Ich bin viel zu früh wach. Schlaflos im Bett liegend, erwarte ich den Anbruch des Tages. Als endlich Licht durch die Vorhänge sickert, stehe ich auf. Vor dem Fenster breitet sich ein pastellfarbener Morgen. Im Gully rauscht es, ansonsten ist es still. Sogar die Vögel halten sich zurück. Ich sehe ein paar Schwalben in der Luft; weiter hinten keckert irgendwo ein Fasan. Die Luft ist kühl und klar — in diesen Tagen eine Kostbarkeit, ebenso wie die Stille.
Mein Balkon macht mir in diesem Jahr keine rechte Freude, denn auch auf Langeoog spielt das Wetter ein wenig verrückt. Es ist entweder schwül und stickig oder zu kalt und nass, meine Blumen gedeihen nicht. Ich schaue auf die jämmerlichen, braunfleckigen Überreste und fühle mich zugleich schlecht, weil mein Hadern mit den verkümmerten Zierpflanzen zweifelsohne dekadent ist; angesichts der Verheerungen, die das Wetter in anderen Teilen Deutschlands angerichtet hat.
In der Nacht hat es geregnet. Von den reifenden Früchten am Apfelbaum perlen die Tropfen. Auch die ersten Brombeeren sind schon da, und die allgegenwärtigen Kartoffelrosenpflanzen tauschen zunehmend ihre Blütenpracht gegen leuchtendrote Hagebutten ein, obschon an manchen Wegen noch immer Rosenduft über die Insel weht. Der Sommer will noch nicht gehen, aber der Herbst kratzt schon an der Tür.
Ich genieße meinen Kaffee in der Stille, bis der Rest der Insel aufwacht. Die Stunden sind kostbar.
Gegen 8 Uhr mache ich mich auf Richtung Strand. Gestern Nachmittag standen die Räder am Übergang Gerk-sin-Spoor bis zum Friedhof. Immer noch haben zwei große Bundesländer Ferien; Langeoog platzt aus allen Nähten.
Und dann gibt es doch tatsächlich immer noch Leute, die von „einsamer“ Insel reden.
Auch jetzt kommen mir schon reichlich Menschen entgegen, überwiegend Sporttreibende oder Langeooger:innen, die zur Arbeit fahren. Der Spatz, den ich zwischen farbenfrohen Vogelbeeren zu fotografieren versuche, lässt sich glücklicherweise auch von zwei plaudernden Sportfreunden nicht verscheuchen. Er kommuniziert mit Artgenossen, die sich tiefer im Geäst verkrochen haben. Am Strand herrscht noch Ordnung: Die Strandkörbe in Reih und Glied, die Mülleimer geleert. Ein Mitarbeiter der Inselgemeinde kommt mir mit stinkenden, schweren Säcken entgegen — die Ausbeute des vergangenen Ferientags. Eine anstrengende Arbeit, von der meist erst Notiz genommen wird, wenn sie liegen bleibt.
In der Kirche ist bald Anbetung, es ist Herz-Jesu-Freitag. Neben dem Wasserturm sehe ich das vertraute Dach in den blauen Sommerhimmel ragen. Die Monstranz strahlt mit der Morgensonne um die Wette; die Pastoralreferentin singt schön, der Rest schief. Aber immerhin kniet sie heute nicht alleine vorm Allerheiligsten. Im Gegenteil: Immer wieder kommen Menschen herein, die Kerzen anzünden, ins Fürbittbuch schreiben, den Psalmen lauschen oder sich ebenfalls eine Weile vor die Monstranz knien.
Eine junge Frau im Sportdress, groß, schweißglänzend und mit der Figur einer Athletin, joggt in die Kirche, bekreuzigt sich, auf der Stelle weiterjoggend, und zündet, ebenfalls joggend, eine Kerze an. Dann joggt sie wieder hinaus und ich nehme das aus den Augenwinkeln halb amüsiert, halb seltsam berührt zur Kenntnis: Für GOTT ist Zeit. Sogar im täglichen Trainingspensum.
Auf den Dünenwegen hinter der Kirche reift der erste Sanddorn. Ein Ehepaar geht mit Hund und zwei sehr teuer aussehenden Rassekatzen spazieren. Die Frau versucht, einen der Perser herbeizurufen, aber natürlich funktioniert das nur beim Hund. Die Edelkatze lässt ein divenhaftes „Miau“ vernehmen und dreht ihr eigenes Ding.
Man kann doch einige Kuriositäten erleben in der Saison, denke ich, und dass sich die Schlaflosigkeit so zumindest gelohnt hat. Wenig später peitscht wieder Regen an mein Fenster, und so wird es noch lange bleiben.