Widersprüche

Es ist ein Inselfrühling wie aus dem Bilderbuch. Wie in einer Werbeanzeige für irgendeine Familienversicherung sitze ich im Innenhof in der Sonne und putze mein schönes, neues, zitronenfaltergelbes Fahrrad, dessen fröhliche Farbe alles Wintergrau vertreibt. Meine zukünftige Ehefrau trägt eine salbeigrüne Bluse mit Tulpenmotiv, darüber ein zartes Strickjäckchen in Petrolblau und strahlt; schön wie Nachbars Schneeglöckchen in ihrem Sonnenfleck. Es weht kaum Wind; Möwen kreisen im Himmelsblau und man hört die Austernfischer vom Dach, die ihre Brutplätze beziehen.
Ein paar hundert Kilometer weiter liegt jemandes Ehefrau auf dem Asphalt, zerrissen von Granatsplittern. Die beiden Kinder ebenfalls, alle sind tot, sie haben die Flucht über eine Brücke nahe Kiew nicht geschafft. In den Redaktionen gab es lange Streit darum, ob man solche Bilder zeigen darf, aber der Ehemann und Vater, jetzt Witwer, hat zugestimmt. Man sollte das sehen.
In Europa ist Krieg und meine älteren Verwandten, die das schon mindestens einmal durchhaben, werden von ihren Erinnerungen heimgesucht; 90jährige, die nicht gedacht hätten, dass ihnen das Grauen noch einmal so nahe käme.
Ich habe keine Ahnung von Osteuropa; weder von Russland noch von der Ukraine, vom Üblichen an historischer und kultureller Allgemeinbildung einmal abgesehen. Aber dass es noch nie eine gute Idee war, irgendwo einzumarschieren, sollte sich doch nun wirklich inzwischen herumgesprochen haben. Und dass dabei immer die am meisten leiden, die am wenigstens Schuld tragen.
Und so schaue ich, wie alle anderen auch, mit Entsetzen, Trauer und Fassungslosigkeit auf zerbombte Häuser, Tote, Verletzte und Flüchtlingsströme. Ebenso mit einem warmen Gefühl im Herzen auf eine ungeheure Welle der Hilfsbereitschaft. Dennoch: Es zerreißt einen förmlich, es ist so nah, und man merkt einmal mehr, wie unglaublich fragil dieses Konstrukt „Frieden“ ist und dass es immer neu verhandelt und ausgehandelt werden muss, ebenso wie Demokratie. Sonst schlägt früher oder später immer die Stunde der Despotinnen und Despoten und jenes Teils des Volkes, der einfach nur regiert werden will, egal wie. Der Teil des Volkes, der noch schweigt, wenn es um Minderheitenrechte geht und sich dann wundert, wenn plötzlich jeder in seinen Rechten beschnitten wird, denn so fängt es nunmal an: Menschenrechte sind kein Luxusgut und kein Almosen, das eine Gesellschaft netterweise auch den Randfiguren hinwirft, wenn’s gerade mal läuft. Man kann diese Menschenrechte auch nicht einfach jederzeit wieder einsammeln, wenn man mal wieder Sündenböcke braucht oder Testkaninchen dafür, was das Volk so alles schluckt, solange es nicht die eigene Gruppierung trifft. Und doch geschieht genau das immer wieder.

Nun sitze ich hier in meinem kleinen nestwarmen Inselglück und weiß nicht, ob man das jetzt einfach noch so darf, kann, sollte: Glücklich sein. „Den anderen geht es nicht besser, wenn man jetzt keine Feste mehr feiert oder sich freut“, sagte mir eine liebe Bekannte dieser Tage, und natürlich: Das Unglück macht vor niemandem Halt, das Glück aber auch nicht. Und oft genug hat beides einen denkbar seltsamen Zeitpunkt. Mein Vater wurde 1942 bei Bombenalarm geboren, und zugleich mit der Angst, dass die neue Familie gleich zusammen mit dem Krankenhaus in Trümmern liegen könnte, wird bei Opa O. sicher dennoch auch eine Schnapsflasche oder Zigarrenbox gekreist sein oder womit auch immer man damals die Geburt von so einem Würmchen mitten im Krieg feierte. Vielleicht hat sogar noch jemand Blumen verkauft für die werdende Mutter, irgendwo zwischen dem Schutt einer zerbombten, grauen Stadt.

Dennoch brummt das schlechte Gewissen mit, wenn man sich dieser Tage freut; man spendet und hilft im Rahmen seiner Möglichkeiten, man schaut mit Angst auf all die Prophezeiungen bezüglich Preissteigerung, nährt seine Existenzangst damit, fürchtet sich vor kalten Wintern mit Heizkörpern nicht über 16°C, obwohl es einem doch immer noch so gottverdammt gut geht, weil man überhaupt noch ein Zuhause hat, das man heizen kann und darf und weil man Dreckflecken vom Fahrrad wischt anstatt Blut von den Wänden.

Vermutlich muss ich diesen Widerspruch einfach aushalten: Hinter mir liegt der schönste Jahresbeginn, an den ich mich erinnern kann. Wundervolle Urlaube, ein ewiges Versprechen im denkbar schönsten Setting, dazu dann — endlich — eine seelenstreichelnde Reihe milder Sonnentage auf der Insel und das stete Glück eines Zuhause am Meer. Für unser armes Europa, für die Menschen in der Ukraine ist es ein furchtbarer Frühling. Der Blick in die Welt tut weh.

Momentaufnahme, Ende

Nach einem sehr warmen Dezember hat nun der Winter Einzug gehalten auf Langeoog. Das Jahr hat nur noch wenige Tage. Die Nacht umrahmt ein so prachtvoller Sternenhimmel, wie ihn nur winterliche Inseldunkelheit hervorbringt. Ich stehe am Fahrrad und kratze Eis vom Sattel; das erste Mal in diesem Jahr. Ich weiß nicht, wo die letzten Wochen, der ganze letzte Monat geblieben sind. Selbst Weihnachten passierte dergestalt nebenbei, wie es eigentlich nicht passieren sollte. Es gab unzählige Adventsfeiern und -veranstaltungen, die ich dienstlich besuchte; dazu die ein oder andere dem Tag abgerungene Werktagsmesse; an den Sonntagen konnte ich nicht. Am ersten Weihnachtstag war frei. Ich erinnere mich an einen wohligen Kokon aus Nichtsmüssen, in Ruhe gekochtem Essen und nochmaliger Lektüre unzähliger Postkarten und Briefe, die mich in den Tagen zuvor erreicht hatten; soviel Liebe zwischen den Zeilen. Und dann war auch das Fest schon wieder vorbei.

Für viele meiner Freundinnen und Freunde oder Menschen im weiteren Bekanntenkreis war es kein frohes Fest. Sehr viele Elternteile verstarben dieses Jahr oder erkrankten schwer; teils wurden auch junge Menschen aus dem Leben gerissen. Langjährig treue Haustiere mussten für immer verabschiedet werden. Es wurde sich zerstritten oder getrennt, Babys wurden verloren und Arbeitsplätze. Dann sah man diese Menschen an, um deren Schicksal man wusste, und ahnte die Tapferkeit, die sie aufbringen mussten, um reihum „fröhliche Weihnachten“ zu wünschen, weil man das eben so machte. „Gesegnete Festtage“ sagte ich, der Neutralität halber, denn damit litt es sich hoffentlich etwas weniger.
Ich wurde mir des Luxus bewusst, meine Eltern wenigstens noch am Telefon bei mir haben zu können an Weihnachten, denn etliche meiner Freundinnen und Freunde konnten das nicht mehr. Reihum sah man, wie teils Ü50jährige im Freundeskreis wieder zu Kindern wurden und über Weihnachten heimfuhren zu Eltern, sonstiger Familie, Gans und Baum. Dann schliefen sie in ihren alten Kinderzimmern, fanden Erinnerungen wieder und Fotoalben. Und dann gab es jene, in deren Elternhaus nun Planen über den Möbeln lagen und durch dessen Zimmer Fremde als potentielle Käufer schritten. Und jene, deren Elternhaus bereits abgerissen worden war. Und jene, die nie eins hatten.
Auf der anderen Seite: Die Selbstverständlichkeit, mit der allerorten „Frohe Festtage im Kreise Ihrer Familien“, „schöne Weihnachten im Beisein Eurer Lieben“ und so fort gewünscht wird, als sei ein Alleinsein an Weihnachten oder die Abwesenheit einer Familie, sei es durch traumatische Erlebnisse oder den Tod, vollkommen ausgeschlossen. Oder eines der letzten Tabus unserer Zeit. Ich fürchte, Letzteres.
Ich versuchte, über die Weihnachtstage so viele Bekannte wie möglich zu kontaktieren, von denen ich wusste, dass sie unter irgendeiner Form von Verlust und Ausgeschlossensein litten. Nicht aus Mitleid. Sondern weil ich wusste, wie es war, in dieser Gesellschaft unsichtbar zu sein.

Nun ist die Zeit angebrochen, die etwas mysteriös als „die Zeit zwischen den Jahren“ bezeichnet wird. Eine Zeit, in der man einerseits noch hektisch Dinge zuende bringen will, es sich andererseits aber auch noch nicht wirklich lohnt, etwas Neues anzufangen — denn waren dafür nicht erst die Neujahrsvorsätze gut? Es ist eine Zeit, in der viele Menschen Bilanz ziehen. Auch ich tue das.
Über mein Jahr kann ich nicht klagen. „Still a pretty good year“ höre ich im Geiste Tori Amos singen; eine Frau, die mich in meiner Jugend mit ihrer keltisch-ätherischen Schönheit, ihrem Talent, ihrer Verletzlichkeit, dem Stolz in ihrer Nacktheit und der Anmut in ihrer Wut geradezu hypnotisierte. Inzwischen hat die plastische Chirurgie ihr leider eine Menge Seele aus dem Gesicht geraubt — aber die Faszination ist geblieben.
Auf jeden Fall habe ich keinen Grund zum Hadern; alles, wovor ich Angst hatte, ging gut aus oder ist in stabile Bahnen gelenkt. Es gibt keinen Verlust zu beklagen, der rückblickend nicht unumgänglich oder gar begrüßenswert gewesen wäre. Und alles, was ich liebe, ist noch da. Mehr, denke ich, kann man von so einem Jahr eigentlich nicht verlangen.

Ich erahne bereits den Horizont. Mit der Morgendämmerung glitzern gefrorene Reifenspuren auf dem Backsteinpflaster meiner Straße. In meinen Träumen glitzert der Wienerwald im Winterkleid, rattert der Nachtzug bereits einer niederösterreichischen Morgendämmerung entgegen. 
Dem Wetterbericht nach wird es in Wirklichkeit zwar nichts mit Schnee im Wald, aber das ist mir jetzt reichlich egal, denn die nahende Reise hilft mir, das alte Jahr erwartungsfroh und ohne Sentimentalitäten hinter mir zu lassen. Der Wanderrucksack steht längst gepackt in der Zimmerecke.
Er ist, trotz mehrfachen Umpackens und Neusortierens, ziemlich schwer, aber ganz ohne Gepäck geht es halt nicht hinüber: Weder ins neue Jahr, noch in den Wienerwald.
Beim Anblick des Rucksacks muss ich wieder an die Freundinnen und Freunde denken, welche in diesem Jahr mit wirklich schwerer Last neu starten müssen. Mit der Last von Krankheit, Angst, Trauer, Armut oder Hoffnungslosigkeit. Mit Streit, Mobbing oder Verachtung. Ich hoffe, dass sie Erleichterung finden. Und dass ihnen Gott tragen hilft.

***

Meinen Leserinnen und Lesern wünsche ich einen guten Übergang ins Jahr 2020 — mit Freude, Gesundheit und Geborgenheit in allem Kommenden.

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Momentaufnahme, Zirkel

Der letzte heiße Tag des Jahres liegt hinter mir. In den letzten Stunden des Augusts zeigte das Thermometer noch einmal über 30°C. In der gemütlichen Dachwohnung hinter dem Deich, in die mich Freunde auf dem Festland einquartierten, ist es brütend warm. Sie gehört zu einem wundervoll hergerichteten alten Bauerngut, in dessen Hof heute ein Fest stattgefunden hat. Vor kaum einer Stunde sind die letzten Töne der Musik verklungen, ich lauschte der Band vom Dachfenster aus. Die Stimmen der Gäste zerstreuten sich rasch. Dann wurde es still.
Im letzten Licht der Abenddämmerung sehe ich Windräder blinken. Ich kann bis weit über den Deich sehen, die Silhouette Langeoogs zeichnet sich noch am Horizont ab. Mächtige Pappeln rahmen den Hof meiner Freunde ein, sie stehen Spalier wie freundliche Soldaten, es geht überhaupt nichts Bedrohliches von ihnen aus. An den Hof grenzt ein Acker, dahinter ist ein Campingplatz. Die meisten der Wohnmobile sind beleuchtet und ich leide mit den Menschen, die dort in ihren Blechbüchsen gesotten werden. Der heilige Laurentius möge ihnen beistehen, denke ich, und bete, wie vermutlich viele an diesem Tage, um das lang erwartete Gewitter.
Doch noch dringt durch das weit geöffnete Fenster kein Lüftchen. Um keine Insekten anzulocken, habe ich kein Licht in der Wohnung gemacht. Nun sickert die Schwärze der Nacht hinein und verteilt sich im Raum wie immer dichter werdender Nebel. Ich lege mich aufs Bett und lausche ins Dunkel. Eine Eule schreit, der elegante Jäger muss ganz in der Nähe wohnen. Dann endlich fährt die erste Windboe in die Pappeln. Ich höre das Rascheln der Blätter, die Eule schreit nochmals. Die Fensterscheiben beginnen zu vibrieren, ein gewaltiger Donner erschüttert das Gemäuer, Blitze zucken. Nun kann es nicht mehr lange dauern, denke ich. Aber der Regen lässt sich Zeit.
Ein paar einzelne Tropfen klopfen ans Dach. In den Pappeln rauscht der Wind nun stärker. Und dann rauscht auch das Wasser. Ein letztes Mal höre ich die Eule schreien, ihr Ruf verhallt im Strömen des Regens, und ich sehe sie vor mir, wie sie in einer Asthöhle in den Pappeln Schutz sucht, mit den schönen großen Augen immer wieder zaghaft hervorlugend, sicher noch hungrig. Auch ich stehe nochmals auf und luge aus meiner Höhle. Die Fenster schließe ich bis auf einen Spalt; groß genug, dass die Gewitterluft noch Kühlung bringen kann. 
Als die Raumtemperatur endlich absinkt, schlafe ich unverzüglich ein, obwohl der Sturm an den Dachschindeln reißt und immer wieder lauter Donner die Nacht durchdringt. Ich denke noch einmal an die Eule in ihrer Höhle und daran, was für ein Privileg es ist, bei diesem Wetter ein warmes Bett zu haben und ein Dach, das dichthält. Nicht alles, was der Mensch schafft, ist schlecht. Die Fähigkeit, sich selbst oder anderen ein Zuhause zu bauen, ist gut. Schutz ist es. Und Geborgenheit auch.

Am nächsten Morgen ist die Temperatur stark gefallen, aber der Boden hat den Regen beinahe schon wieder aufgesogen. Ich mache einen frühen Spaziergang über den Deich, die Pappeln haben nichts von ihrer Erhabenheit eingebüßt, aber ein paar kleinere Bäume haben Äste gelassen. Ein Greifvogel kreist, vermutlich ein Falke. Hinter einem Gatter schauen ein paar Schafe träge zu mir hoch und kauen.
Über den Inseln am Horizont hat sich die Sonne schon Bahn gebrochen. Ich stelle mir vor, wie sie nun durch mein Wohnzimmerfenster scheint und alles, was ich liebe, mit ihrem Licht streichelt. Meine Bücher, meine Kissen und Decken, den kleinen Hausaltar und die neu erworbenen, leuchtend grünen Zimmerpflanzen in ihren hübschen Ampeln. 
Für nochmals eine Woche werde ich heute zurückfahren; dann werde ich länger fort sein und meine Wohnung eine Weile nicht sehen. Insofern war es ein bisschen unsinnig, noch all diese Pflanzen zu kaufen, obwohl sich eine Freundin gut darum kümmern wird. Aber mir war eines Tages, als bräuchte ich mit dem scheidenden Jahr, mit dem ruhenden Leben vor meiner Haustür, unbedingt noch etwas mehr Leben im Inneren, und eigentlich beantwortete mir das auch sehr genau die Frage, warum ich diese Pflanzen kaufte: Ich klammerte mich ans Leben.
Ein Krankenhausaufenthalt steht bevor, und nach einer grässlich missratenen Narkose vor einiger Zeit gehe ich nicht mehr unbefangen daran. „Wir mussten Sie wiederholen“, sagte der Arzt, und ich hatte lange gebraucht, bis mir die Tragweite des Ganzen bewusst worden war: So schnell kann es also gehen. Und dann war es das halt.

Und nun liege ich, einige Stunden nachdem ich den Hof der Freunde verließ, wieder auf dem eigenen Bett und sehe einer sich prächtig entwickelnden Efeutute zu, wie sie aus ihrer Ampel sanft schaukelnde Schatten auf meine weiße Tagesdecke wirft. Liebe erfüllt mich zu dieser Pflanze. Zu dieser Wohnung. Zum Meer am Ende der Straße. Und zu meinem Leben.
Ich will nicht sterben. Auch dieser Satz ist für mich noch wie ein ungewohntes Kleidungsstück, denn sehr lange hing ich keineswegs an meinem Leben: die meiste Zeit meiner Jugend hasste ich es. Und danach war es mir egal. Man lebte halt seine Jahre ab, bis die statistischen 86kommanochwas voll waren. Aber nun bin ich frei, nun habe ich das Meer, nun habe ich Gott. Und jetzt will ich leben. 
Aber ich frage mich, ob zwischen „ich will leben“ und „ich will nicht sterben“ nicht noch ein Unterschied ist. Ist Todesangst nicht gar ein Zeichen von Kleingläubigkeit? Soll man als Christ nicht freudig folgen, wenn der HERR einen heimruft?
Ich fragte vor einiger Zeit einen jungen Mönch danach, an einem warmen Abend im Mai, der nicht schöner hätte sein können. Er sagte, die Angst sei menschlich. Und dass man Vertrauen haben müsse. Über uns rauschte der warme Wind durch sattgrüne Lindenblätter. Der Mönch sah aus sanften Augen in die Ferne. Ich weiß nicht, was er über den Tod dachte. Aber er segnete mich und es war gut, dass er da war.

In den letzten Tagen habe ich viel darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn dies nun wirklich der letzte Sommer war, der letzte Herbstanfang. Würde ich in panische Geschäftigkeit verfallen? Noch schnell einen Kredit aufnehmen, um ein paar Reisewünsche zu bezahlen? Irgendjemandem irgendetwas sagen, was er oder sie nicht eh schon wüsste? Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto ruhiger wurde ich. Es war alles gut so, wie es ist. Und wie immer es kommen mochte.
Eine kräftige Windboe lässt den kleinen Glasengel am gekippten Fenster gegen die Scheibe schlagen. Das Geräusch holt mich aus den Gedanken, zeitgleich bekomme ich eine Nachricht: „Wir haben Sturmflut, geh dir das ansehen!“
Ich stehe vom Bett auf, schnüre die Stiefel, nehme meine Jacke vom Haken und gehe. 
Vor dem Strand bäumt sich die See wie ein entfesseltes Urviech. Unzählige Schaulustige haben sich eingefunden. Die Sonne leuchtet das dramatische Spektakel aus wie ein versierter Theatertechniker; die Szene ist filmreif.
Ein paar Wahnsinnige gehen trotz des Wellengangs schwimmen, eine Mutter filmt seelenruhig ihre Kinder, während diese tollkühn von der Abbruchkante rutschen: Offenkundig können auch einige Menschen Kulisse und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten. Der Wind tobt, ich bin binnen Sekunden mit Sand paniert. 
Die gewaltige Energie, welche die Natur in diesem Moment entfesselt, überträgt sich unverzüglich auf alles Lebende, alles bewegt sich. In jadefarbenen Bögen stürzen die Wellen in sich zusammen, um gleich die nächsten zu gebären, ein Kreislauf, dem man nur staunend zusehen kann. Muscheln, Seesterne, Algen … all diese Schätze wirft mir das Meer vor die Füße, nur um sie im nächsten Moment wieder einzusammeln.

Vielleicht ist auch das wie das Leben, denke ich: Man darf es staunend bewundern, ein paar Augenblicke lang lieben, vielleicht sogar einen Moment in den Händen halten. Aber dann muss man loslassen und es geht mit der nächsten Welle zurück zum Ursprung. Wirklich verloren geht aber nichts und niemand.
Als ich vom Strand komme, mache ich Pläne für die Zeit nach dem Herbst. Mit einem Freund verabrede ich einen Waldspaziergang im Schnee, im Januar. Ich werde mit dem Nachtzug zu ihm fahren, im Schlafwagen. Das habe ich noch nie gemacht und ich freue mich darauf wie ein Kind. Der Mönch hatte Recht: Man muss vertrauen.
Wir werden leben.

Momentaufnahme, Schnee

Als ich am Morgen aus dem Fenster sehe, ist die Welt verwandelt. Seit ein paar Tagen herrschte schon Frost auf der Insel; man merkte das am Knacken der dünnen Eisschicht unter den Fahrradreifen und daran, dass das Fahren auf den spiegelglatten Wegen zunehmend riskanter wurde. Nun aber hat es zum ersten Mal wirklich geschneit.
War die Insel bislang lediglich zart von Reif gepudert, so türmt sich jetzt der Schnee eine handbreit hoch auf Zaunpfählen, Ästen und Fahrrädern. Auch am Strand zeigt sich nichts Sandfarbenes mehr unter dem Weiß; läuft man unterhalb der Abbruchkante, so wähnt man sich beinahe auf Spitzbergen oder in einer anderen arktischen Region: Weiß, so weit das Auge reicht.

Die See steht recht ruhig an diesem Tage, und dennoch erscheint mir das Donnern der Brandung heute lauter als sonst, was daran liegen mag, dass der Schnee die Umgebungsgeräusche schluckt: Die Gespräche der anderen Flaneure, das Hundebellen, den Baulärm.

Seit 5 Jahren kenne ich diesen Strand, seit beinahe 2000 Tagen, und nun liegt er vor mir in nie gekannter Unschuld. Wie passend für den Januar, denke ich, denn wünscht sich im Grunde nicht jeder, ein neues Jahr so unbescholten begehen zu können, als wäre alles Belastende der Vorjahre nie gewesen? Als kennte man noch keine Sorgen, keine Existenznot, keine Krankheit und keinen Kummer; als wüsste man noch nicht, in was für ein Monster sich manche Jahre in ihrem Verlauf verwandeln können.

Ein bisschen ist es ein Gefühl wie nach der Beichte. Ego te absolvo a peccatis tuis. Am Anfang fiel es mir noch schwer, das zu glauben. Dass Gott durch den Priester tatsächlich vergibt, auch schon zu Lebzeiten, im Hier und jetzt. Dass jeder, wie beladen er auch sei, jederzeit die Möglichkeit hat, sein Leben reinzuwaschen, damit es dann vor einem liegt wie dieser wundervolle, schneebedeckte Strand.

Aber natürlich weiß ich, dass der Strand auch unter dem Weiß noch derselbe ist. Und leider muss ich mich nicht einmal besonders anstrengen, um das zu verifizieren. Im Spülsaum flattert ein Plastikstreifen, „Tablecloth“ steht darauf, es ist eine Banderole gewesen. Wenige Meter weiter ein dunkelroter Sportschuh. Er sieht neu aus und stammt, wie auch die Tischdeckenverpackung, vermutlich aus einem kürzlich verlorenen Container. 270 davon hatte das Meer im Sturm an sich gerissen; das Jahr war noch keine drei Tage alt. Die Folgen werden uns hier noch lange beschäftigen.
Auch über die gut gefüllten Strandmüllboxen hat sich gnädig der Schnee gelegt; ich werfe Schuh und Plastikstreifen hinein, zwischen schmutzige Textilblumen, Nylonnetze und Fahrradschläuche und vieles andere, auf das die Natur getrost verzichten könnte, aber der Mensch offenbar nicht.

Und dennoch präsentiert sich die Natur heute so friedlich und freundlich, als würden wir ihr all dies nicht antun. Die Sonne lugt hervor; in der Brandung laben sich niedliche Sanderlinge an Schwertmuscheln, die teils länger sind als sie selbst. Ich sehe den winzigen Vögelchen entspannt eine Weile zu, bis ein Schwarm Krähen meine Aufmerksamkeit davon ablenkt.

In der Art und Weise, wie sie dort alle auf einem Haufen hocken und auf etwas einhacken, weiß ich, was sie dort tun, bevor ich es gesehen habe.
Dennoch trete ich näher heran, um mir den Kadaver anzusehen.
Es ist ein kleiner Seevogel. Etwa taubengroß. „Austernfischer“, denke ich sofort, als ich das schwarze Rückengefieder und den weißen Bauch (oder das, was davon übrig ist) entdecke. Aber die Füße sind schwarz, das passt nicht. „Eine Lumme!“ ist der nächste Impuls, aber Lummen gibt es auf Langeoog eigentlich nicht. Oder doch? Hier kann nur der Kopf Zweifel ausräumen. Ich vermute ihn unter dem Schnee, aber als ich das tote Tier mit dem Fuß anhebe, ragt dort nur eine blutige Halswirbelsäule aus dem Weiß, der Kopf ist fort, ebenso wie alle Innereien, die bis aufs Brustbein hinunter aus dem zerfetzten Bauchgefieder geklaubt wurden. Der Vogel kann noch nicht lange tot sein, denn das Blut ist noch frisch und um den Kadaver herum zieht sich eine kleine Schleifspur aus leuchtend gelber Galle, wo sich vermutlich eine Krähe mit dem Magen davon gemacht hat.
Hatte das Tier vielleicht ein Hund gerissen? Denn auch Hundespuren finden sich ringsum reichlich. Die einzige Menschenspur stammt von mir, und fast schäme ich mich dafür, dass ich mich, primitiv wie jeder andere Fleischfresser, Hyänengleich um einen Leichnam schare.

Das war es also mit der Unschuld, denke ich. Kaum liegt der Schnee, vergießt irgendein armes Mitgeschöpf sein Blut darauf.
Wenige Meter weiter finde ich den nächsten Leichnam; dieser ist steifgefroren, aber vollkommen intakt: Es ist zweifelsohne eine Lumme. Diese trifft man auf Langeog so gut wie nie, denn eigentlich kommen sie nicht südlicher als bis Helgoland. „Ich hab solche auch schon gefunden“, berichtet mir jedoch später einer unserer Naturführer, „auch mal einen Tordalk und einen Papgeientaucher“. Ich nicke betroffen. Lebendig wären mir Lummen doch um einiges lieber.
Ich überlege, was sie nach Langeoog verschlagen hat und warum sie beide an diesem Strand sterben mussten. Entkräftet, verhungert, an Plastikteilen im Magen verendet? Hat ihr Gefieder Schaden genommen durch Chemikalien und sind sie daher erfroren? Verloren sie durch irgendetwas die Orientierung und verflogen sich, um dann entkräftet auf der falschen Insel zu sterben? Helgoland ist weit, auch wenn man in klaren Nächten das Leuchtfeuer bis Langeoog sieht. Vielleicht starben die Lummen auch im Meer und wurden angespült, denke ich. Aber dafür sind die Kadaver beide zu frisch.

Die Euphorie über die vermeintlich makellose Reinheit des schneebedeckten Strandes ist mir vergangen. Nun höre ich auch wieder den Lärm der Presslufthämmer und Sägen aus dem Dorf; der Schatten des gewaltigen Krans an der neuen Hotelbaustelle gleitet über den Strand wie die Schwinge eines Flugsauriers. Und irgendwo auf dem Grund des stillen, schönen Meeres vor mir liegen noch unzählige Container.
Der Mensch, denke ich, ist und bleibt hier ein Fremdkörper, mit all seinem echten oder vermeintlichen Fortschritt. Mich selbst schließe ich da nicht aus.

Die Krähen sind nicht zum Kadaver zurückgekehrt; vermutlich riechen sie, dass ich da war. Morgen werden die bedauernswerten Lummen beerdigt sein, es ist weiterer Schneefall angesagt.
Ich drehe mich ein letztes Mal zum Strand um und bewundere ihr glattes, glänzendes Leichentuch.

 

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Im Feld

ein wolkenaufmarsch
wie weiße rösser
in der schlacht
von welchem sturm
und welchem krieg
mit welchem sinn
sie künden
weiß ich nicht

an der jacke
ein kreuz aus gold
die einzige waffe
zu wessen ehr
und wessen heil
von wessen leid
es kündet
frag ich mich

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Momentaufnahme, Fülle

„Leben in Fülle“. Es ist ein Leichtes, sich vorzustellen, was die Bibel damit meint, wenn man dieser Tage über Land fährt. Vor dem Busfenster, auf der Straße Richtung Norden, wogen goldene Ähren. Der Mais schießt in die Höhe, auf den Obstplantagen bekommen die Äpfel schon rote Bäckchen. Auf den Verkehrsinseln leuchtet der Rainfarn in goldener Pracht. Die Natur ist hier weiter als auf Langeoog, denn dort hat diese von mir geliebte Pflanze, die unter anderem an den Strandaufgängen wächst, noch grün verschlossene Knospen.
Blühstreifen, welche die Äcker und Weiden säumen, sind blauweiß geblümt wie zartes, friesisches Teegeschirr: Kornblumen und Kamille, Disteln und Schaumkraut geben sich ein „Landlust“-Covertaugliches Stelldichein. In einem funkelnden Wassergraben füttert eine Teichralle ihr Kleines, Holsteiner Fleckvieh käut, träge und wohlgenährt, auf saftiggrünen Wiesen wieder. An den Straßenrändern zeichnet sich eine Allee junger Birken strahlend weiß gegen den königsblauen Himmel ab. 
All diese Pracht ist über das zarte Erwachen des Frühlings weit hinaus; sie trägt bereits das Verprechen auf die Ernte des Herbstes in sich, ohne jedoch schon erkennbares Verfallen, die Vorboten des Winters, zu zeigen. Der Sommer ist auf seinem Zenit.
Kurz vor der Stadt Norden steige ich aus. Das Schloss Lütetsburg ist mein Ziel mit seinem beeindruckenden Park, an den ich mich nur vage aus sehr jungen Jahren — damals in Begleitung meiner Eltern — erinnere. 
Mit ihren alten Gewächshäusern, die heute ein Café und einen Laden beherbergen, erinnert mich die Anlage an die Königlich-Preußische Gartenakademie in Berlin, unweit des Botanischen Gartens, wo ich liebend gern den mir ansonsten unerträglichen (obwohl hochgepriesenen) Berliner Sommer verbrachte.
Im Inneren des Glashauses, in dem sich das Café befindet, ranken Weinstöcke aus den 50er Jahren und zaubern entzückende Schattenspiele auf das schlichte, aber gepflegte Interieur. Sogar das Klo befindet sich in einem bezaubernden Backsteinhäuschen, an dem üppige Rosen wuchern. 
Es ist später Vormittag; das Café hat gerade erst aufgemacht. Außer mir ist nur ein älteres Ehepaar sowie ein Damenkränzchen anwesend, das bereits bestgelaunt dem Sanddornprosecco zuspricht. 
Die Kuchen und Torten in der Vitrine sehen ebenfalls aus, als entstammten sie geradezu einer „Landlust“-Ausgabe, aber es ist eindeutig noch zu früh dafür. Also bestelle ich Tee und eine Gemüsequiche, die hier nicht profan mit einem „Beilagensalat“, sondern mit einem „kleinen Salatgesteck“ angepriesen wird. Alles ist stilvoll und edel, ohne protzig zu sein: Cleanes Understatement. Und wo wäre das Wording „Gesteck“ passender als in einer Schlossgärtnerei? Eben. Der Ex-Werbefuzzi in mir nickt. Und fast wäre mir auch schon nach Prosecco.

Nach dem Brunch rüste ich mich für den Gang durch den Park, dessen gewaltige Ausmaße mir erst bewusst werden, als ich im zweiten historischen Gewächshaus — dem Lädchen — einen ausführlichen Parkguide kaufe. Mir dämmert jetzt schon, dass ich nicht alles schaffen werde, bis ich den Bus zum letzten Schiff zurück nehmen muss. Also picke ich mir die interessantesten Stationen heraus: Die Kapelle, die 300 Jahre alte Eiche, die Nadelgehölze, den größten See. 
Aber es fällt schwer, sich an den Plan zu halten. 
Hinter jeder Ecke eröffnen sich faszinierende Perspektiven, spektakuläre Sichtachsen, ausgeklügelte und doch so zufällig wirkende Blickwinkel. Zwischen den sonnendurchwirkten Zweigen immer wieder: Das Schloss.
Eine Hochzeitsgesellschaft hat sich unterhalb des „Tempels der Freundschaft“ versammelt, der eine Außenstelle des Standesamts Hage beherbergt. Die nächste Gesellschaft wartet bereits auf ihren Einzug. Eine hochgewachsene Dame in einem eleganten, bodenlangen grünen Kleid, mit weich aufgesteckten, edelholzbraunen Haaren und sensationeller Figur, verschmilzt förmlich mit dem Sattgrün der Bäume und stiehlt der Braut zweifelsohne die Show. Ich sehe sie nur vom Weiten, aber es ist einer der seltenen Fälle, in denen sogar ich eine Frau anbetungswürdig finde. Und jedes Mal, wenn jetzt jemand „Holla, die Waldfee sagt“, denke ich, werde ich wohl genau diese bezaubernde „Waldfee“ vor Augen haben.
Unter einer Baumgruppe posiert ein drittes Brautpaar gerade für eine Fotografin. Alle, die daran vorbeimarschieren, rufen „Herzlichen Glückwunsch“: Es sind viele. Die Braut ist zu stark geschminkt und sieht gestresst aus. Aber sie bedankt sich und versucht zu lächeln. Die Fotografin hat ihr und dem Bräutigam Holzbuchstaben in die Hand gedrückt: L, O, V, E. Die Braut soll sich das O über den Kopf halten. Es sieht albern aus und sie tut mir Leid. So eine Erinnerung wöllte ich nicht im Album. Aber der Baum, unter dem sie stehen, ist schön. Und der Bräutigam auch.

Ich erreiche die „Nordische Kapelle“. Das winzige Gotteshaus wurde 1802 nach skandinavischem Vorbild errichtet, inklusive künstlicher Felsen, Nadelbäume und kunstvoll arrangierten Wurzelwerkes. Ein Schild am Eingang mahnt zur Stille.
Ich bin überrascht, hier das Gotteslob sowie Kniebänke vorzufinden, aber tatsächlich ist und war die Eigentümerfamilie des Schlosses katholisch: In Ostfriesland eine Seltenheit. Aber auch für die Öffentlichkeit kann die Kapelle für Trauungen oder Trauerfeiern genutzt werden. Freilich eher von Menschen mit wenig Anhang, denn mehr als ein Dutzend Menschen passt kaum hinein. 
Ich schlage ein Kreuz und knie mich auf die hellgrauen, weich gepolsterten Bänke. Außer mir ist niemand da, und so genieße ich kostbare Momente der Andacht vor einem schlichten, aber Wärme und Zuhause ausstrahlenden Altar unter einer leicht schiefen, weißgrauen Kuppel. Etwas schief hängen auch die Kerzen in ihren Halterungen; auf der Altarstufe steht ein Strauß frischer Blumen.
Ich mag die Kapelle: Sie vertrömt die Geborgenheit eines abgeliebten Kuscheltieres, auch wenn dieses Bild vielleicht ungehörig klingt. Aber ich spüre, dass man hier gut zur Ruhe kommen kann. Und nach Hause. 
Wie sehr dieser Eindruck passt, wird mir erst später klar werden. 

Die Abfahrzeit des Busses rückt näher. Quasi im Sprint eile ich durch die wichtigsten Areale des Parks, immer wieder ausgebremst von meinem fotografischen Auge, das unbedingt noch diesen und jenen Winkel mitnehmen möchte. Und in einem Bereich mit besonders vielen Nadelbäumen, riesigen Lärchen und Zypressen, kann ich einfach nicht anders als verweilen. Wie lange ich keinen Waldboden mehr unter den Füßen hatte! Fast hatte ich vergessen, wie federnd-weich man auf einem dicken Polster aus Lärchennadeln und -zapfen läuft! Ich wippe ein wenig darauf herum und lasse gleichzeitig den Blick die Stämme emporgleiten, hinauf zu den hellgrünen Kronen. Zwischen den braunen Ästen im lichtundurchdringlichen Teil der Bäume glänzen Spinnweben.
Sofort zücke ich das Smartphone, um zu recherchieren, ob ich nicht einen Bus später nehmen kann. Leider geht es nicht. Und nun rennt die Zeit wirklich. 
Ein letztes Abbremsen im Westteil des Parks: Ein großes Schild weist auf einen „Begräbniswald“, der in diesem Areal liegt, und listet Verhaltensregeln dafür auf. Um das Schild herum tanzen Schmetterlinge. Ich schaue zu den Bäumen: Das sind Gräber? Augenblicklich bin ich so fasziniert wie begeistert, denn bis zum Abschnitt „Begräbniswald“ war ich zuvor auch im Parkführer nicht gedrungen. Und diese Entdeckung hätte ich wirklich nicht erwartet. Schnell reiße ich einen Flyer aus dem angehängten Plexiglaskasten: Darüber möchte ich mehr wissen!

Vor den Busfenstern entfaltet sich erneut die Fülle des Lebens in allen leuchtenden Farben. Urlauber auf dem Weg zu den Fähranlegern Bensersiel und Harlesiel plappern fröhlich in den Sitzreihen ringsum, planen Strandbesuche und Essen. Ich ziehe den Flyer aus der Tasche. Will ich mich jetzt wirklich mit dem Tod beschäftigen? Werden mich meine Freunde nicht für akut depressiv halten, wenn ich davon erzähle? Aber ich bin es nicht, und wann sollte man sich denn sonst mit dem Tod beschäftigen, wenn nicht auf dem Zenit seines Lebens? Die Hälfte ist rum, sage ich mir. Und niemand weiß, was noch bleibt.
Freilich: Mich mit meinem eigenen Ableben zu beschäftigen, macht mir nichts aus. Zumal ich mir, da Nachkommen- und Ehepartnerlos, zwangsläufig selbst Gedanken ums Wo und Wie machen muss, wenn ich kein DIN-genormtes Sozialbegräbnis haben möchte. Ich bin nicht immer in der Lage, mir über das Wie des Sterbens Gedanken zu machen oder gar über das, was nach dem Tode kommt oder auch nicht, auch wenn ich mir da als Christ vielleicht sicherer sein sollte. Aber über die Beerdigung? Bittesehr.

Indes fällt es mir schwer, andere davon sprechen zu hören. Insbesondere Nahestehende. Ich weiß, dass es wichtig wäre, beispielsweise die Eltern zu fragen, was sie sich für einen Abschied von der Welt wünschen, aber ich habe das noch nie fertiggebracht. Man will ja nichts heraufbeschwören. Und ja, ich verdränge auch den Gedanken daran. Nach dem Motto: Wenn ich ausblende, das Eltern sterben, tun sie es auch nicht. Aber so wird das nicht sein. In sehr vielen Todesanzeigen sind die Leute schon jetzt jünger als meine Eltern, und es zerreißt mir bei jedem und jeder das Herz.
Die Tage sprach mich mein Vater auf mein potentielles Erbe an, aber so schön ich das Haus auch finde: Wenn das Eigentum daran an seinen Tod geknüpft ist, will ich es nicht haben. Und nicht einmal daran denken. 
„Ich werde es nicht verkaufen“ — dieses Versprechen zumindest konnte ich geben: Das Haus wird länger leben als wir alle, so Gott will.
Kein Gentrifizierungsbagger wird das Haus im Berliner Nordosten zugunsten irgendeines neumodischen Einheitsklotzes zerreißen, keine Abrissbirne die doppelglasigen Fenster zertrümmern, aus denen auf einem Foto von 1928 mein Urgroßvater schaut. Letzterer liegt keine 600 Meter vom Haus entfernt beerdigt: Und so schließt er sich wieder, der vielbesungene „Circle of Life“.

Nun also, der Friedwald in Lütetsburg mit seiner heimeligen, katholischen Kapelle. Wenn Langeoog die Insel fürs Leben ist, denke ich, warum sollte sie zwangsläufig auch die Insel fürs Sterben sein? Natürlich möchten die meisten Menschen dort beerdigt werden, wo sie — zumindest in summa — glücklich waren, wo ihr Zuhause war. Ich hege keinen Zweifel daran, dass dieser Platz Langeoog ist. Aber will ich auf den Dünenfriedhof, wo sommers Heerscharen lärmender Touristen zu Lale Andersen pilgern, wo Menschen picknicken und mit Fahrrädern herumsausen, jede Friedhofsordnung missachtend? Will ich eines dieser mitleiderregenden Gräber werden, um die sich sichtbar niemand mehr kümmert? Und eine Seebestattung? Schön, aber viel zu teuer. Der Wald, denke ich, ist eine gute Idee. Man kann sich sogar den Baum aussuchen, unter dem man bestattet wird, mit Namensplakette oder ohne. Und niemand sieht, ob man noch Angehörige hat oder nicht, ob man den Leuten egal ist oder nicht, weil diese Gräber per se nicht geschmückt werden. Im Friedwald gibt es keine Beliebtheitswettbewerbe mehr. Nicht, dass die einem nach dem Tode nicht ohnehin egal wären — aber man kann ja nie wissen.
Die dem Flyer beigelegte Postkarte mit der Bitte um „mehr Informationen“ fülle ich aus. Nach dem Baumaussuchen könnte man doch auch im Schlossparkcafé etwas Leckeres genießen oder auf dem benachbarten Golfplatz eine Partie spielen, wirbt die Postkarte. Fast muss ich darüber lachen. Aber muss der Tod auch immer todernst sein? Die Karte ist auch nicht schwarz, stelle ich überdies fest: Es ist ein sattes Tannengrün. 
Als ich danach den Kopf hebe, um erneut aus dem Busfenster zu sehen, fühle ich mich selten lebendig.