien und kleinen Cafés atmen angesichts der Temperaturen zurzeit nahezu mediterranes Flair. Üppig blühende, uralte Rosenstöcke ranken an den Fassaden und tüpfeln die daruntersitzenden Menschen, ebenso wie den Gehweg, mit hübschen Schattenspielen.
Urlaubsleichtigkeit stellt sich ein, als ich mich vor ein kleines Restaurant setze. Die Stühle sind aus filigranem Geflecht, die Tische gusseisern mit karierten Tischdecken darauf. Nicht einmal die kleinen Steinzeuggefäße mit Lavendel- und Rosmarinsträußchen fehlen als florale Dekoration. Ich fühle mich wie in einem dieser französischen Filme, bei denen man die ganze Zeit heult und am Ende trotzdem glücklich rausgeht: Auf eigenartige Weise melancholisch und beschwingt zugleich.
Die Frauen, von ungeschminkter Eleganz, tragen in diesen Filmen weiße Blusen mit zarten Bändchen am Ausschnitt und Weidenkörbchen am Arm, die Männer Leinenhemden in Hellblau oder Weiß, dazu Chinos und Strohhüte, und auf den Gepäckträgern ihrer Fahrräder klemmt eine Zeitung oder ein Buch. Familienstreits werden immer beim Essen ausgetragen, aber noch viel mehr wird sich beim Essen versöhnt; unter Birnenbäumen vor blühenden Feldern oder niedrigen Steinmäuerchen.

Aus dem Efeu an der Regenrinne des Lokals zwitschern Spatzen; ein Schmetterling verirrt sich in dem Schattenspiel, das die Rosenranken aufs Trottoir zaubern, zartgelb wie das Zitronentörtchen neben meinem Espresso. Die Rosen duften. Es ist bis an die Schmerzgrenze romantisch. Zwangsläufig komme ich nicht umhin, an diesem Ort auch an den anderen zu denken, dem ein hellblaues Leinenhemd ganz wunderbar stünde, wenn er mir jetzt gegenüber säße.

Wäre es doch noch einmal wie früher, denke ich. Als seine großen, braunen Augen noch nicht ebenso krampfhaft wie kalt an mir vorbeisahen. Als sein Mund noch lächelte und dabei die weißen, eigenartig großen und quadratischen Zähne entblößte, anstatt sich despektierlich in irritierender Asymmetrie zu verziehen, die scharf konturierten Lippen verkniffen und von nahezu blutleerer Blässe. Wie in den Filmen hätte er auch so einen Strohhut auf, damit man die Tonsur nicht sähe, die er in seiner Eitelkeit ständig zu verbergen versucht, und nur ein Teil seiner dunkelblonden bis ergrauend braunen, störrischen Locken schaute unter der Krempe hervor. Ich indes verfiele am rotkariert bedeckten Tisch einmal mehr seinem Charme, seiner Eloquenz, seiner jungenhaften Kindlichkeit — noch Lichtjahre davon entfernt, diese als gänsehauterzeugend routinierte Manipulation, Selbstdarstellung und Unreife zu erkennen.

„Sei froh, dass du so ent-täuscht worden bist“, sagt mir eine Freundin, „das ist ein Segen“. Ich weiß, dass sie Recht hat, aber ich frage mich, ob das Wissen um die Wahrheit wirklich immer besser ist als das Leben mit einer schönen Lüge. Ich denke an seine großen, eher grob wirkenden Hände, die ich nie bemerkenswert fand, aber die ich nun trotzdem gerne auf dem karierten Tischtuch gegenüber sähe; die eine ein Weinglas haltend, die andere sein wortgewandtes Erzählen untermalend.
Ich erinnere mich, wie überraschend weich ich diese Hände fand, obwohl es nahelag, da dieser Mann nie körperlich arbeiten musste. Er lebt davon, andere mit Worten in seinen Bann zu schlagen: Manchmal für eine gute Sache, manchmal für das Gegenteil davon.

Es ist schön, hier alleine in der Sonnenwärme in diesem wundervollen Gässchen zu sitzen. Mir fehlt nichts, mir fehlt auch der Mann nicht wirklich — zumindest nicht der, den die Ent-Täuschung enthüllte. Aber mir fehlt das Gefühl aus der Zeit, als ich ihn für so anders hielt; als er für mich am Schönsten war, innen wie außen. Ich lege mich in die Erinnerung an diese Zeit wie in ein warmes, nach Orangenblüten, Lavendel und Pinienwald duftendes Schaumbad und wünschte, es würde nicht so schnell erkalten.

„Die Welt liebt einmal im Kreis“ sagte mir einst ein bereits vor Jahrzehnten Verflossener, aber mit diesem Spruch hatte er Recht. Denn oft ist es doch wirklich so, dass eine Liebe unerfüllt bleibt, weil der oder die Verehrte ebenfalls an unerwiderter Liebe zu einem oder einer Dritten leidet. Oder eine Liebe endet, weil der andere sich anderweitig verliebt, diese Person aber auch nicht, nur kurz oder nur eingeschränkt bekommen kann. Aber es tröstet auch nicht wirklich — geteiltes Leid ist hier keinesfalls halbes Leid — und noch weniger sollte man wohl der Gefahr erliegen, sich gegenseitig darüber trösten zu wollen, denn auch das würde nur weiteres Leid gebären: „Been there, done that“, um es Neudeutsch zu formulieren.

Am nächsten Abend bin ich erneut in dem Lokal, in Gesellschaft lieber Menschen, die sich ebenfalls für das filmreife Setting begeistern. Wir sitzen vor Gambas und Sardinen vom Grill, vor frisch gebackenem Brot und Schälchen mit Olivenöl und Aioli; die letzten Strahlen der inzwischen tiefstehenden Sonne dringen durch die eng verwinkelte Gasse und lassen den Wein wie Juwelen aufleuchten; selbst die Menschen wirken wie von goldenem Schein umkränzt. Hinter uns plätschert ein Brunnen. In der silbrigen Verspieltheit dieses Klanges rinnt endlich wieder die ersehnte Leichtigkeit ins Herz, und für einen Moment möchte ich gar nichts anderes mehr sein als ein Teil dieses perfekten Bühnenbildes. Ich trage sogar ein hellblaues Leinenhemd.

 

 

Momentaufnahme, Sommerwolken

Es gibt Tage, an denen mag ich sogar die kleinen Kreuzspinnen, welche an meinem Fahrradlenker ihre Netze bauen; die weniger intelligenten bauen die Netze in den Speichen. Noch winzige Vorboten des Herbstes, so wie die in den Gärten reifenden Äpfel und die leuchtend roten Hagebutten, welche nach und nach die Blüten der Heckenrosen ersetzen. Morgens ist Tumult in meinen Staudentöpfen: Spatzen forsten, randalierend in den Blättern, nach ungeernteten Johannisbeeren.
Auch die ersten Starenschwärme sind da; sie ballen sich in der Luft oder zeigen ihr irisierendes Gefieder auf vom Sommerregen satten Feldern.

Am Strand liegt eine alte Holzpalette; ein ärmliches Podest, auf das ich meine Sachen breite, aber heute, mit einer sanft brandenden See vor mir und nichts als dem Himmel über mir, ist es ein Thron.
Müde von einer mehrstündigen Wanderung strecke ich mich aus auf dem sonnenwarmen Holz und blicke in das Blau, auf dem Wolken treiben. Zarte Schleier nur, ab und zu ein kleines Flöckchen dazwischen; sie lösen sich auf, formieren sich neu, treiben weiter, verschwinden, entstehen. Ich frage mich, wie lange man das ansehen kann, ohne dabei in Trance zu fallen, und es beruhigt mich ebenso wie der regelmäßige Herzschlag des Meeres.

Es sind Momente berauschender Vollkommenheit. Ich erzähle dem Lieblingsmenschen davon, den Satz umschiffend: Ich wünschte, Du wärst hier. Glück wird größer, wenn man es teilt, genau wie Liebe. Das ist keine besonders schlaue Weisheit, aber so ist es. 
Und ich weiß, dass er denselben Himmel sieht, dort, wo er wohnt, wenn auch mit anderen Wolken. Wir teilen ja immerhin einen Planeten.
Nein, korrigiere ich mich. Wir teilen mehr. Er fühlt das auch.
Dann ist sie da, diese diffuse Sehnsucht, und ich weiß nicht, ob es Liebe ist, und wenn ja: welche Art davon. Man sollte ja meinen, in meinem Alter wüsste man irgendwann Bescheid darüber, aber das stimmt nicht, es ist immer wieder neu, es gibt keinen Konstruktionsplan dafür. Aber ich weiß, dass er mich glücklich macht, oder beginnen wir bescheidener: zufrieden. In mir ruhend. Er gibt und ich darf geben. Es liegt kein Nehmen darin, keine Gier. Und ich bete, dass uns das erhalten bleibt, dass die Trivia der Liebe einmal nicht Einzug halten mögen, dass wir verschont bleiben von Misstrauen, Eifersucht, ja sogar von jeder Form übermäßigen physischen Begehrens, denn so, wie es jetzt ist, liegt etwas Heiliges darin; eine mir bislang unbekannte Form von Reinheit.

Natürlich streift mich gelegentlich der Gedanke, wie er wäre, der Stillstand der Welt in seinen Armen. Wie es wäre, sein schönes Gesicht nicht nur mit Blicken zu berühren. Ich denke an sein jungenhaftes Lächeln, in dem so etwas Bescheidenes, nahezu Beschämtes liegt, das jeden Verdacht der Überheblichkeit von ihm nimmt. Seine Augen sind dunkel, klar und tief wie ein Waldsee, fern jeder Bedrohlichkeit. Kein morastiger Grund, kein undurchsichtiges Wurzelwerk, in dem man sich verfinge; nichts, das einen herabzöge in die Finsternis. Ich mag seinen Intellekt, seine Geduld und seine Güte. Seinen Humor und seine Ehrlichkeit. Ich denke an den Segen dieser sehr langsam, aber kontinuierlich gewachsenen Verbundenheit und dass es vielleicht gerade die Notwendigkeit eines gewissen Maßes an Distanz, an Mäßigung ist, die für uns Zukunft schafft. Alles andere liegt in Gottes Hand.
Ich setze den Weg fort, es wird kühl. Und doch schweige ich darüber, dass mich auf meiner Insel manchmal friert. Da, wo er wohnt, schlägt Regen an die Scheiben. Ich sehe ihn hinter alten Mauern. Mich umschließt das Meer.

Schwalben begleiten meinen Weg auf dem Rad nach Hause. Auch sie sind unaufdringliche Begleiter, schön und frei. Kamille blüht in Ackerfurchen, das Heu ist gemacht. Am Horizont, vor der Silhouette der Windräder auf dem Festland, gleitet ein hellbeleuchtetes Schiff. Es bleibt noch lange hell in diesen Tagen.
Der Sommer ist nicht vorbei.

DSCI0016