Morgenrunde

Ich bin viel zu früh wach. Schlaflos im Bett liegend, erwarte ich den Anbruch des Tages. Als endlich Licht durch die Vorhänge sickert, stehe ich auf. Vor dem Fenster breitet sich ein pastellfarbener Morgen. Im Gully rauscht es, ansonsten ist es still. Sogar die Vögel halten sich zurück. Ich sehe ein paar Schwalben in der Luft; weiter hinten keckert irgendwo ein Fasan. Die Luft ist kühl und klar — in diesen Tagen eine Kostbarkeit, ebenso wie die Stille.
Mein Balkon macht mir in diesem Jahr keine rechte Freude, denn auch auf Langeoog spielt das Wetter ein wenig verrückt. Es ist entweder schwül und stickig oder zu kalt und nass, meine Blumen gedeihen nicht. Ich schaue auf die jämmerlichen, braunfleckigen Überreste und fühle mich zugleich schlecht, weil mein Hadern mit den verkümmerten Zierpflanzen zweifelsohne dekadent ist; angesichts der Verheerungen, die das Wetter in anderen Teilen Deutschlands angerichtet hat.
In der Nacht hat es geregnet. Von den reifenden Früchten am Apfelbaum perlen die Tropfen. Auch die ersten Brombeeren sind schon da, und die allgegenwärtigen Kartoffelrosenpflanzen tauschen zunehmend ihre Blütenpracht gegen leuchtendrote Hagebutten ein, obschon an manchen Wegen noch immer Rosenduft über die Insel weht. Der Sommer will noch nicht gehen, aber der Herbst kratzt schon an der Tür.
Ich genieße meinen Kaffee in der Stille, bis der Rest der Insel aufwacht. Die Stunden sind kostbar.

Gegen 8 Uhr mache ich mich auf Richtung Strand. Gestern Nachmittag standen die Räder am Übergang Gerk-sin-Spoor bis zum Friedhof. Immer noch haben zwei große Bundesländer Ferien; Langeoog platzt aus allen Nähten.
Und dann gibt es doch tatsächlich immer noch Leute, die von „einsamer“ Insel reden.

Auch jetzt kommen mir schon reichlich Menschen entgegen, überwiegend Sporttreibende oder Langeooger:innen, die zur Arbeit fahren. Der Spatz, den ich zwischen farbenfrohen Vogelbeeren zu fotografieren versuche, lässt sich glücklicherweise auch von zwei plaudernden Sportfreunden nicht verscheuchen. Er kommuniziert mit Artgenossen, die sich tiefer im Geäst verkrochen haben. Am Strand herrscht noch Ordnung: Die Strandkörbe in Reih und Glied, die Mülleimer geleert. Ein Mitarbeiter der Inselgemeinde kommt mir mit stinkenden, schweren Säcken entgegen — die Ausbeute des vergangenen Ferientags. Eine anstrengende Arbeit, von der meist erst Notiz genommen wird, wenn sie liegen bleibt.

In der Kirche ist bald Anbetung, es ist Herz-Jesu-Freitag. Neben dem Wasserturm sehe ich das vertraute Dach in den blauen Sommerhimmel ragen. Die Monstranz strahlt mit der Morgensonne um die Wette; die Pastoralreferentin singt schön, der Rest schief. Aber immerhin kniet sie heute nicht alleine vorm Allerheiligsten. Im Gegenteil: Immer wieder kommen Menschen herein, die Kerzen anzünden, ins Fürbittbuch schreiben, den Psalmen lauschen oder sich ebenfalls eine Weile vor die Monstranz knien.
Eine junge Frau im Sportdress, groß, schweißglänzend und mit der Figur einer Athletin, joggt in die Kirche, bekreuzigt sich, auf der Stelle weiterjoggend, und zündet, ebenfalls joggend, eine Kerze an. Dann joggt sie wieder hinaus und ich nehme das aus den Augenwinkeln halb amüsiert, halb seltsam berührt zur Kenntnis: Für GOTT ist Zeit. Sogar im täglichen Trainingspensum.

Auf den Dünenwegen hinter der Kirche reift der erste Sanddorn. Ein Ehepaar geht mit Hund und zwei sehr teuer aussehenden Rassekatzen spazieren. Die Frau versucht, einen der Perser herbeizurufen, aber natürlich funktioniert das nur beim Hund. Die Edelkatze lässt ein divenhaftes „Miau“ vernehmen und dreht ihr eigenes Ding.

Man kann doch einige Kuriositäten erleben in der Saison, denke ich, und dass sich die Schlaflosigkeit so zumindest gelohnt hat. Wenig später peitscht wieder Regen an mein Fenster, und so wird es noch lange bleiben.

Sommerahnung

Es ist Mitte Juni und ich bin das erste Mal in diesem Jahr im Meer. Mit den Füßen. Dass weniger verfrorene Naturen wie beispielsweise meine Freundin schon ganz drin waren: Geschenkt. Für mich war es bisher noch entschieden zu kalt, denn der Sommer ließ sich extrem viel Zeit in diesem Jahr — als hätte die Pandemie auch die Jahreszeiten zum Stillstand gebracht.
Dabei geht es in Sachen Pandemie sogar seit einiger Zeit wieder vorwärts, in positivem Sinne. Die Inzidenzwerte sinken erfreulich, der Tourismus läuft wieder an, das ganz große Chaos blieb dabei aus. Dennoch bedarf auch das wieder einer gewissen Eingewöhnung, nach sovielen Monaten der Stille, und zumindest auf den olfaktorischen Beitrag zur sommerlichen Wiederbelebung der Barkhausenstraße — einer Mischung aus Schweiß, Sonnencreme und Fischfrittierfett — hätte ich gerne ganz verzichtet.

Direkt am Flutsaum, wo ich nun auf Tuchfühlung mit der noch kühlen Nordsee gehe, sind Lärm und Menschengerüche zum Glück noch weit weg. Es ist noch verhältnismäßig früh am Morgen und es sind erst wenige Menschen unterwegs. 
Am Strandübergang bei der Kirche turnt eine Kinderkurgruppe. Die Rettungsschwimmer beziehen ihre bunten Wachhäuschen und rollen die Fahnen aus.
Hier im Westen der Insel riecht das Wasser noch ein wenig schlickig und ist von graubrauner Farbe. Die See steht ruhig, die Brandung umspielt gerade einmal meine Knöchel. Je weiter ich nach Osten laufe, desto mehr stellt sich ein Urlaubsgefühl ein. Der Untergrund wird weißer, das Meer blauer. Erste Familien stellen ihre Strandmuscheln auf. Kleine Kinder, um Längen mutiger als ich, rennen begeistert in die Fluten; wachsame Elternteile hintendran. Wie schön das wäre, denke ich, jetzt auch einfach zur Gänze hiersein zu dürfen. Mit Kopf und Herz. Ohne Termine. Ohne Haushalt. Ohne Verflichtungen und ohne Sorgen: Urlaub auf Langeoog. Einst gehörte ich hier auch zu den Touristen. Mit einem leisen Erschrecken stelle ich fest, dass die Erinnerung an diesen Zustand schon beinahe verblasst ist — in meinem achten Inseljahr.
Das Feriengefühl durchströmt mich nur wenige wohltuende Sekunden lang. Dann aber wird mir klar, dass ich, wie immer während der Saison, nur mit den Füßen im Wasser bin. Meine Gedanken sind längst bei all den noch unabgehakten Kästchen auf der To-Do-Liste, mein Herz indes unter dem Dach eines Hauses, das ich bereits vom Strandübergang sehen kann, auf den ich nun zusteuere. Die Freundin ist krank und schaut mit ihrem Schniefnäschen elend unter der Decke hervor. Durch ihre Südfenster knallt eine unbarmherzige Sonne, die am Strand noch so wunderschön gewesen war. Auch das gehört zum Inselalltag dazu: Man hat hier eben nicht nur gute Zeiten. Aber man leidet zweifelsohne in schöner Umgebung.

Später am Tage gehe ich noch einmal zum Strand. Jetzt feiert auch die kurze Hose Premiere, die bald ein Jahr im Souterrain meines Kleiderschrankes vergraben war. Ich errinere, dass in meiner Kindheit manche ältere Leute noch „Spielhosen“ zu Shorts sagten, weil es diesen Anglizismus damals einfach noch nicht gab. Spielhose. Ich muss schmunzeln; schließlich steckt nicht weniger als ein 45jähriger darin. Andererseits gefällt mir der Begriff, denn er verleiht meinem Strandoutfit erneut diesen wohltuenden Hauch sommerlicher Leichtigkeit.
Es ist voll geworden. Strandkörbe und Schaukeln sind besetzt; ein Meer farbenfroher Strandzelte zittert im Wind. Ich muss lange warten, bis der Plankenweg am Strandübergang frei für ein Foto ist; die Kolonne von Urlaubenden, die mir wie auf einer Rolltreppe entgegenbefördert wird, ist lang und reißt kaum ab. Möwen kreisen über der Szenerie, der Himmel ist leuchtend blau.
Lediglich ein paar weiße Wolkenschleier künden von der prognostizierten Rückkehr zur Kälte heute Nacht. Ich kehre bald wieder um.

Entlang der Wanderwege haben sich die Kartoffelrosen in vornehm-samtiges Bischofspurpur gekleidet. Ihr Duft webt sich durch die Dünentäler, und über allem liegt der Gesang der Lerchen. Unzählige der zierlichen Vögelchen sehe ich in die Lüfte steigen, und abends singt hier, verborgen in dichtem, dornigen Gestrüpp, die Nachtigall.

Es war ein seltsames Frühjahr, beinahe würde ich sagen: Der Frühling 2021 fiel auf der Insel aus. Klar: Es gab ein paar sonnige Tage. Es gab blühende Bäume. Es gab aprikosenfarbene Morgen, an denen die Luft erfüllt war vom Gesang der Schwarzkehlchen und eine Ahnung von Sommer mit dem Meer um die Wette glitzerte. Aber die meisten Tage war es kalt und grau, und wenn es nicht grau war, war es trotzdem kalt. Sogar dann, als der Rest der Republik (und angrenzende Länder) bereits bei weit über 25°C buk. Mit eingeschalteter Heizung und unter einem Berg Daunendecken schaute ich mir das Foto eines Freundes aus Österreich an: Er stand lachend am frischbefüllten Pool in seinem Garten und hielt eine Hand ins Wasser; Sommersprossen und erste Bräune im Gesicht. Ich freute mich für ihn; dennoch kam es mir vor, als befände er sich in einem Paralleluniversum.

Doch nun ist das große Frieren wohl fürs Erste vorbei. Der nächste Kälteeinbruch währt nur kurz und die Sonne wird unbeirrt vom Inselhimmel leuchten. Vergnügte Kinder werden sich in den Wellen tummeln, Genervte Radfahrende sich auf übervollen Straßen anblöken; vor den Fischbrötchenbuden und Eisdielen wird es lange Schlangen geben und gierige Möwen werden mit ebendiesen Leckereien kurzen Prozess machen. Ich werde vielleicht irgendwann bis zu den Knien ins Wasser gehen; irgendwann, in irgendeiner dem Alltag abgerungenen Stunde. Die Freundin wird wieder gesund und in ihrem neuen Badekleidchen schon weit rausgeschwommen sein. Ich werde die auf ihrer Haut glitzernden, aber eiskalten Wassertropfen ebenso fürchten wie wunderschön finden. Sand auf der Decke, Sand in den Haaren, Sand überall. Ein strahlendes Lachen, zu warme Getränke und wärmendes Glück. Für einen Moment werden wir dabei aussehen wie ganz normale Urlaubende. Und wenn wir Glück haben, fühlen wir uns sogar so.

Momentaufnahme, Normalität

Die Straße vor meinem Haus gleicht zuweilen einer Autobahn. Ohne Autos versteht sich — aber auch mit Fahrrädern, E-Karren und Pedelecs herrscht tagsüber soviel Betriebsamkeit, dass es oftmals dauert, bis ich mit meinem eigenen Fahrrad aus der Einfahrt komme; von Straßenquerung gar nicht zu reden. Seit knapp einer Woche ist die Insel wieder für Touristen geöffnet, wenn auch noch mit Einschränkungen. Tagesgäste sind noch nicht erlaubt, Hotel- und Pensionsurlauber werden in Kürze hinzukommen. 
Doch auch jetzt ist es schon so voll, dass es mir scheint, als hätte ich den unwirklich stillen Frühling nur geträumt. Es gibt wieder spürbar Saisonbetrieb auf der Insel. Und doch ist noch lange nichts normal.

In den Supermärkten herrschen strikte Verhaltensregeln. Man sieht viel Disziplin, aber auch einiges an Achtlosigkeit. Es gibt rote Punkte auf dem Boden als Abstandshalter, die man eigentlich nicht übersehen kann. Etliche stellen sich auch wie vorgesehen darauf: Was dem Hintermenschen aber nur soweit nützt, wie die hinzugekommende Familie des Anstehenden nicht um diesen herumtanzt und sich so dazwischenquetscht: Laute (=aerosollastige) Diskussionen darüber, was man noch einzukaufen vergessen haben könnte, tun ihr Übriges. In der Nachbarschaft gehen Einladungen zu Gartenfesten herum: Zweitwohnungsbesitzende aus allen Bundesländern scharen sich dabei wohl eher ohne Mindestabstand um den Grill, und am Abend sieht man weinselige Runden im Dorf die Köpfe zusammenstecken. Ein Kind in der Warteschlange für die Fähre rennt zu fremden Mitreisenden und macht mit speichelnassen Lippen Furzgeräusche an deren Hosenbeinen. Die Geschwister schreien gelangweilt aus weit aufgesperrten Rachen. Die mundschutzverhüllte Mutter sieht müde und sehr verzweifelt aus. 

Erneut fällt mir nicht ohne Unbehagen auf, wie sehr ich meine Mitmenschen neuerdings auf ihre Virenschleuderqualitäten hin überprüfe. Anstatt mich — wie sonst üblich — über den Inhalt unfreiwillig mitgehörter Gespräche oder mieses Benehmen aufzuregen, ist es nun der potentielle Tröpfchenausstoß, der meinen Unmut schürt, und ich frage mich, wann mich der Virus wohl erwischen wird. „Ob“ frage ich mich dagegen nicht mehr.
Es ist schwer, optimistisch zu sein dieser Tage.
Und es ist eine seltsame Saison: Fremd und beängstigend, auch wenn sich fast alle Langeooger Geschäftstreibenden — der wirtschaftlichen Not gehorchend — große Mühe geben, dem Wahnsinn einen Normalitätsanstrich zu verleihen, so gut es im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben geht.

Jeder weiß, dass dieser Anstrich dünn ist. Doch auch an mir nagt zunehmend die Sehnsucht nach „Business as usual“. Nicht in Bezug auf das gewohnte Gästeaufkommen, das nach meinem Empfinden in der Hauptsaison inkl. Tagesgästen längst den Rahmen des Verträglichen sprengt. Nicht in Bezug darauf, dass ich es plötzlich schätzen würde, wenn mir Leute zu dicht auf die Pelle rücken. Und schon gar nicht in Bezug auf große Menschenansammlungen. Was diese Dinge betrifft, so behielte ich einige der Corona-Einschränkungen gerne bei. Aber mir fehlt die Leichtigkeit in allen Dingen: Das Unbekümmerte. Mir fehlt die Zeit, als Mitmenschen maximal nervtötend waren, aber i.d.R. keine physische Bedrohung darstellten. Und mir fehlt die Zeit, in der ich noch nicht damit rechnen musste, vielleicht selbst einmal am Tod eines älteren oder vorerkrankten Mitmenschen Schuld zu sein: Durch ein zu feuchtes nettes Wort, durch eine unbedarfte Nähe. Und ich wünschte, ich hätte nie eine Zeit kennengelernt, in der ich meine Freundin mit einem Kuss auf die Intensivstation befördern könnte oder meine Eltern mit einer Umarmung auf den Friedhof. Wie kann man, frage ich mich, die Schuld aushalten, vielleicht 14 Tage am Stück fröhlich Viren verbreitet zu haben, bevor man selbst etwas von der Infektion bemerkte? Wenn es mich erwischt, denke ich, dann möchte ich bitte wenigstens gleich krank sein.

Ich weiß, dass nichts normal ist. Und doch ist die Sehnsucht nach einer Illusion von Normalität, von Unbeschwertheit so groß, dass wir an Himmelfahrt einen Ausflug wagen. Es ist der bislang wärmste Tag in diesem Jahr, die Bedingungen für einen Hauch von Feriengefühl könnten nicht besser sein.
Im Schlosspark, den wir besuchen, überdachen uns die sonnendurchfluteten Kronen hoher, alter Eichen; unzählige Vögel singen unter dem leuchtend grünen Gewölbe, als wäre es ein Konzerthaus.
Die älteste Eiche im Park zählt 300 Jahre. Sie hat beide Weltkriege überlebt, Blitzeinschläge und unzählige Krankheiten. Was sind wir dagegen schon, frage ich mich, den mächtigen Stamm betrachtend.
Wir picknicken auf einer Bank gegenüber, den majestätischen Baumriesen auf seiner Wiese im Blick. Die Eiche wirkt nicht einsam, wie sie da steht — eher so, als machten ihr alle anderen Bäume respektvoll Platz.

Die Rhododendronblüte ist fast vorbei, aber überall im Park riecht es nach Blumen und die Azaleen stehen noch in voller Farbenpracht. Eine nette ältere Dame fotografiert uns davor. Es könnte ein ganz normaler Ausflug sein: Menschen die das Wetter genießen, das Grün, die Blumen und wundervollen Sichtachsen. Vom Schloss her hören wir die Pfauen schreien.

Aber es ist nicht normal. Im Schlossparkcafé herrscht eine strenge, aber gesittete Atmosphäre. Wir stellen uns mit Abstand und Mundschutz an, alle paar Meter steht ein Desinfektionsmittelständer für die Wartenden, Speisekarten liegen nur am Tresen aus. Viele Tische und Stühle sind weggeräumt oder mit Kunststoffband abgesperrt.
Ich erinnere die vielen Male, die ich alleine hier war oder mit meinen Eltern. Wie schön man in diesem Café mit seinen alten Weinranken die Zeit vergessen konnte oder in seinem herrlichen Außenbereich die Sonne genießen; dabei in einem neuen Buch stöbernd, das man im hübschen Parklädchen erworben hatte. Auch heute ist es schön, aber vor endlosem Müßiggang warnt das Gewissen: Sehr viele Menschen warten auf nur wenige Tische, und so ziehen wir bald weiter. Immerhin, es ist der erste Festlandsbesuch nach drei Monaten. Der erste Cafébesuch. Eine hauchzarte Illusion von Normalität — in Dingen, die man vor der Corona-Krise nie in Frage gestellt hätte.

 

 

Momentaufnahme, Wiederbelebt

Im Haus auf der anderen Seite der Straße brennt wieder Licht. Auch zur Gartenseite hin sind Menschen eingezogen; von der nachmittäglichen Lektüre ließ mich Babygeschrei aufblicken. Ich sah ein Mädchen, das die Jalousie in der Ferienwohnung gegenüber eilends hinunterließ, als ich hinübersah. Die Insel hat sich in Rekordtempo wieder gefüllt.

Noch weht leichter Fliederduft durchs Dorf, aber die Rosen sind bereits in voller Blüte. Der Frühling macht Platz für den Sommer. Es ist vertraut, die Straßen und den Strand um diese Zeit voller Menschen zu sehen, und dennoch ist es zugleich befremdlich. Zum einen, weil die Zeit der absoluten Ruhe und Abgeschiedenheit so lang war — zum anderen, weil man nicht ins Detail gehen muss, um zu sehen, dass eben doch nichts ist, wie es war.
Die Tische in den Cafés stehen weit auseinander, die Bedienungen tragen Mundschutz. In den Läden gibt es Zutrittsbeschränkungen, je nach Personenzahl, und auch ich fummele bei jedem Supermarktbesuch einen Mundschutz aus der Tasche und desinfiziere die Hände, wo es nur geht. Die Kellnerinnen und Kellner tun mir Leid, denn ich schnappe in der Regel schon nach kurzem Einkauf nach Luft und weiß nicht, wie man stundenlanges Bedienen in der Sonne, bei ohnehin schweißtreibender und anstrengender Arbeit, damit aushält. Zumal man durch den Stoff auch schlecht verstanden wird.
Auch Gottesdienste gibt es wieder, obwohl noch kein Priester da ist. Es werden Andachten gehalten, so gut es geht, aber es stimmt mich traurig, dass niemand singt. Immerhin ein paar Gebete und Psalmen sprechen wir gemeinsam, aber selbst das tue ich kaum noch ohne schlechtes Gewissen und so leise wie möglich. War früher bei Gesprächen der Inhalt das, womit ich mich am kritischsten auseinandersetze, so ist es nun die vermutete Aerosolwolke. Es ist ein bisschen absurd: Schließlich sind die gesunden Aerosole am Meeressaum das Pfund, mit dem ein Nordseeheilbad touristisch wuchert. Die gesunden, winzigen Salzluftpartikelchen, die bis tief ins Bronchiengeflecht und in die Lunge vordringen und dort heilsame Wirkung entfalten sollen. Die beim Sprechen ausgestoßenen Aerosole dagegen könnten mich bei entsprechender Viruslast töten. Und jeden anderen Menschen auch.
Hinzu kommt die Gefahr der Übertragung durch Schmierinfektion. Eine Miteigentümerin, kurz nach Inselöffnung aus NRW zu Besuch, parkte kurzerhand (und ohne Rücksprache) mein Fahrrad um — und ich erwischte mich bei dem Gedanken, ob jetzt wohl ein Import-Virus am Lenker klebt. Gleiches frage ich mich beim Haustürgriff, den nun wieder wechselnde Feriengäste anfassen. Ich höre sie im Treppenhaus rennen und rufen und muss dabei wieder an die Aerosolwolken denken, die nun minutenlang durch den Flur wabern, obwohl die Leute längst in den Wohnungen verschwunden sind. Man muss aufpassen, nicht paranoid zu werden dieser Tage; sich vom Virus nicht zu sehr im Alltag bestimmen zu lassen, jenseits der gesetzlichen Verpflichtungen. Aber es ist nicht einfach, zumal mich der Pollenallergie wegen ohnehin die Kurzatmigkeit plagt. Ich kann einfach keine Lungenkrankheit on top gebrauchen, so sieht es aus.

Mein Urlaub ist aufs nächste Jahr verschoben. „Wenn wir dann noch leben“, sagt mein Vater, und ich muss wohl kaum erwähnen, dass ich sowas nicht hören will. Auch wenn ich es längst selber denke. Ich kann es nicht verleugnen: Ich habe Angst. Ich sehe die Vulnerabilität meiner Eltern, die meiner Freunde und meine eigene klarer vor Augen denn je, wiewohl es natürlich nach wie vor eine Million anderer Dinge gibt, an denen wir bis zum nächsten Mai sterben könnten. Aber COVID-19 ist omnipräsent.

Inzwischen kommt es mir ewig vor, die Insel nicht mehr verlassen zu haben; in Wirklichkeit waren es nur rund 2,5 Monate. Zwar durften Insulaner die ganze Zeit fort, aber ich wollte aus Vernunftgründen keine Überfahrt riskieren; davon, dass Ausflüge nonsense sind, wenn man nirgends einkehren kann und kaum ein Verkehrsmittel im Normaltakt fährt, ganz zu schweigen.
Ich würde gern meine Eltern besuchen, aber eine stundenlange Zugfahrt mit Maske ist bei meinen Atemproblemen ebenfalls undenkbar. Wir machen lose Pläne für den Frühsommer; ein Treffen irgendwo in der Mitte zwischen beiden Wohnorten, und ich kann nur beten, dass es bald dazu kommt und dass wir auch dann noch alle gesund sind.

Nichts ist selbstverständlich dieser Tage. Umso dankbarer bin ich für jedes bisschen Leichtigkeit, Nähe und Normalität in diesen Tagen. Meiner Freundin habe ich ein eigenes Regal ins Bad gebaut. Ich mag es, ihren Kosmetikkram dort zu sehen, weil er Beständigkeit verheißt und Wiederkehr. Und doch habe ich auch um sie Angst, denn aufgrund ihres Berufes mit viel Menschenkontakt käme sie mit dem Virus wohl noch eher in Berührung als ich. Eine liebe Bekannte sah ich heute mit ihrer alten Mutter im Dorf, die auf der Insel zu Besuch ist. Ohnehin eine zierliche Dame, kam die Mutter mir dieses Mal besonders zerbrechlich vor, und ich ahnte einmal mehr, dass man gerade jetzt eigentlich keine Chance versäumen sollte, um noch etwas Zeit mit denen zu verbringen, die man liebt. Die gemeinsame Zeit läuft auch ohne Coronavirus viel zu schnell ab, und ich muss aufpassen, nicht zu fatalistisch zu werden dieser Tage.

Corona, Corona … ich gebe zu: ich kann es selbst kaum noch hören und lesen und ich wünschte, ich würde dieses Buch nicht bis zur Hälfte mit diesem Thema füllen. Andererseits: Schriebe ich nicht darüber, so würde man in ein paar Jahren meinen, ich hätte den Frühling und Sommer 2020 auf einem anderen Planeten verbracht. Das Jahr lässt sich nicht mehr ohne den Virus denken.

Ablenkung tut Not. Nächste Woche wollen wir einen Ausflug wagen; im September wartet das Exerzitienhaus im Wald. In bade mein Herz in Vorfreude und atme einmal tief durch.

Momentaufnahme, Urlaubsträume

In zwei Wochen wäre ich in Polen gewesen. Genauer: Masuren, Ostpreußen. Die Heimat meiner Vorfahren. Gräfin von Dönhoffs Kindheitserinnerungen las ich längst, ebenso Ralph Giordanos großartiges „Ostpreußen Ade“. Auch Lenzens „Suleyken“ steht ausgelesen neben meinem Bett. Ich pflügte mich — trotz veritabler Abneigung gegen den zeitgenössischen Ableger — durch Jahrhunderte an Deutschordensgeschichte, um vor der mächtigen Marienburg nicht dazustehen wie der berühmte Ochs vorm Tor. Ich kaufte sündteure High-Tech-Ohrstöpsel gegen Vatterns Schnarchen im zu teilenden Hotelzimmer und ein gewaltiges Waffenarsenal gegen die Legionen masurischer Mücken, die wohl so Manchem schon laue Abende an ansonsten wunderschönen Seen verleidet haben. Ich frischte meine 8 Worte Polnisch auf und träumte von Eisvögeln im Schilf, von Schmetterlingwiesen, abgelegenen Gehöften, silbrigen Seewellen, prachtvollem Katholizismus und Unmengen Historie. Von Kahnfahrten, Kanälen mit Schwänen, Kalorienbomben mit Sauerkraut und träumenden Wäldern:
Vorbei.
Ostpreußen ist nicht. Und der Grund heißt Corona.
Es geht mir in dieser Hinsicht also nicht besser als es den unzähligen Langeoog-Fans geht, die seit Wochen mit den Hufen scharren und nicht wissen, ob ihr Urlaub nun stattfinden wird oder nicht. Einige davon können nun aufatmen, denn ab Montag gibt es wieder Touristen auf der Insel; die Zweitwohnungsbesitzer dürfen bereits seit Mittwoch wieder anreisen. Etliche ließen sich nicht zweimal bitten. Heute ist Donnerstag.

Am Mittag wandere ich einmal mehr durch eine unfassbar schöne Stille, die mir Gebet und Gesang zugleich ist. Am Strand höre ich nichts außer dem leisen Rauschen der Wellen; es gibt kaum Wind. Die Sonne wärmt zumindest ein wenig in diesem noch viel zu kalten Mai; hungrige Möwen werfen ihre kreisenden Schatten auf den Sand. Kein Fischbrötchen nirgends: Auch für die Tiere ist dieser Frühling ungewöhnlich. Ob die überhaupt noch wissen, wie man sich selbst Nahrung sucht?, frage ich mich und werfe einen Blick nach oben. Das Möwengeschwader zeichnet sich leuchtend weiß vor einem überwältigend blauen Himmel ab. Satt, dunkel, intensiv — ein Blau, wie man es nur auf kostbarsten Darstellungen der Gottesmutter findet; ein Marienmantelblau im Marienmonat Mai. Aber ohne Marienburg. Szkoda!

Ich liebe Langeoog. Aber der geplatzte Traum von der Reise nach Masuren betrübt mich. Schon lange war keine Reise mehr so lange vorher geplant, so gründlich vorbereitet, von so viel Vorfreude begleitet gewesen. Natürlich: Man kann das nachholen. Und ja, es ist nur ein Urlaub. Was ist das schon gegen das höchste aller Güter, die Gesundheit, die meines Vaters noch dazu? Es ist nunmal höhere Gewalt, und ich kann nur Gott danken, dass der Corona-Kelch bislang an meinem engsten Umfeld vorüberging. Wie lange der Virus die Insel noch weitgehend verschonen wird? Der Realist in mir gibt den LangeoogerInnen nach der Wiederbelebung des Tourismus nur noch wenige Wochen. Der Asthmatiker in mir hat Angst und tastet nach dem Inhalator in seiner Tasche.

Auch den Herbsturlaub hatte ich schon gebucht: Ein weiterer Traum von Wald und Stille; strenge Schweigeexerzitien in einem abgelegenen Konvent. „Hier gibt es kein Mobilfunknetz, wir sind wirklich mitten im Wald“, erklärte der Gastpater beim Vorgespräch, „nur für den Fall, dass Sie es heimlich versuchen.“ „Hatte ich nicht vor“, erklärte ich. Aber damals hatte ich ja auch noch keine Angst um die Gesundheit mir lieber Menschen, um meinen Arbeitsplatz, und eine Freundin hatte ich auch noch nicht. Meint: Sogar für jemanden wie mich, der sich um direkte Kommunikation nicht übermäßig reißt, bekam der Terminus „in Verbindung bleiben“ doch etwas höhere Priorität in den letzten Wochen. 
Dennoch möchte ich hin; vielleicht sogar mehr denn je. All die Ereignisse der letzten Wochen, all das Neue und Ungewohnte, das Schöne und Schreckliche — ich sehne mich danach, all das in Ruhe sortieren und verarbeiten zu können; ebenso wie danach, noch einmal aus neuer Perspektive an Gott herantreten zu können und Verpasstes nachzuholen.
Ich gehe täglich für ein stilles Gebet zur Kirche, aber die Sehnsucht nach einer Eucharistiefeier und der Schönheit katholischer Liturgie ist groß.

Die Unruhe dieser Zeit und das Unstete, das diese Krise in den Seelen der Menschen anzurichten vermag, mehrt in mir die Sehnsucht nach Stille. Nach dem Maximum an Stille, das mir ein Urlaub bieten kann. Eine absurde Sehnsucht in diesen Tagen auf Langeoog — eigentlich. Denn ist es nicht so still und schön wie nie zuvor in einem Frühling? Im Dorf blüht der Flieder; erster Rosenduft weht durch die Dünentäler, die nach den Regengüssen der letzten Tage wieder prachtvoll ergrünt sind. Rehe springem einem ohne Scheu in den Weg, Fasane weichen kaum noch vom Fleck, wenn man sich ihnen nähert. Mensch und Tier funktionieren hier als Schicksalsgemeinschaft, solange der Mensch nicht zuviel Raum einnimmt. Aber bald schon wird wieder Lachen, Schreien und Fahrradklingeln durch die Straßen hallen; bald wird die einsame Krähenspur am Strandübergang von hundert Menschenfüßen verwischt sein. Bald werden sich auch die Kassen der Inselgemeinde, der Geschäfts- und Privatleute wieder füllen; für das Überleben auf der Insel notwendig, zweifelsohne.
Aber die Stille war schön. Und die Träume waren es auch.

Den berüchtigten Inselkoller, den mir hämische Bekannte vor meinem Umzug nach Langeoog schon nach drei Wochen an den Hals wünschten, hatte ich bisher noch keinen einzigen Tag. Ich will nicht woanders leben. Nie. Und obwohl die Vorfreude auf viele Reisen und Ausflüge groß war, übertraf bislang noch nichts die Freude der Heimkehr. „Sechs Jahre — und ich kann es manchmal immer noch nicht fassen, dass das hier kein Urlaub ist. Dass ich wirklich hier lebe“, sage ich beim abendlichen Strandspaziergang und drücke den Menschen in meinem Arm noch etwas fester an mich. Wir können das jeden Tag haben. Ich muss nicht mehr stundenlang fahren und Unsummen dafür ausgeben, um am Meer zu sein. Ich gehe einfach die Straße hoch; manchmal allein. Manchmal nicht. Und dann liegt es vor mir, in all seiner Pracht; im Wechsel der Jahreszeiten, atemberaubend schön in einfach jedem Zustand. Ob sturmzerwühlt, in frühlingsblauer Unschuld oder grau verregnet: Ich liebe das Meer.
Nur manchmal, da träume ich mir die Umrisse eines Sees in die glitzernde Wasserfläche. Mit Schilf an den Ufern und Eisvögeln. „Und schau mal, die Wolken heute“, sage ich zur Freundin: „Sehen sie dort nicht aus wie die Spitzen eines Nadelwaldes?“