Widersprüche

Es ist ein Inselfrühling wie aus dem Bilderbuch. Wie in einer Werbeanzeige für irgendeine Familienversicherung sitze ich im Innenhof in der Sonne und putze mein schönes, neues, zitronenfaltergelbes Fahrrad, dessen fröhliche Farbe alles Wintergrau vertreibt. Meine zukünftige Ehefrau trägt eine salbeigrüne Bluse mit Tulpenmotiv, darüber ein zartes Strickjäckchen in Petrolblau und strahlt; schön wie Nachbars Schneeglöckchen in ihrem Sonnenfleck. Es weht kaum Wind; Möwen kreisen im Himmelsblau und man hört die Austernfischer vom Dach, die ihre Brutplätze beziehen.
Ein paar hundert Kilometer weiter liegt jemandes Ehefrau auf dem Asphalt, zerrissen von Granatsplittern. Die beiden Kinder ebenfalls, alle sind tot, sie haben die Flucht über eine Brücke nahe Kiew nicht geschafft. In den Redaktionen gab es lange Streit darum, ob man solche Bilder zeigen darf, aber der Ehemann und Vater, jetzt Witwer, hat zugestimmt. Man sollte das sehen.
In Europa ist Krieg und meine älteren Verwandten, die das schon mindestens einmal durchhaben, werden von ihren Erinnerungen heimgesucht; 90jährige, die nicht gedacht hätten, dass ihnen das Grauen noch einmal so nahe käme.
Ich habe keine Ahnung von Osteuropa; weder von Russland noch von der Ukraine, vom Üblichen an historischer und kultureller Allgemeinbildung einmal abgesehen. Aber dass es noch nie eine gute Idee war, irgendwo einzumarschieren, sollte sich doch nun wirklich inzwischen herumgesprochen haben. Und dass dabei immer die am meisten leiden, die am wenigstens Schuld tragen.
Und so schaue ich, wie alle anderen auch, mit Entsetzen, Trauer und Fassungslosigkeit auf zerbombte Häuser, Tote, Verletzte und Flüchtlingsströme. Ebenso mit einem warmen Gefühl im Herzen auf eine ungeheure Welle der Hilfsbereitschaft. Dennoch: Es zerreißt einen förmlich, es ist so nah, und man merkt einmal mehr, wie unglaublich fragil dieses Konstrukt „Frieden“ ist und dass es immer neu verhandelt und ausgehandelt werden muss, ebenso wie Demokratie. Sonst schlägt früher oder später immer die Stunde der Despotinnen und Despoten und jenes Teils des Volkes, der einfach nur regiert werden will, egal wie. Der Teil des Volkes, der noch schweigt, wenn es um Minderheitenrechte geht und sich dann wundert, wenn plötzlich jeder in seinen Rechten beschnitten wird, denn so fängt es nunmal an: Menschenrechte sind kein Luxusgut und kein Almosen, das eine Gesellschaft netterweise auch den Randfiguren hinwirft, wenn’s gerade mal läuft. Man kann diese Menschenrechte auch nicht einfach jederzeit wieder einsammeln, wenn man mal wieder Sündenböcke braucht oder Testkaninchen dafür, was das Volk so alles schluckt, solange es nicht die eigene Gruppierung trifft. Und doch geschieht genau das immer wieder.

Nun sitze ich hier in meinem kleinen nestwarmen Inselglück und weiß nicht, ob man das jetzt einfach noch so darf, kann, sollte: Glücklich sein. „Den anderen geht es nicht besser, wenn man jetzt keine Feste mehr feiert oder sich freut“, sagte mir eine liebe Bekannte dieser Tage, und natürlich: Das Unglück macht vor niemandem Halt, das Glück aber auch nicht. Und oft genug hat beides einen denkbar seltsamen Zeitpunkt. Mein Vater wurde 1942 bei Bombenalarm geboren, und zugleich mit der Angst, dass die neue Familie gleich zusammen mit dem Krankenhaus in Trümmern liegen könnte, wird bei Opa O. sicher dennoch auch eine Schnapsflasche oder Zigarrenbox gekreist sein oder womit auch immer man damals die Geburt von so einem Würmchen mitten im Krieg feierte. Vielleicht hat sogar noch jemand Blumen verkauft für die werdende Mutter, irgendwo zwischen dem Schutt einer zerbombten, grauen Stadt.

Dennoch brummt das schlechte Gewissen mit, wenn man sich dieser Tage freut; man spendet und hilft im Rahmen seiner Möglichkeiten, man schaut mit Angst auf all die Prophezeiungen bezüglich Preissteigerung, nährt seine Existenzangst damit, fürchtet sich vor kalten Wintern mit Heizkörpern nicht über 16°C, obwohl es einem doch immer noch so gottverdammt gut geht, weil man überhaupt noch ein Zuhause hat, das man heizen kann und darf und weil man Dreckflecken vom Fahrrad wischt anstatt Blut von den Wänden.

Vermutlich muss ich diesen Widerspruch einfach aushalten: Hinter mir liegt der schönste Jahresbeginn, an den ich mich erinnern kann. Wundervolle Urlaube, ein ewiges Versprechen im denkbar schönsten Setting, dazu dann — endlich — eine seelenstreichelnde Reihe milder Sonnentage auf der Insel und das stete Glück eines Zuhause am Meer. Für unser armes Europa, für die Menschen in der Ukraine ist es ein furchtbarer Frühling. Der Blick in die Welt tut weh.

Momentaufnahme, Ende

Nach einem sehr warmen Dezember hat nun der Winter Einzug gehalten auf Langeoog. Das Jahr hat nur noch wenige Tage. Die Nacht umrahmt ein so prachtvoller Sternenhimmel, wie ihn nur winterliche Inseldunkelheit hervorbringt. Ich stehe am Fahrrad und kratze Eis vom Sattel; das erste Mal in diesem Jahr. Ich weiß nicht, wo die letzten Wochen, der ganze letzte Monat geblieben sind. Selbst Weihnachten passierte dergestalt nebenbei, wie es eigentlich nicht passieren sollte. Es gab unzählige Adventsfeiern und -veranstaltungen, die ich dienstlich besuchte; dazu die ein oder andere dem Tag abgerungene Werktagsmesse; an den Sonntagen konnte ich nicht. Am ersten Weihnachtstag war frei. Ich erinnere mich an einen wohligen Kokon aus Nichtsmüssen, in Ruhe gekochtem Essen und nochmaliger Lektüre unzähliger Postkarten und Briefe, die mich in den Tagen zuvor erreicht hatten; soviel Liebe zwischen den Zeilen. Und dann war auch das Fest schon wieder vorbei.

Für viele meiner Freundinnen und Freunde oder Menschen im weiteren Bekanntenkreis war es kein frohes Fest. Sehr viele Elternteile verstarben dieses Jahr oder erkrankten schwer; teils wurden auch junge Menschen aus dem Leben gerissen. Langjährig treue Haustiere mussten für immer verabschiedet werden. Es wurde sich zerstritten oder getrennt, Babys wurden verloren und Arbeitsplätze. Dann sah man diese Menschen an, um deren Schicksal man wusste, und ahnte die Tapferkeit, die sie aufbringen mussten, um reihum „fröhliche Weihnachten“ zu wünschen, weil man das eben so machte. „Gesegnete Festtage“ sagte ich, der Neutralität halber, denn damit litt es sich hoffentlich etwas weniger.
Ich wurde mir des Luxus bewusst, meine Eltern wenigstens noch am Telefon bei mir haben zu können an Weihnachten, denn etliche meiner Freundinnen und Freunde konnten das nicht mehr. Reihum sah man, wie teils Ü50jährige im Freundeskreis wieder zu Kindern wurden und über Weihnachten heimfuhren zu Eltern, sonstiger Familie, Gans und Baum. Dann schliefen sie in ihren alten Kinderzimmern, fanden Erinnerungen wieder und Fotoalben. Und dann gab es jene, in deren Elternhaus nun Planen über den Möbeln lagen und durch dessen Zimmer Fremde als potentielle Käufer schritten. Und jene, deren Elternhaus bereits abgerissen worden war. Und jene, die nie eins hatten.
Auf der anderen Seite: Die Selbstverständlichkeit, mit der allerorten „Frohe Festtage im Kreise Ihrer Familien“, „schöne Weihnachten im Beisein Eurer Lieben“ und so fort gewünscht wird, als sei ein Alleinsein an Weihnachten oder die Abwesenheit einer Familie, sei es durch traumatische Erlebnisse oder den Tod, vollkommen ausgeschlossen. Oder eines der letzten Tabus unserer Zeit. Ich fürchte, Letzteres.
Ich versuchte, über die Weihnachtstage so viele Bekannte wie möglich zu kontaktieren, von denen ich wusste, dass sie unter irgendeiner Form von Verlust und Ausgeschlossensein litten. Nicht aus Mitleid. Sondern weil ich wusste, wie es war, in dieser Gesellschaft unsichtbar zu sein.

Nun ist die Zeit angebrochen, die etwas mysteriös als „die Zeit zwischen den Jahren“ bezeichnet wird. Eine Zeit, in der man einerseits noch hektisch Dinge zuende bringen will, es sich andererseits aber auch noch nicht wirklich lohnt, etwas Neues anzufangen — denn waren dafür nicht erst die Neujahrsvorsätze gut? Es ist eine Zeit, in der viele Menschen Bilanz ziehen. Auch ich tue das.
Über mein Jahr kann ich nicht klagen. „Still a pretty good year“ höre ich im Geiste Tori Amos singen; eine Frau, die mich in meiner Jugend mit ihrer keltisch-ätherischen Schönheit, ihrem Talent, ihrer Verletzlichkeit, dem Stolz in ihrer Nacktheit und der Anmut in ihrer Wut geradezu hypnotisierte. Inzwischen hat die plastische Chirurgie ihr leider eine Menge Seele aus dem Gesicht geraubt — aber die Faszination ist geblieben.
Auf jeden Fall habe ich keinen Grund zum Hadern; alles, wovor ich Angst hatte, ging gut aus oder ist in stabile Bahnen gelenkt. Es gibt keinen Verlust zu beklagen, der rückblickend nicht unumgänglich oder gar begrüßenswert gewesen wäre. Und alles, was ich liebe, ist noch da. Mehr, denke ich, kann man von so einem Jahr eigentlich nicht verlangen.

Ich erahne bereits den Horizont. Mit der Morgendämmerung glitzern gefrorene Reifenspuren auf dem Backsteinpflaster meiner Straße. In meinen Träumen glitzert der Wienerwald im Winterkleid, rattert der Nachtzug bereits einer niederösterreichischen Morgendämmerung entgegen. 
Dem Wetterbericht nach wird es in Wirklichkeit zwar nichts mit Schnee im Wald, aber das ist mir jetzt reichlich egal, denn die nahende Reise hilft mir, das alte Jahr erwartungsfroh und ohne Sentimentalitäten hinter mir zu lassen. Der Wanderrucksack steht längst gepackt in der Zimmerecke.
Er ist, trotz mehrfachen Umpackens und Neusortierens, ziemlich schwer, aber ganz ohne Gepäck geht es halt nicht hinüber: Weder ins neue Jahr, noch in den Wienerwald.
Beim Anblick des Rucksacks muss ich wieder an die Freundinnen und Freunde denken, welche in diesem Jahr mit wirklich schwerer Last neu starten müssen. Mit der Last von Krankheit, Angst, Trauer, Armut oder Hoffnungslosigkeit. Mit Streit, Mobbing oder Verachtung. Ich hoffe, dass sie Erleichterung finden. Und dass ihnen Gott tragen hilft.

***

Meinen Leserinnen und Lesern wünsche ich einen guten Übergang ins Jahr 2020 — mit Freude, Gesundheit und Geborgenheit in allem Kommenden.

Bildschirmfoto 2019-12-29 um 01.52.11

Eisbrecher

Luft schmeckt nach Eis
Sturm zerrt an Kleidern
und Erinnerungen
Das Jahr tat weh

Das Meer ist grau
Als weinte es noch
Um Dich, um uns
um irgendetwas

doch vielleicht sind wir
ihm einfach auch egal
der See ist’s nur
ein weiterer Winter

Kein Halt im Sturm
Nur Gott, in dessen
Hand wir fallen
ist noch für uns

dort draußen.

(MDO, November 2018. Geschrieben am ersten eisigen Sturmtag auf Langeoog, in Anlehnung an meinen Firmspruch „Gott ist für mich. Ich fürchte mich nicht“, Psalm 118.6. und in Erinnerung an einen Freund.)

Du fehlst

Es wird leichter
wenn man selber geht
hieß es und so ging ich
fort von da, wo du
ja doch nie
wirklich warst

und heute ist’s
als wär ich nie
gegangen, als sei
all das kaum
einen wimpernschlag lang
deiner schönen
augen her

als brüllte nicht
das ewige meer
mir unseren kummer
täglich entgegen
als hätte die brandung
nicht längst
unser hilfloses lieben
vertilgt

WetterundMoewen21101805

Momentaufnahme, Allein

Es ist ein einsamer Moment, wenn man erkennt, dass ein Freund kein Freund mehr ist. Vor einem liegt noch das Bilderbuch sonniger Tage ausgebreitet, alles ist warm, vertraut und schön. Das geteilte Leid, der gemeinsame Zorn, die Freude am Glück des anderen, der Stolz auf dessen Erfolge. Das verständnisvolle Lächeln, wenn er über die Strenge schlug, die Nachsicht und das Vergeben, wenn er Mist machte. Das warme, befreiende Gefühl, wenn auch er vergab. Wenn er einem Kritik nicht nur nicht krumm nahm, sondern sich sogar dafür dankbar zeigte. All das war so lange so selbstverständlich, so einfach. Nie hätte man gedacht, dass es so trostlos enden würde.

Wir hatten doch für alles Worte, denke ich, warum dann nicht für uns selbst? 
Verdient nicht auch eine Freundschaft irgendeine Form von „Schlussmachen“, mit der sich eben genau das machen lässt: Nämlich Schluss? Schluss mit Grübeln, Nachdenken, dem Drehen und Wenden von Erinnerungen. 
Was, in all den Jahren, war nun Lüge, was war Wahrheit? Früher hätte sich diese Frage gar nicht gestellt. Ich war sein Freund, weil ich glaubte, was er sagte.

Und dann steht man da und weiß plötzlich gar nichts mehr. Und es ist nicht einmal die physische Abwesenheit, die nach einem solchen Nicht-Ende am meisten schmerzt. Vielmehr ist mit dem erklärungslosen Verschwinden plötzlich alles in Frage gestellt, weil mit diesem kalten und einsamen Ausblutenlassen der Freundschaft plötzlich auch die Erinnerungen davonfließen, und alles, was man über den anderen zu wissen glaubte. Das Vermissen ist grässlich.

Plötzlich lodert Wut. Über die Chuzpe, mit der er diese Schneise der Verwüstung in den sorgsam gehegten, schönen, dichten Wald unserer Verbundenheit fräste; wie er quasi im Vorbeigehen Geborgenheit und Vertrauen in Trümmer legte, als wischte man Krümel vom Tischtuch. Und was, tobe ich innerlich, macht diesen Menschen eigentlich so sicher, dass ich mich nicht für diesen schnöden Abgang räche?
Die Antwort ist so schlicht wie endgültig: Weil ich sowas nicht mache. Weil für mich Denunzieren das Hinterallerletzte ist. Und weil er das weiß.
Für eine Sekunde bringt das das warme Gefühl der Verbundenheit zurück: Er kennt mich eben doch.

Aber ich könnte, oh wie ich könnte! Schau — in erneutem Aufwallen von Rage fliegen die Finger über die Tasten: Unwürdig. Unreif. Unchristlich. Unverschämt. Unbeherrscht, unverfroren, un-, un-, un- — Nein!
Ungeschehen. Das ist doch eigentlich alles, was ich will. Mach es ungeschehen. Alles auf Anfang. Dorthin, wo der Weg sich gabelte.

Komm zurück.
Mit der Delete-Taste gebe ich dem Blatt seine Unschuld zurück, während ich zusehe, wie sich die Zeilen rückwärts selbst fressen: Undone. Auf facebook kreist der Finger über „Unfriend“; ein entsetzliches neues Verb, dass es dieses Jahr sogar in den Duden schaffte: Entfreunden. 
Aber ich kann es nicht. Und ich will auch nicht.
Ich bin dein Freund.

„Ich will diesen Zorn nicht. Ich will der Sünde des Zorns nicht anheimfallen!“
Der Beichtvater nickt. „Der Zorn ist menschlich“, sagt er. „Auch die Rachephantasien. Ich habe sowas auch manchmal“, sagt der Mann, der müde an seiner Stola zupft und so gar nichts von einem Choleriker hat. „Jeder hat das. Beten Sie, wenn sie in dieses Gefühl fallen“, sagt er, „lesen Sie die Psalmen.“ „Ich hab ja nichts umgesetzt“, ergänze ich leise. „Dann sehe ich keine Sünde“, sagt der Pater. Plötzlich kommt es mir dumm vor, damit zur Beichte gegangen zu sein. Und den Einleitungssatz mit der Reue und Demut hatte ich auch vergessen.
„War’s das?“ fragt der Geistliche schließlich, schon halb von seinem Platz erhoben, als stünde ich in der Bäckerschlange und hätte nicht soeben das Elends-Scrabble meines Herzens vor ihn auf den Tisch geleert. „Glaub schon“, sage ich, während ich die Rippen der Heizung fixiere. 
Er spricht mich los und ich bin wieder allein mit alledem.
In der Kirche verspricht das schwachrot flackernde Licht die Anwesenheit Gottes. An der Westwand leidet der Heiland an seinem Kreuz.
Es tut weh.

 

14SEpt183

Sommerende

der sommer geht nun fort
ohne dich mein freund
das eis hör ich
fast wieder knirschen
unter unseren schuhen

doch wenn das eis kommt
werden es allein noch
meine schuhe sein
wo du dann bist
werd ich nicht wissen

 

 

Momentaufnahme, Drama

Und dann war es plötzlich wieder da, an einem dunstigen, gewittrig-feuchten Spätsommertag. Es sprang einen an wie ein irgendwo im Gesträuch lauerndes Tier, wild und gnadenlos, während sich eine riesige Gewitterwolke über dem Strand ballte, der bis vor wenigen Minuten noch zartblau überdacht worden war. 
Ich fühlte das Wegreißen des dünnen Schorfs wie durch einen kurzen Krallenhieb, zu schnell für irgendeine Reaktion; zu plötzlich, um gleich zu schmerzen. 
Der warme Regen fiel in ersten, dicken Tropfen. Weich, süß. Das Blut rann warm und zäh. 
Ich saß im Strandkorb und vermisste.

So lange nun schwieg er schon. Aber egal, wie unsere Freundschaft endete, dachte ich, während der Himmel auf den Sand weinte, du warst der beste Freund, den ich je hatte.
Ich dachte an seine treuen braunen Augen und daran, dass er mir nie das Gefühl gegeben hatte, irgendeine Mitleidsnummer zu sein oder ein Zeitvertreib. Und auch wenn wir gleichermaßen eloquent waren, gleichermaßen belesen, herrschte nie irgendein Wettbewerb zwischen uns. Im Gegenteil: Wir schenkten uns gegenseitig Worte wie andere Menschen sich Pralinen, Tausende von Seiten lang. Mehr als zwei Jahre lang. Jeden Tag.
Und nun ist da diese Stille und dieses Band, das nicht reißt. Seine Bücher in meinem Regal und die schöne Postkarte, die ich noch immer als Lesezeichen benutze.
Es ist wohl zu früh.

Doch mit dem Nachlassen des Regens verschwand auch das Vermissen. In kurzer, heftiger Anflug von Traurigkeit, dann war es wieder vorbei.
Er hat so viele Meere gesehen, denke ich, als ich mich aus dem Strandkorb erhebe, was nützt es, dass ich nun auf das meine starre und an ihn denke, immer noch. Mein Meer war grau und langweilig, als wir zusammen darauf sahen, gefühlte Äonen her. Sein Hund trottete durch den Flutsaum, roch hier und da an einem Krebs. Er ging als Fremder.

„Das ist die Liebe der Matrosen“ summt mir irgendeine zynische Stimme den alten Schlager ins Ohr. Und dass man es hätte gleich wissen können. Dass dieses wie auch immer geartete Verhältnis gar nicht erst hätte sein dürfen. Dass Kunst noch lange keinen Alltag macht. Aber was wäre das Dasein ohne Kunst, ohne Menschen, mit denen man sich Gedichte schicken kann; Menschen für die die See eben nicht nur eine große Ansammlung von Wasser ist. 
Er hatte das Meer in seiner Seele und war ihm in so vielen Dingen gleich: Unberechenbar, nicht zu greifen, punktuell überraschend kalt. Und dann wieder so tief und unergründlich, so heimatgebend und so schön. Eine Welt, die es sich immer wieder zu entdecken lohnte, gerade weil ich wusste: Ich werde nie fertig damit.

Nach dem Schauer bricht wieder Sonnenlicht durch die Wolken, die jetzt wieder strahlendweiß sind und in harmlose, kleine Flöckchen zerfallen. Die Menschen öffnen ihre Jacken und verlassen den Schutz ihrer Strandzelte. Am Horizont kreuzt ein Schiff der Küstenwache. Das Gefühl verweht, aber ich weiß, dass es mich noch eine Weile umfloren wird wie ein Trauerkranz. Es ist schwer, aufzugeben.

Zu schnell ist alles Vergangenheit. Die Zeit heilt, sagt man, aber ich glaube nicht, dass das auf Liebe oder auch nur auf eine innige Zuneigung zutrifft. Warum sonst sollte man sich in der Kirche ein „Für immer“ versprechen, in guten und in schlechten Tagen, bis das der Tod uns scheidet? Ich glaube an diese Ewigkeit. Ich glaube daran, dass es ein „Für immer“ geben kann, auch wenn es nur selten von gegenseitiger Dauer ist. 

Und dann ist da immer einer, der zurück bleibt mit seinem Teil von Ewigkeit und nicht weiß, wie er das abkürzen soll.
„Gott, hilf mir tragen“ betet man dann vor dem eisernen Kerzenständer unter den Blicken der Gottesmutter, dem Kerzenständer, an dem man so viele Lichter für ihn entzündete. Das Kerzenlicht leuchtet weich und warm wie der Regen; wie die Umarmung, mit der sie das Jesuskind hält.
Und man hofft, dass der HERR die Welle schickt, welche das Gefühl der Ewigkeit des Meeres übergibt und einem das Herz, sauber gewaschen, mit sanfter Dünung zurück ans Ufer legt.

 

Momentaufnahme, Frohsinn

Es ist ein wunderbarer Tag im Mai. Möwen gleiten lautlos an der Dünenkette vorbei, die im Licht des späten Nachmittags golden aufleuchtet. Kein Wölkchen zeigt sich am makellos blauen Himmel, von dem seit dem frühen Morgen die Sonne strahlt. Jede Ecke bietet an solchen Tagen ein Fotomotiv, das man ohne weitere Bearbeitung auf einen Langeoog-Prospekt drucken könnte, wo es dann dafür sorgte, dass noch mehr Gäste und Investoren auf die Insel kämen, um hier Müll, Geld, noch mehr Baustellen und verwaiste Straßenzüge im Winter zu hinterlassen.
Kein Licht ohne Schatten.

Ich versuche in einem der Strandkörbe zu lesen. Immerhin soviel soziales Denken gibt es auf Langeoog noch, dass die Körbe, sobald die Vermietungsbuden schließen, zum Allgemeingut mutieren: Man kann also ab dem späten Nachmittag darin sitzen, ohne dafür bezahlt zu haben. An der Ostsee werden sie nach dem Feierabend der Vermieter gnadenlos mit Gittern verriegelt. Hier versuchen das einige Privatleute mittlerweile ebenfalls und errichten alberne Barrikaden aus Fahrradschlössern und Wäscheleinen an den Strandkörben, die sie für mehrere Tage gemietet haben. Als säße es sich tagsüber schöner darin, wenn man anderen in Abwesenheit keinen Sitzplatz gönnt.

Nebenan schreit ein Kind in einer so dämonischen Tonart und Intensität, dass man an das angeblich angeborene Gute im Menschen kaum noch glauben mag.
Und tatsächlich ist es doch so, dass einen manche Tage und Wochen schier an der Menschheit verzweifeln lassen, und seien sie meteorologisch auch noch so vollkommen. Und nein, man selbst schließt sich nicht zwingend davon aus, denn wer ist bitteschön noch nicht gelegentlich an sich selbst verzweifelt?
Ich gehe zurück ins Dorf. Auf einer etwas abgelegenen Bank sitzt ein junger Mann unter prachtvoll erblühten Bäumen und weint, ein Telefon am Ohr. Sein Gesicht ist blass und starr vor Kummer. Er lauscht schweigend der Person am anderen Ende der Leitung, die ihm — man kann es nur ahnen — vermutlich soeben eine furchtbare Nachricht überbringt. 
Derweil schieben fröhliche Familien ihre Strandbollerwagen und Buggys vorbei, Hörnchen mit bunten, süßen Eiskugeln in den Händen.

Es gibt keine Garantie auf Glück, nur weil Frühling ist. Und doch scheinen Trauer und Kummer jetzt ein noch größeres Tabu zu sein als sonst. Wer will sich, nach all dem Grau des Winters, schon noch mit dem Grau in andererleuts Seelen befassen?
Die Tage war ich im evangelischen Gottesdienst, weil ich dort dienstlich etwas zu erledigen hatte. Es war der Sonntag Kantate, und der Pfarrer leitete den Gottesdienst, anstatt sofort in jeder Hinsicht ein Loblied zu singen, mit den Worten ein, dass heute trotz des Festtages nicht allen Menschen zum Singen zumute sei. Dass die Laute menschlichen Elends trotz allem durch die Welt hallten. Als Katholik lobt man die Lutheraner ja eher spärlich, aber hier sage ich: Das hat mich beeindruckt.

Die Diktatur des Frohsinns ist nicht nur an Karneval ein Thema für sich. Mit einem engen Vertrauten, der sich mit Depressionen aus eigener Erfahrung auskennt, bin ich mir einig: Das Gefühl, nie traurig sein zu dürfen, weil in unserer Gesellschaft kein Platz dafür ist, macht erst Recht depressiv. Und zuweilen sehr einsam. Denn wer wagt schon an einem strahlend schönen Tag im Mai seine Freunde mit Trübnis zu belästigen? Eben.
„Lach doch mal, ist schönes Wetter.“ „Schau mal, die Sonne lacht auch.“ —Der Mai ist der Monat mit der höchsten Selbstmordrate.

Dennoch: Das Erwachen der Natur ist wunderschön. ich freue mich über jede neue Knospe, über das zarte Grün an den Bäumen, das niemals wieder im Jahr so eine wundervolle Farbe haben wird, über die ersten Stunden inmitten meiner geliebten Blumen auf dem Balkon, über die erste Sonnenbräune, die ersten goldenen Strähnen im Haar. Ich bin froh, dass mir der Frühling jedes Jahr verlässlich zeigt, dass zumindest meteorologisch der Winter vorbei ist, selbst wenn er seelische Eiszeit mitbrachte.

Menschliches Leid hält sich nunmal an keinen Jahreszeitenkalender. Ich kenne Menschen, bei denen ein Elternteil an Weihnachten starb; auch eine Freundin von mir starb am zweiten Weihnachtsfeiertag, meine Eltern verschoben ihre Hochzeit wegen des Todes der Großmutter. Es gibt Menschen, die an einem strahlend schönen Sommertag ihre Arbeit verlieren, verlassen werden, eine Fehlgeburt erleiden oder beim Arzt eine schlimme Diagnose erhalten.
„Lacht doch mal. Ist schönes Wetter.“

Ich erinnere einen Mann, den ich sehr lieb gehabt hatte, und der dann an meinem Geburtstag mit einem anderen vor der Tür stand, kaum halb so alt wie ich. Ich hatte seinem Besuch zum Geburtstag lang entgegengefiebert, hatte Pläne gemacht, geträumt, die Vorfreude in meinem Herzen gehegt wie die Zwiebeln der Frühlingsblumen in meinem Beet: Nicht mehr lange und alles würde erstrahlen in schönsten Farben. Noch war der Winter nicht vorbei, aber in der Kälte hatten mich stets seine lieben Worte gewärmt, die Kontinuität eines vermeintlich beiderseits gewachsenen Gefühls und seine schönen, großen, tiefbraunen Augen, in denen ich mich Schlechtes zu entdecken weigerte.
Jetzt hatten diese Augen einen kalten, gelblichen und unschönen Bernsteinton, der keinerlei Gefühl verriet, umschattet indes von anbetungswürdigen Wimpern. Er sah mich nicht einmal wirklich an, als er den mitgebrachten Jüngling an meinem Geburtstag — einem sonnigen Vorfrühlingstag — über meine Schwelle schob.
Das sei seine neue Muse, sagte der Mann, den ich liebte, und er sei hier doch sicher auch willkommen. Die Muse lächelte schüchtern und mir dämmerte, das er nichts ahnte von dem Ausmaß des seelischen Elends, das sein Auftauchen entfalten sollte.
Also gab ich der Muse die Hand und bemühte mich um Gastfreundlichkeit: Alles, was ich für zwei geplant hatte, modifizierte ich, der Höflichkeit geschuldet, für drei, während eine innere Abrissbirne mein Herz und meine Träume in Trümmer schlug.

In der Bibel mag die Drei eine heilige Zahl sein. In amourösen Dingen ist sie eine Katastrophe. Und dann saß man da und kaute an irgendetwas Teurem, das sich wie Sand anfühlte und sich nicht schlucken ließ, während der von mir noch innig Geliebte in verliebtem Palaver mit dem anderen erblühte, und man selbst verfluchte den Tag und die eigene Geburt, obwohl man diese eigentlich soeben feierte. Eigentlich.
Irgendwann hatte der Albtraum ein Ende, die beiden reisten ab. Hochmütig stieg der Mann über den siechen Rest langjähriger Verbundenheit, ohne sich noch einmal umzudrehen; den schönen Mantel gerafft, damit ihn nichts besudelte.
Derweil trudelten Glückwünsche ein: Ich hoffe, du hattest einen wundervollen Tag. Dankeschön, antwortete ich, natürlich hatte ich das. Wie sollte man seinen wohlmeinenden Freunden auch erklären, dass man an einem Tag, der für die meisten seit frühester Kindheit ein Inbegriff von Glückseligkeit ist, gerade vor Kummer erstickte?
Ich konnte es nicht.

Es zieht mich noch einmal zurück zum Strand. Die Pracht und Vollkommenheit der abendlich stillen Landschaft überwältigt mich. Der Gesang der aus den Dünen steigenden Lerchen wird von keinem Gebrüll mehr übertönt. Leise rauscht Wind durch das frisch gepflanzte Helmgras.
Der meinem Haus naheliegende Strandüberweg wurde für die Saison verbreitert; die frühere Aussichtsplattform wurde abgebaut, die Bänke woanders hingestellt. Das Fernrohr, das dort früher stand, liegt nun, außer Dienst gestellt, mit seinem Betonsockel in den Dünen. Als die Sonne über dem Meer versinkt und sich seine Silhouette gegen den blutrot gefärbten Himmel abzeichnet, sieht es aus wie das Geschütz eines längst verlorenen Krieges.

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