Schwarzweiß

Nach einem Telefonat mit einem Freund trete ich auf den Balkon. Mich empfängt eine tiefschwarze, klare Neumondnacht. Ich richte den Blick nach oben: Das Sternenmeer ist gewaltig. Nach und nach identifiziere ich alle mir bekannten Gestirne, die aus Myriaden weiterer strahlen; die trockene Herbstluft verstärkt ihr Funkeln. Das Band der Milchstraße webt sich in die Dunkelheit dieser Zeit wie ein Versprechen. Es werden hellere Zeiten kommen. Es wird Licht.

Ich denke zurück an den Freund. Er war sehr wütend am Telefon; nicht auf mich, dem Herrn sei es gedankt, und der Grund seiner Wut war auch auch nachvollziehbar. Dennoch schmerzte es, ihn so zu erleben, so dermaßen außer sich, und ich wünschte, ich hätte ihn herholen können, um ihn den Himmel zu zeigen. Diesen Himmel.

Wenn man am Tage den Langeooger Himmel betrachtet, kann man gut nachvollziehen, warum die Menschen früher dachten, die Erde sei eine Scheibe: Wolken, deren Unterseite so platt wie das Land wirkt, treiben über endlos weite Landschaft und auch das Meer erstreckt sich, soweit das Auge reicht. In der Nacht aber wird das anders.
Die gewaltige, lackschwarze Kuppel des Langeooger Nachthimmels ist gigantisch; ihr Hineinragen in die Unendlichkeit des Alls nahezu greifbar — und die Winzigkeit der Erdkugel inmitten des Universums ist es auch. Der Anblick des nächtlichen Inselhimmels erdet ebensosehr, wie er die Sehnsucht nach dem Unbekannten nährt: Er ist ein noch immer unbegreifliches Wunder, denn ähnlich viele Geheimnisse wie das All birgt vermutlich nur noch die Tiefsee.
Welche zwischenmenschliche Unappetitlichkeit sollte angesichts solcher Pracht denn nicht irrelevant werden?
Mich beruhigt ein solcher Himmel binnen Sekunden und ich hoffe, dem Freund ginge es auch so.

Mag man sich auf der Insel zu Pandemie-Zeiten auch manchmal eingeschlossen fühlen, so ist es doch der Himmel, der uns immer wieder daran erinnert, miteinander verbunden zu sein, und das meine ich nicht einmal in religiösem Kontext. Die Atmosphäre, die alles auf dieser kleinen rotierenden (präziser: eiernden) Kugel im All am Platz hält, umgibt uns alle gleichermaßen: Die Familie eines anderen lieben Freundes in Neuseeland ebenso wie Menschen in Grönland, die Schildkröten auf Galapagos oder die Möwen auf Langeoog. Wir haben nur das hier. Und wir haben auch nur uns, sofern nicht eines Tages doch noch E.T. vor der Tür steht und sich ein Smartphone ausleihen möchte.

Zugleich frage ich mich, ob einen dieser Gedanke jetzt einsam machen sollte. Denn sympathischer wird mir die Menschheit in diesen überemotionalisierten Zeiten nicht und mehr als einmal verfluchte ich schon den Tag, an dem ich anfing, im Internet Kommentare zu lesen.

Aber es nützt ja nichts. Wir haben nur uns, und so muss man dort Zuflucht suchen, wo man sich noch einigermaßen sicher fühlt vor dem Wahnsinn: In der Kirche, in seinem Zuhause, in der Natur oder einfach in seinen Erinnerungen.

Ich erinnere mich. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich dachte, dass ein Wiedersehen mit Freunden im Ausland nur eine Frage von Geld und Urlaubstagen sei. Ich erinnere mich, dass ich ein Wiedersehen für sicher hielt, sobald es die Umstände erlauben. Und nun ist da noch ein Virus; sind da geschlossene oder immer-mal-wieder geschlossene Grenzen; ist da die Gefahr, dass man nach Österreich oder Schweden zwar noch hinein-, aber nicht mehr hinauskommt.

Selbstverständlich sind diese Maßnahmen alle nötig und man reißt sich auch gerne am Riemen, wenn man damit Mitmenschen vor Leid und Tod bewahren kann. Dass das immer leicht fällt, heißt es indes nicht.

Ich krame eines meiner Lieblingsfotos von dem Freund heraus, das ich bei unserem letzten Zusammentreffen machte. Es zeigt ihn nur von hinten, er trägt eine Papiertüte, die zufällig farblich mit seiner Kleidung korrespondiert, und läuft auf eine kleine Kirche zu, deren barocke Zwiebelkuppel über winterkahle Baumwipfel ragt. Ihre Turmfenster sind freundliche, schläfrige Augen.
Das Bild strahlt viel Frieden aus und hat etwas wunderbar Aus-der-Zeit-Gefallenes. Ich erinnere mich gerne an den Tag der Aufnahme; wir hatten die Papiertüte in einem kleinen Kunsthandelsgeschäft bekommen, sie enthielt ein paar schöne Andenken. In der Kirche beteten wir für unsere Familien; auf dem Weg dorthin ließ ich mich unauffällig zurückfallen, damit ich den Freund unbemerkt fotografieren konnte: Gestellte Fotos mag ich nicht.

Ich hatte das Foto damals in Schwarzweiß gesetzt, um das Zeitlose und die Kontraste der Winterlandschaft zu betonen, doch nun hat das Schwarzweiß etwas Bitteres. Ich arbeite ansonsten wenig mit Schwarzweiß; fast alle anderen Schwarzweißfotos in meiner Wohnung stammen aus früheren Jahrzehnten und zeigen Menschen, die nicht mehr leben: Meine Großeltern, einen Urgroßonkel, Schnauzer „Struppi“, den mein Vater als Kind hielt. Ein Foto von 1929 zeigt die Straße vor unserem Berliner Haus. Die heute mächtigen Eichen sind auf dem Bild noch zarte Bäumchen; auf dem Kopfsteinpflaster dampfen Pferdeäpfel. Heute sieht man das Kopfsteinpflaster nur noch durch ein paar Löcher in der schlampig geteerten Asphaltdecke; darauf parken SUV vor klobigen Neubauten, deren Besitzer sich jeden Herbst über die Spuren der fallenden Eicheln im Autolack beklagen. Unser Gründerzeithaus hält dazwischen die Stellung, und ich hoffe, das es dort noch viele Jahrzehnte überdauert: Dinge mit Bestand sind mir Fixsterne in einer sich viel zu schnell drehenden Welt.

Das Foto mit dem Freund und der Kirche ist noch kein Jahr alt, aber nun erinnert mich seine Farbgebung umso deutlicher daran, dass es im Grunde ebenfalls aus einem anderen Zeitalter stammt. Aus der Prä-Pandemie-Ära. Als es noch selbstverständlich war, Freunden zur Begrüßung die Hand zu geben, nachdem man aus einem überfüllten Zug gestiegen war — an der Landesgrenze gänzlich unbehelligt — und froh war, endlich klare, niederösterreichische Winterluft zu atmen. Vorbei.

An einem Haken neben der Tür baumelt ein Mundschutz mit dem Werbeaufdruck des Klosters, das ich damals besuchte. Denn auch vor dessen heiligen Hallen machte der Virus nicht halt.

Der Sternenhimmel hat nichts an Pracht eingebüßt als ich, aus der Gedankenversunkenheit erwacht, das nächste Mal nach oben blicke.

Momentaufnahme, Lichtpunkte

Niemand hat die mystische Stimmung im Wattenmeer mit all dem Leben darin wohl schöner beschrieben als Theodor Storm in seinem Gedicht „Meeresstrand“, von dem hier nur zwei Strophen wiedergegeben werden sollen:

„Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer

Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton
Einsames Vogelrufen —
So war es immer schon.“

(Th. Storm, 1817-1888)

All die geheimnisvollen Laute, das Brodeln, Zischen und Flüstern verwandeln Watt und Salzwiese schon am Tage in eine Wunderwelt — für den, der innehält. Wo anfangs nichts als Stille zu sein scheint; nichts, als endlose Weite von wogendem Gras, Strandnelken und der glänzenden graubraunen Schlickflächen, zeigt sich dem Wandernden schnell die ganze Fülle der Schöpfung.
Wie sehr aber potenziert sich dieses Erleben erst bei Nacht?

Ich war noch nie nachts im Watt, als nicht-lebensmüder Mensch ohne kompetente Begleitung sollte man das auch tunlichst unterlassen, aber bereits ein später Abendspaziergang entlang des alten Sommerdeiches zeigt, was dieses erstaunliche Stück Natur erst im Dunkeln offenbart.

Viele Menschen haben Angst im Dunkeln: Vor allem Kinder, aber auch noch viele Erwachsene. Evolutionär erklärt sich das leicht. Der Mensch sieht im Dunkeln schlecht und ist insbesondere im Schlaf hilflos. Umso mehr schärft die Nacht dann die anderen Sinne, damit man dennoch zügig vor Gefahr gewarnt ist. Und so kommt es, dass einige beim kleinsten Geräusch, das sie tagsüber nicht bedrohlich fänden oder bei einem fremden Geruch, den sie im Hellen nicht einmal wahrnähmen, aufschrecken: Manchmal sogar in Panik.
Hinzu kommen die Geräusche der nachtaktiven Tiere: Der Schrei einer Eule. Das Flügelschlagen umherflitzender Fledermäuse. Und wer jemals einen Fuchs nachts schreien hörte, weiß, was wirklich gruselig ist.
Auch der Wind, der das leichte Holz der Holunderbüsche zum Knarren und Seufzen bringt, kann mitunter unheimlich klingen, ebenso wie der Gardinensaum, den ein Luftzug über den Boden schleift.

Wie beruhigend ist es dann, dass die Nacht auch Phänomene kennt, welche die Dunkelheit erträglicher machen und im Wortsinne Lichtpunkte setzen, die uns Halt und Orientierung geben.
„Der Mond ist aufgegangen / die goldnen Sternlein prangen / am Himmel klar und schön.“ — Wer kennt es nicht, dieses wunderbare Wiegenlied von Matthias Claudius (1740-1815)? Ich erinnere, dass ich als Kind eine Spieluhr hatte, in Form eines Plüschmondes. Sie spielte dieses Lied, und ich liebte sie sehr.

Kultur- und Epochenübergreifend liebten die Menschen Mond und Sterne, teils fürchteten sie diese aber auch: Vor allem den Vollmond, der in den Legenden so allerlei dämonische Kreatur zum Leben erweckte und Menschen in den Wahnsinn trieb. Fast alle Kulturen kannten Mondgottheiten, die sie verehrten: Vor allem für Fruchtbarkeit und gute Ernten, denn in den meisten Sprachräumen ist der Mond weiblich konnotiert. Viele Jahrtausende lang bestimmte der Mondkalender die Zeit.

Auch auf Langeoog kann man sich der Faszination „Vollmond“ kaum entziehen. Oft erscheint er hier sehr hell und riesig, sodass die ganze Landschaft wie in ein Silberbad getaucht wirkt. Bäume und Dünengras werfen ihre nachtblauen Schatten in die Stille, während die Windräder auf dem Festland gegenüber rot in den Himmel blinken.

Der Neumondhimmel auf Langeoog dagegen ist, fern jeder Lichtverschmutzung, tintenschwarz. Umso prächtiger sieht man dann dort die Sterne.
Ich denke an einen Menschen, der mir sehr lieb geworden ist. Sein Gesicht zieren viele kleine Leberflecke. Ich weiß nicht, ob sie ihn stören, aber ich finde diese Flecken schön, denn auch sie erinnern mich an den Sternenhimmel. Sofern ich den Blick von seinen klugen Augen abwenden kann, sehe ich mir gerne jeden einzelnen davon an. Manchmal verbinde ich sie dabei zu imaginären Sternbildern: Von der Nase über seine schmalen Wangen bis zum Ohr und hinab zu den schönen, weich konturierten Lippen. Sogar am unteren Wimpernkranz hat er ein solches Pigmentmal, das einer Träne ähnelt und ihm immer etwas Melancholisches verleiht, obwohl er oft lächelt. Und wenn er lacht, tanzen die Sterne.
Ich sehe ihn vor mir, in seinem Garten neben einem uralten Rosenstock, und denke, dass beide so etwas Schönes, Ewiges und Stilles an sich haben: Der beharrlich blühende Rosenstock, dieser Mann mit seiner sanften Intellektualität — und auch unser Wattenmeer.

„Du bist wie Watt und Salzwiese“ ist wohl nichts, was man sofort als Kompliment einstufen würde, aber bei mir ist es das. Und „Du bist wie der Himmel über dem Watt bei Nacht“ wäre dann wohl die Steigerungsform davon.

 

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