Momentaufnahme, Knotenpunkt

Nun gibt es ja Menschen, die der Ansicht sind, Katholiken wären alle nicht mehr ganz dicht, oder, um es der Jahreszeit angemessen auszudrücken: Hätten nicht alle Kerzen auf dem Adventskranz. Und angesichts dreier Gestalten, die, lediglich von dem Motto „Das Licht des Herrn leuchte uns“ beschienen, in völliger Dunkelheit am Strand entlang durch den Sand stapfen, scheint das gar nicht so abwegig.
„Da verbinden sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns …“ singen sie; dann marschieren sie weiter, verschluckt von der Schwärze der Inselnacht, am Vorabend des ersten Advent.
Eine der drei Gestalten bin ich.
Ein nächtlicher „Adventsgang“ war angekündigt und ich rechnete mit einem kurzen Marsch um die Kirche, mit einigen Stationen des Innehaltens, Singens, Hinein- und Hinaushorchens; zumal wenige Minuten vor Beginn noch ein gewaltiger Wolkenbruch auf die Insel niedergegangen war.
Nun ist der Beginn einer Bußzeit aber offensichtlich nichts für Verweichlichte, und so wurde die alte Seenotbeobachtungsstelle als Ziel angegeben; eine Dreiviertelstunde Marsch von der katholischen Kirche entfernt. In völliger Dunkelheit, mit nichts ausgestattet außer mit dem Vertrauen auf den, der alle Wege kennt.

Ich bin nachtblind. Ich erkenne im Dunkeln maximal noch starke Kontraste, und generell mag ich die Dunkelheit nicht. Ich schließe niemals die Rollläden ganz und kaufe auch keine Gardinen, die jedes Licht fernhalten. Mein Vertrauen auf Gott wuchs mit den Jahren, ich bin froh darüber — aber mein Vertrauen in die Menschheit und in die Nacht bleibt wohl noch länger ausbaufähig. Nun aber muss ich vertrauen. Auf meinen Körper, meinen Gleichgewichtssinn, mein Gehör, meine Erinnerung an die im Hellen so oft beschrittenen Wege, die nun kaum mehr als fleckige Schatten links und rechts von mir sind. Und vor mir liegt nichts als Dunkelheit.

Die Ansammlungen von Teek am Strand sehen bei Nacht aus wie Krallenhiebe eines gigantischen Ungeheuers. Am Horizont blinken die roten Lichter der Windparks, dazu leuchten all die riesigen Frachter auf Reede. Im Nordosten gleitet der Schein des Leuchtfeuers von Helgoland über die schwarze See, im Westen blinkt das von Norderney. In erschreckendem Maße wird mir dabei bewusst, wie sehr die Deutsche Bucht schon zum Verkehrsknotenpunkt der internationalen Schifffahrt geworden ist; wie dicht gedrängt hier die Container von A nach B gefahren werden, obwohl sie, wie etliche Stürme bereits zeigten, in B zum Teil nicht einmal ankommen werden. Und dann liegen die Container für wer weiß wie lange auf dem Grund des Meeres, neben Tausenden toten Soldaten und anderen glücklosen Seelen, welche sich die See im Laufe der Jahrhunderte einverleibte. Und all der über Bord gespülte Müll von Kreuzfahrtriesen, Konsumgier und Berufsschifffahrt wird noch Jahrzehnte später an Strände gespült, schlimmstenfalls mit einem qualvoll verendeten Tier drumherum. 
„Macht euch die Erde untertan“ heißt es in der Bibel, aber in diesem Moment denke ich einmal mehr, dass es die Menschheit damit schon gewaltig übertrieben hat.

Außer der Insel-Seelsorgerin, die die Andacht leitet, ist nur der Kurpriester zum Adventsgang gekommen; beide sind mir sympathisch, was beim Bezwingen der Angst vor dem Dunkeln hilft. Niemand schwätzt; der verheißene Gang in Stille wird wirklich ein Gang in Stille. Meine beiden Weggefährten sind so ruhig, dass ich sie nicht einmal atmen höre; nur ihre leisen Schritte im Sand bieten mir Orientierung. Ungefähr alle 500 Meter bleiben wir stehen, beten und singen ein kurzes Lied. 
In einiger Entfernung rühren sich Seevögel, aber es ist keine übermäßige Unruhe im Schwarm; ich hoffe, wir haben sie nicht gestört.
Die Sicht wird nicht besser: Nachtblind ist nachtblind. Aber ich stelle fest, dass mir die Beschaffenheit des Sandes unter meinen Füßen bereits Aufschluss darüber gibt, an welchem Strandabschnitt wir uns ungefähr befinden mögen und es ist ein herzwärmendes Gefühl, doch schon so sehr mit der Insel verwachsen zu sein. Der dunkle Dünenfuß zu meiner Rechten ist mein Ariadnefaden, meine Schritte werden mehr und mehr sicher; irgendwo hinter mir sind meine Begleiter. Ich merkte nicht einmal, dass ich sie überholte.

Wir verlassen den Strand an einem mir sehr vertrauten Überweg. Durch schwarze Dünentäler geht es auf kurvenreichen Pfaden hinauf, hinab und wieder hinauf zur Aussichtsplattform. Dann sind wir oben, und es beginnt erneut zu regnen. Aber der Regen macht mir nichts, denn längst haben sich der Frieden und das Wunder dieses Nachtganges in mein Herz gegossen, das am Tage noch unruhig und angstvoll gewesen ist. Ich lernte: Es tut gut, zu vertrauen. Es lohnt sich, auch einmal die Kontrolle abzugeben. Es ist ein großartiges Gefühl, zu wissen, dass sich sogar ein beherzter Schritt in die Dunkelheit lohnen kann. Und dass es sich lohnt, sich seinen Ängsten zu stellen.

Der Priester hat einen Schirm dabei, er hält ihn väterlich über die Seelsorgerin und mich. „Es kommt ein Schiff geladen“, singen wir. Ich mag das Lied; nicht nur, weil es so gut an die Küste passt. Ich mag seine Bilder, und die getragene Melodie mag ich auch. 
„Das Schiff geht still im Triebe / es trägt ein’ teure Last / das Segel ist die Liebe /der Heilig’ Geist der Mast.“

Wieder zuhause, kommen die Sorgen des Tages zurück. Aber es ist schon weniger schwarz am Horizont.
*** Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern einen gesegneten 1. Advent ***


 

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