Letzlich hat es die Sonne doch geschafft. Durch einen Wolkenspalt hindurch zwingt sie ihr glutrotes Licht in die Trübnis. Ich sitze im Strandkorb und kaue an einem Erbeereis herum. Das widerspricht sich im Februar nicht zwangsläufig, wenn der Strandkorb im Fährhaus steht und man sich das kalte Sauwetter nur durch das Fenster ansieht, während man auf das Einlaufen der Fähre wartet.
Der Akku meines Mobiltelefons ist längst leer und ich habe kein Kabel dabei, um es an eine der Steckdosen hier zu hängen, also betrachte ich den Sonnenuntergang ganz analog und bedaure, dass ich ihn nicht teilen und niemandem zeigen kann.
Gleichzeitig frage ich mich: Enfernt uns die Digitalisierung vielleicht von der Genussfähigkeit? Sind Sonnenuntergänge also quasi weniger Wert, wenn wir sie nur noch durch unser physisches Auge betrachten können, wenn wir nur noch im Herzen die Statusmeldung aufploppen sehen: „Wie schön“?
Sofern ich mich noch an Prä-Internet-Zeiten erinnere (und diese waren lang: Ich war erst Mitte 20 im Besitz einer E-Mail-Adresse), so gab es aber auch damals schon das Bedürfnis, beeindruckende Dinge, die man erlebt hatte, zumindest seinen Liebsten zu zeigen — und das leise Bedauern darüber, wenn man es nicht konnte. Die Urahnen der heutigen Facebook-Spammer luden dagegen gern zu Dia-Abenden: 3 Stunden Schwarzwald-Pensionsurlaubs-Retrospektive mit großformatigen Bildern eines misslungenen Toasts Hawaii und weinseligen Schnapsverkostungen konnten mitunter sehr lang werden — einigen heutigen Social-Media-Auftritten qualitativ wie quantitativ nicht unähnlich. Mit dem heutigen Vorteil, dass man langatmige Bilderstrecken von Toast und Konsorten einfach herunterscrollen kann …
Während ich mir über diese Dinge Gedanken mache, versinkt die Sonne unbeachtet mit dem Rest ihres Farbenspiels hinter einer kabbeligen See. Das Schiff hat angelegt.
Ich beziehe den Salon unter Deck.
Gestern sah ich eine Dokumentation über die Macht der Sozialen Medien, und in Erinnerung daran werden mir meine profanen Gedankenspielchen über das Schmälern von Schönheitsgenuss durch die Frage „To share or not to share?“ oder die Evolution des Vorzeigens von Urlaubs- und Essenbildern unangenehm. Denn am Ende dieses Films war erst einmal in jeder Hinsicht Schluss mit lustig.
Die Fragestellungen des Films hatten es in sich: Inwieweit sind facebook und Co. für das zunehmende Aufwiegeln der Massen verantwortlich, für Meinungsmanipulation, für politische Einflussnahme in Gesellschaften, in denen nur wenige Menschen Zugang zu anderen Informationsquellen bekommen? Sei es durch eine teils fragwürdige Zensurpolitk oder durch das bloße Zurverfügungstellen eines „Werkzeugs“, das es ermöglicht, binnen Minuten einen Lynchmob zusammenzurotten und Existenzen zu vernichten, wofür man früher immerhin noch mit brennenden Mistgabeln und Bottichen mit Teer und Federn hätte von Dorf zu Dorf ziehen müssen.
Wobei die Menschheit auch in digitalisierten Zeiten nicht weniger primitiv ist als zu allen Zeiten — Mit dem Unterschied, dass es heute weltweit jeder mitbekommt.
Natürlich wusste ich auch vor dieser Dokumentation um das unerträgliche Maß an Hass, an Bosheit, an Gier, Müll, Armut und Überbevölkerung auf diesem Planeten: Man liest ja Zeitung. Ich wusste um die Existenz des puren Bösen, das auf allen Kanälen on- und offline seine abstoßende Fratze zeigt. Aber es nochmals so komprimiert vorgeführt zu bekommen, mit dem Wissen, dass nichts davon Fiktion ist, hat mich erschüttert.
„Man hat mein Baby ins Feuer geworfen und den Zweijährigen im Fluss ertränkt“, erzählt eine Rohinga-Frau. Sie selbst wurde gefoltert, gedemütigt: sexuell, seelisch. Sie zeigt ein paar Narben. Dann weint sie. In der nächsten Einstellung wäscht sich der Reporter, der sie interviewte, das Gesicht. Es bedarf keines weiteren Kommentars.
Ein Posting, das zur Ermordung der Rohinga aufrief, hatte binnen Minuten Hunderttausende Likes. Welchen Anteil am unermesslichen Leid dieser Frau hatte die Hetze im Netz? Es schmerzt, sich diese Frage zu stellen. Denn oft genug hat man — wenn auch zu nicht unmittelbar vergleichbaren Themen — ja selbst gelangweilt weitergeklickt, wenn irgendwo im Netz der Hass tobte. Es wird so erschreckend normal irgendwann. Und Gegenrede viel zu häufig einfach zwecklos. Wer keine Argumente hat, brüllt. Und wer empathisch ist, hält das nicht lange aus; wird müde und schweigt. Oder klinkt sich ganz aus. Wie im Internet, so auch in der Welt.
„Ich habe Hunderte Enthauptungen gesehen“, erzählt ein Mann, der für eine große Social-Media-Plattform Fotos und Videos sichtet und zensiert. „Jede Art von Folter.“ Die ganze widerliche Fratze des Bösen. Manche Menschen, die diese Art von Content Management als Beruf ausüben, bringen sich nach einigen Monaten um. Denn auch wenn man den Teufel aus dem Internet wirft: In der Welt ist er ja trotzdem. Es muss schwer sein, das auszuhalten. Als einige der Sachen eingeblendet werden, die sich diese Menschen acht Stunden lang am Tag anschauen müssen, halte ich mir die Augen zu. „Das Tagessoll sind 25.000 Bilder“, sagt einer der Moderatoren. Dazu kommen Videos. „Einige werde ich nie vergessen.“
Ignore. Delete.
Die Kinobesucher verließen den Saal schweigend. Eine junge Frau lehnte sich bleich an ihren Freund. Noch beim Abspann wurden die ersten Smartphones eingeschaltet, man sah die Displays aufleuchten. Auch meins war darunter.
Ich werde diesen Text im Internet platzieren. Wiederum andere platziere ich nicht; aus vielerlei Gründen. An den meisten Tagen macht es mir Freunde im Netz zu sein. Aber ich bin mir nie sicher, ob ich dabei die Spinne bin oder die Fliege. Und, ehrlich gesagt, sind mir beide Tierarten nicht besonders sympathisch.