Momentaufnahme, Versuch

Der HERR macht es einem leicht mit dem Fasten und Büßen dieser Tage. Was Ersteres angeht, so verdirbt mir ein hartnäckiger Infekt ohnehin seit Wochen den Appetit, und in Bezug auf Letzteres hilft das Wetter. Es ist der Vorabend des ersten Fastensonntags, und ich quäle mich auf einem sterbenden Rad Richtung Kirche. Ständig springt der Gang raus; seitlich angreifende Windstöße lassen mich hin- und herschwanken wie in der Takelage eines Großseglers. Streckenweise komme ich keinen Millimeter voran, sodass ich absteigen und schieben muss. Überflüssig zu erwähnen, dass es dabei auch noch regnet — Wenn der Himmel zürnt, gibt’s keine halben Sachen.
Nach einem Eindruck ewiger Höllenstrafen schließt das Sünderlein sein Fahrrad vor St. Nikolaus ab.
Drinnen gibt es kein Weihwasser. Zwar ist noch kein Karfreitag, aber derzeit hat ein neuartiger Virus die Welt im Griff; die Diözesen empfehlen entsprechende Vorsichtsmaßnahmen. Die anstrengende Fahrradttour hat einen leichten Asthma-Anfall bei mir ausgelöst; mein Husten ist mir peinlich, denn es macht mich als potentielle Virenschleuder verdächtig, was dank der medial befeuerten Massenpanik dieser Tage dem Leibhaftigen gleichkommt. Um diesen wiederum geht es in der Predigt, und der Priester erzählt einiges Bemerkenswertes dazu. Dass Sünde auch aus Dingen entspringen kann, die eigentlich etwas Gutes seien. Dass der Teufel menschliche Grundbedürfnisse nach Sicherheit, Geborgenheit, Aufmerksamkeit, Nähe oder dem Stillen von Hunger nutzt, um zu Dingen verführen, die das eigentlich Natürliche, Gute, Gottgewollte in Sünde verkehren: Zu Gier, Maßlosigkeit, Machtmissbrauch, Triebhaftigkeit, Hass und Hysterie als Folge des Gefühls einer wie auch immer gearteten Bedrohung und so weiter. 
Eine für mich sehr nachvollziehbare Sache, über die ich in dieser Form bislang dennoch nicht nachgedacht habe.

Dabei waren der Versuchungen reichlich im noch jungen Jahr. „Ich bin ein Sünder“, sagt sogar der Papst von sich, und wo soll ich dann erst anfangen.
 Bei dem Wort „Verführung“ denkt man ja immer schnell, dass der oder die Verführende „Schuld“ ist, wobei mit „VerführerIn“ hier ein Mensch gemeint sein soll und nicht der oft „Versucher“ oder „Verführer“ genannte Teufel, der ja nun zweifelsohne immer Schuld ist. Nun will ich aber nicht abschweifen; auf jeden Fall sinnierte ich viel über diese Begriffe dieser Tage und stellte mir unter anderem die Frage, ob die aktive Verführung tatsächlich immer schlimmer ist als das passive Erliegen ebendieser. Ist es mit dem TäterIn/Opfer-Konstrukt wirklich immer so einfach? Passen diese Begriffe überhaupt, vorausgesetzt natürlich, es handelt sich um einwilligungsfähige Erwachsene ohne vorliegendes Machtgefälle? (Von Missbrauch reden wir hier nicht!)
— Ich kam zu dem Schluss, dass in einigen Fällen das Fehlen eines „Neins“ zur Versuchung wohl wirklich die größere Sünde wäre als das Anbieten der Option zum Sündigen. Vor allem, wenn Letzteres nicht der Eitelkeit oder profaner Notgeilheit entspringt, sondern ehrlicher Zuneigung und überdies einer Lebenswelt, in der katholische Sexualmoral schlicht keine Rolle spielt.

„Dein Wort sei Ja oder Nein“ steht so in der Bibel, hat sich aber wohl auch unter kirchenfernen Menschen üblicherweise als Tugend durchgesetzt. „I hob mi bemüht / oba es gibt kan Kompromiss / Zwischn ehrlich sein und link / A wann’s no so afoch ausschaut / A wann’s no so üblich is“ wienert sich Wolfgang Ambros durch das Lied „I glaub, i geh jetzt“, und damit hat der Mann auch „afoch“ mal Recht, selbst wenn mir der Song ansonsten zu selbstmörderisch ist.
Aber ich wollte ja nicht abschweifen. Nehmen wir also den Fall, dass ein zweifelsohne attraktives Mitwesen einem offenkundig, wenn auch unverständlicherweise, aufrichtige Gefühle entgegenbringt, die man tatsächlich auch bis zu einem gewissen Grad zu erwidern in der Lage wäre. Aber eben nicht über diesen Grad hinaus, weil man vor Gott und Kirche mal etwas versprochen hat, weil man auch in vorkatholischen Zeiten wusste, zu welchem Preis man eine bestimmte Lebensentscheidung trifft und weil „Teile der Antwort die Menschen verunsichern könnten“. (Die Zweckentfremdung des Bundesinnenminister-Zitats sei mir an dieser Stelle erlaubt.)
Kann man diesem zweifelsohne liebenwerten Mitmenschen dann trotzdem Hoffnungen machen aufgrund des eigenen Geschmeicheltseins von den Avanchen, aufgrund kurzfristiger hormoneller Anwandlungen, aufgrund einer diffusen Sehnsucht nach Nähe, die auch meine ansonsten panische Angst vor ebensolcher nicht immer zu unterdrücken vermag? Kann man wollen, dass diese Person Zeit, Energie, Gefühl, schlimmstenfalls sogar Liebe in einen investiert und ihr damit womöglich die besten Jahre, ihre Schönheit und Jugend rauben?
— Meine Antwort sei Nein.
Kann man aber zugleich wollen, dass dieses Nein für Unverständnis sorgt, für Herzeleid, Tränchen gar, für den nicht ganz abwegigen Vorwurf, man würde mit Gefühlen spielen und wisse nicht, was man wolle? Es schmerzt, diese Entscheidung treffen zu müssen, mit dem Wissen, dass das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Dass das kleine Leid hier aber wohl großes zu verhindern hilft. Und so sei die Antwort Ja.
Es gibt keinen Kompromiss zwischen ehrlich sein und link.

Wobei selbst das mit der Ehrlichkeit nicht immer einfach ist, zumindest in Bezug auf Detailfragen. „Es kann auch zur Sünde werden, Menschen mit Dingen zu konfrontieren, mit denen man sie überfordert“, sagte mir einst ein Beichtvater. Nicht jede Wahrheit braucht also einen Mutigen, der sie ausspricht — um mal einen alten Werbespruch der BILD zu zerlegen, die zum Thema „Wahrheit“ ohnehin eher die Fresse halten sollte. Und so hofft man, dass die liebende Person auch ohne Kenntnis sämtlicher Beweggründe alsbald vergisst, was nicht hat sein sollen und jemanden findet, der in ihr Leben passt und dieses bereichert, anstatt es zu verkomplizieren. Der Ball des „Nicht-Sündigens“ liegt hier in meinem Feld, egal, wer „angefangen“ hat. Ich werfe ihn ungern. Aber ich muss.

wetter6Juni201805

Momentaufnahme, Allein

Es ist ein einsamer Moment, wenn man erkennt, dass ein Freund kein Freund mehr ist. Vor einem liegt noch das Bilderbuch sonniger Tage ausgebreitet, alles ist warm, vertraut und schön. Das geteilte Leid, der gemeinsame Zorn, die Freude am Glück des anderen, der Stolz auf dessen Erfolge. Das verständnisvolle Lächeln, wenn er über die Strenge schlug, die Nachsicht und das Vergeben, wenn er Mist machte. Das warme, befreiende Gefühl, wenn auch er vergab. Wenn er einem Kritik nicht nur nicht krumm nahm, sondern sich sogar dafür dankbar zeigte. All das war so lange so selbstverständlich, so einfach. Nie hätte man gedacht, dass es so trostlos enden würde.

Wir hatten doch für alles Worte, denke ich, warum dann nicht für uns selbst? 
Verdient nicht auch eine Freundschaft irgendeine Form von „Schlussmachen“, mit der sich eben genau das machen lässt: Nämlich Schluss? Schluss mit Grübeln, Nachdenken, dem Drehen und Wenden von Erinnerungen. 
Was, in all den Jahren, war nun Lüge, was war Wahrheit? Früher hätte sich diese Frage gar nicht gestellt. Ich war sein Freund, weil ich glaubte, was er sagte.

Und dann steht man da und weiß plötzlich gar nichts mehr. Und es ist nicht einmal die physische Abwesenheit, die nach einem solchen Nicht-Ende am meisten schmerzt. Vielmehr ist mit dem erklärungslosen Verschwinden plötzlich alles in Frage gestellt, weil mit diesem kalten und einsamen Ausblutenlassen der Freundschaft plötzlich auch die Erinnerungen davonfließen, und alles, was man über den anderen zu wissen glaubte. Das Vermissen ist grässlich.

Plötzlich lodert Wut. Über die Chuzpe, mit der er diese Schneise der Verwüstung in den sorgsam gehegten, schönen, dichten Wald unserer Verbundenheit fräste; wie er quasi im Vorbeigehen Geborgenheit und Vertrauen in Trümmer legte, als wischte man Krümel vom Tischtuch. Und was, tobe ich innerlich, macht diesen Menschen eigentlich so sicher, dass ich mich nicht für diesen schnöden Abgang räche?
Die Antwort ist so schlicht wie endgültig: Weil ich sowas nicht mache. Weil für mich Denunzieren das Hinterallerletzte ist. Und weil er das weiß.
Für eine Sekunde bringt das das warme Gefühl der Verbundenheit zurück: Er kennt mich eben doch.

Aber ich könnte, oh wie ich könnte! Schau — in erneutem Aufwallen von Rage fliegen die Finger über die Tasten: Unwürdig. Unreif. Unchristlich. Unverschämt. Unbeherrscht, unverfroren, un-, un-, un- — Nein!
Ungeschehen. Das ist doch eigentlich alles, was ich will. Mach es ungeschehen. Alles auf Anfang. Dorthin, wo der Weg sich gabelte.

Komm zurück.
Mit der Delete-Taste gebe ich dem Blatt seine Unschuld zurück, während ich zusehe, wie sich die Zeilen rückwärts selbst fressen: Undone. Auf facebook kreist der Finger über „Unfriend“; ein entsetzliches neues Verb, dass es dieses Jahr sogar in den Duden schaffte: Entfreunden. 
Aber ich kann es nicht. Und ich will auch nicht.
Ich bin dein Freund.

„Ich will diesen Zorn nicht. Ich will der Sünde des Zorns nicht anheimfallen!“
Der Beichtvater nickt. „Der Zorn ist menschlich“, sagt er. „Auch die Rachephantasien. Ich habe sowas auch manchmal“, sagt der Mann, der müde an seiner Stola zupft und so gar nichts von einem Choleriker hat. „Jeder hat das. Beten Sie, wenn sie in dieses Gefühl fallen“, sagt er, „lesen Sie die Psalmen.“ „Ich hab ja nichts umgesetzt“, ergänze ich leise. „Dann sehe ich keine Sünde“, sagt der Pater. Plötzlich kommt es mir dumm vor, damit zur Beichte gegangen zu sein. Und den Einleitungssatz mit der Reue und Demut hatte ich auch vergessen.
„War’s das?“ fragt der Geistliche schließlich, schon halb von seinem Platz erhoben, als stünde ich in der Bäckerschlange und hätte nicht soeben das Elends-Scrabble meines Herzens vor ihn auf den Tisch geleert. „Glaub schon“, sage ich, während ich die Rippen der Heizung fixiere. 
Er spricht mich los und ich bin wieder allein mit alledem.
In der Kirche verspricht das schwachrot flackernde Licht die Anwesenheit Gottes. An der Westwand leidet der Heiland an seinem Kreuz.
Es tut weh.

 

14SEpt183

Momentaufnahme, Beseelt

Es ist eine helle Nacht, der Mond ist fast voll. Wenn die „fertige“ Seite die Form eines altdeutschen, kleinen „z“ hat, so ist er zunehmend, lernte ich einst; hat sie dagegen die Form eines kleinen, alttdeutschen „a“, so nimmt er ab. Ich schwinge mit Blicken ein „z“ in die Luft: Er nimmt zu. Ein, zwei Tage noch, dann ist Vollmond. In Verbindung mit starkem Wind eine gefährliche Zeit für das Leben an der See: Sturmfluten drohen.

Sechs Meter misst bereits die Abbruchkante an meinem Hausstrand, sodass ich den mir nächstgelegenen Strandübergang im Moment gar nicht mehr nutzen kann, die Natur hatte hier andere Pläne.

Plötzliche Abbrüche, welche existenzbedrohend sein können: Gibt es das nicht in jedem Leben? Scheidungen, Krankheiten, Arbeitslosigkeit, tragische Unfälle, für welche keine Versicherung einspringt?

Und was machen wir dann? Nun. Entweder springen wir die Abbruchkante hinunter. Dann sind wir tot oder vegetieren. Oder wir schütten das Ganze hastig zu. Dann ist es nicht stabil. Oder wir gehen besonnen an die Sache: Lassen uns helfen. Hören uns andere Meinungen an und lernen gerne dazu oder denken um, lassen uns aber nichts ein- oder ausreden. Lassen uns keine Märchen erzählen, im Sinne von: Da ist doch nichts, geh nur weiter, mach jetzt keinen Aufstand!
Nein, wir halten uns an Menschen, die uns sagen: Doch, das ist Scheiße. Das ist gefährlich. Aber wir ärgern uns jetzt zusammen darüber. Und dann finden wir auch zusammen da raus. Denn wir wissen: Keiner lässt den anderen los, wenn er noch etwas näher an die Kante kriecht, um den Schaden zu begutachten; um sich das anzusehen, was der Abbruch freigelegt hat. Manchmal ist das kein schöner Anblick. Manchmal ist es ein heilsamer. Aber immer ist es notwendig, sich die Trümmer anzusehen, damit wir sie neu ordnen, ebnen, und wieder darauf aufbauen können. Und es ist schön, wenn man das nicht allein tun muss. Wenn man Vertrauen haben kann: In seine Freunde. In Gott.

Nun höre ich meine atheistischen Freunde leise aufjaulen im Geiste, aber ich muss jetzt kurz über Gott sprechen; ich kann nicht umhin, dass dieses Thema in mir, einem recht christlich sozialisierten Wesen, das sich allzu lange gegen die Vorstellung einer höheren Macht wehrte, doch auf irgendeine Weise präsent ist. Und ich habe gesehen, dass Gott wirkt.
Ich wäre nicht selbst Ewigkeiten Atheist gewesen, wenn ich mich durch diese Erfahrung jetzt nur noch auf Gottes Fügung verließe und mich passiv in jedes Schicksal ergäbe, nein, dafür habe ich im Leben schon viel zu oft gekämpft. Ich bin wahrlich kein Gustav Gans gewesen. Aber viel zu oft habe ich dabei eben auch eine helfende Hand übersehen, die mich stützte, barg und aufrichtete: SEINE Hand. Manchmal kam sie in Form eines kluges Buches daher. In Form meiner Eltern. In Form eines Freundes. In Form irgendeines kleinen, für andere womöglich irrelevanten Ereignisses, das mich klar erkennen ließ: Es geht weiter. Ich war, und das weiß ich heute sicher, an keinem Punkt meines Lebens allein, auch wenn es für viele so aussah. Auch wenn es sich aus meiner damaligen Sicht oft so anfühlte. Aber dem war nicht so.

Und erst heute weiß ich, dass das, was mir früher über Gott, über den Glauben erzählt wurde, eigentlich immer nur die Sicht anderer Leute auf Gott war sowie deren eigene, urpersönliche Art zu glauben. Im Falle der Berufskleriker_innen in meiner Familie und der Religionslehrer_innen in der Schule war das zwar durchaus wissenschaftlich-theologisch untermauert, aber befähigt einen ein Bibelstudium denn automatisch zur einzig wahren Erkenntnis? Wenn dem so ist, will ich auch heute nicht gläubig sein. Denn in deren Gottes- und Glaubensbild kam jemand wie ich nicht vor. Schlimmer noch: Ein Gott, wie er mir früher vermittelt wurde und wie ihn die Kirche vielerorts immer noch vermittelt, hasst mich. Widernatürlich, Auflehnung gegen die Schöpfung, ein menschgewordener Sündenpfuhl: Das ist nicht Gottes Werk. „Du hast keine Fehler, du bist einer!“ „Jemand wie du ist von Gott nicht gewollt.“

Doch.
Und ja, Vater, ich habe gesündigt. Aus Gründen der Diskretion gehe ich jetzt nicht ins Detail, aber die Liste ist lang, und nicht alles davon kann man heilen, aber dennoch weiß ich heute, dass Gott auch das vergibt: Wirklich vergibt. Wir haben alle eine Chance auf einen Neuanfang. In meinem Falle: Sogar auf sehr viele.

Aber das Predigen sollte ich Profis überlassen.
Und so laufe ich durch die sturmverwaisten Straßen, den Kampf mit der Kapuze gegen den Wind habe ich längst aufgegeben, und wiege die Worte eines liebgewonnenen Freundes im Herzen: Dass Gott mit manchen Menschen eben besondere Pläne hat. Das Gott mich genauso wollte, wie ich bin. Wie ich jetzt bin. Dass mein Weg keine Sünde war, sondern auch SEIN Weg. Dass ich kein Paria bin, nur, weil ich heute ich selbst bin. Im Gegenteil. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ heißt es in der Bibel, „und zu oft vernachlässigen wir dabei den zweiten Teil“, ergänzt der Freund. So betrachtet (dies zumindest ist meine Laien-Interpretation) führt uns der Weg zu uns selbst also eher zu Gott, als dass er uns von ihm fortbrächte ― Das hatte ich jahrelang anders betrachtet. Ich sündige, ja. Aber ich bin keine Sünde. Ich bin Teil der Schöpfung, SEINER Schöpfung, nicht meiner. So wie jeder andere Mensch auch. Die Natur macht Fehler: Gott nicht.
Jetzt einen Freund in Freud und Leid an meiner Seite zu wissen, der mir in so vielerlei Hinsicht darüber die Augen öffnete, und mich annahm, mit allem, was ich war und was zu mir gehörte, tat gut. Und wenn ich gewusst hätte, wie nett Theologen sein können, hätte ich mich schon früher mit welchen angefreundet ― vermutlich wäre ich dann auch kürzer Atheist gewesen.

„Die Katholen haben doch alle einen an der Waffel“ beschied mir vor langer Zeit einmal der berufsprotestantische Familienzweig, und jetzt denke ich an wieder an diesen Freund, der katholischer nicht sein könnte, und finde, dass er keinen an der Waffel hat ― zumindest nicht mehr als jeder andere Mensch auch, der das 30. Lebensjahr vollendet und alle handelsüblichen Dinge erlebt hat, die ein Mensch eben in über dreißig Jahren so durchmacht, sofern er nicht auf einem fernen Planeten oder in einer Höhle aufwächst. Und im Grunde ist „einen an der Waffel haben“ ja auch per se erst einmal nichts Schlechtes ― sämtliche Kunstzweige leben davon, wobei man sich oft ohnehin nicht sicher ist, ob die Spinner jetzt vor oder hinter der Staffelei sind, vor oder auf der Bühne, aber ich schweife ab.
Jedenfalls ist der Mann Priester, und so sind wir von Gott jeder auf unsere Weise für das Alleinsein vorherbestimmt, aber er leidet darunter nicht, und ich ― das habe ich beschlossen ― werde das auch nicht mehr tun. Ich habe aus dieser Freundschaft, allein durch die Tatsache, dass dieser Gottesmann immer ein offenes Ohr hat, obwohl ich als exprotestantischer Heide eigentlich gar nicht in seinen Wirkungskreis falle, tatsächlich schon viel gelernt, nicht nur über Glaubensfragen: Dafür bin ich dankbar.
Auch bekam ich dadurch vor Augen geführt, wie sehr es sich lohnt, seine Vorurteile gegenüber bestimmten Menschen oder Berufsgruppen einfach abzustreifen und sich auf das Neue einzulassen, das Unbekannte, das Exotische oder insgeheim Belächelte.

Mich brachte die vorsichtige, u.A. durch diese Freundschaft initiierte, Wiederannäherung an Gott beispielsweise zu folgenden Erkenntnissen:

Der Mann, den ich gerne als Partner gehabt oder zumindest dahingehend näherer Betrachtung unterzogen hätte, interessiert sich nicht mehr für mich: So weit, so schlecht. Aber er hat Gründe, über die ich keine Herrschaft habe, die mich nichts angehen, und mein Schmerz, mein Gekränktsein darüber ist allein mein Schmerz und meine Eitelkeit, es ist nicht seine Schuld. Es ist auch nicht meine oder die Schuld des Ozeans, des Mondes, oder irgendeiner höheren Gewalt. Es ist auch keine Strafe Gottes für meine unzähligen Sünden. Es ist. Ich muss ihn ziehen lassen; ich muss es hinnehmen.
Ich denke an die vielen positiven Dinge, die dieser Mann in mir bewirkt hat, wie all die Inspiration und die Erinnerung daran, dass ich doch noch lieben kann. Und ich bin dankbar.

Jemand, die ich für eine Vertraute, oder jemand, den ich für einen Vertrauten hielt, denunziert mich und löst damit eine Kette unschöner Dinge aus, gegen die sich zu wehren viel Kraft kostet: So weit, so schlecht. Aber immerhin zeigt mir der Kampf, was in mir steckt. Zeigt mir der Fall, dass der eingeschlagene Weg so oder so nichts Gutes bewirkt hätte. Erkenne ich: Es war gut so, wie es war. Weiß ich: Ich mag falsche Freunde gehabt haben, aber ich habe auch echte. Freunde, die mir sofort und in einer derart unaufdringlichen Weise helfen, dass ich mich nie entmündigt oder entwürdigt fühle, nie als Almosenempfänger, obwohl sie mir vieles schenken.  Und ich bin dankbar.

„Das ist nicht das Ende“ sagte Churchill, „es ist nicht einmal der Anfang vom Ende!“ Und wenn der olle Church etwas konnte, dann waren es wohl Durchhaltesprüche: „Wir werden diese Insel verteidigen, mit allen Mitteln!“ ― Natürlich sprach er damals nicht von Langeoog, und ich will hier nicht kriegsverherrlichend wirken, aber genau dieser Satz half mir dann letzten Endes doch: Beim Hierbleiben. Beim Überleben. Und ich war dankbar.

Man is not made for defeat.
Es ist nicht immer einfach im Paradies, und die letzten Wochen waren es ganz und gar nicht. Aber nun, denke ich, ist alles in Form gefallen. All das Chaos fügt sich wieder zu etwas Neuem, Wunderbaren zusammen. Die Trümmer sind beseitigt. Der Frühling steht vor der Tür.
Noch sind die Bäume kahl, aber wenn der März kommt und sich die ersten Knospen zeigen, werde ich sehen, wohin mich der neue Weg führt. Ob es gut ist. Ob er zu mir gehört. Ich werde annehmen, was kommt. Ich habe Vertrauen, denn ich weiß, dass ich nicht mehr verlieren kann.
Natürlich kann ich nach wie vor Geld verlieren, geliebte Menschen oder meine Gesundheit. Ich werde es sogar, das ist der ― unvermeidlich grausame ― Lauf der Welt. Der Herr gibt es. Der Herr nimmt es.
Gott nimmt mir nicht die Arbeit ab. Nicht die Trauer. Und nur mit viel Anstrengung meinerseits den Zorn. Aber ich weiß, dass ich zugleich auch immer Trost finden werde, Kraft und Gerechtigkeit. Ich vertraue.
Und ― mit der berühmten little help from my friends ― wird auch dieses Jahr noch ein Gutes. Ich gebe dem Jahr und mir diese Chance.
Wir haben nur dieses eine Leben. Wir sollten es gut behandeln.

***

P.S., von Herzen kommend: Ich kenne inzwischen auch zwei sehr, sehr nette evangelische Theologen ― dies zur Ehrenrettung!

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