Beat

In der Kirche startet ein ambitioniertes Projekt. Dass eine Frau predigt, meine ich damit nicht, denn das kommt bei uns erstens öfter vor und zweitens sorgt es nur noch bei sehr wenigen Schäfchen für ein nervöses Kragenweiten mit ungläubig aufgerissenen Augen. Schließlich sind wir auf Langeoog eine der ersten Gemeinden mit weiblicher Pfarrbeauftragter geworden, und bislang ist deswegen noch kein Deckenbalken brennend zu Boden gestürzt. Kaffee und Kuchen im Pfarrheim ankündigen macht sie allerdings trotzdem auch noch, also können an dieser Stelle auch die Traditionalist:innen zufrieden sein. Aber ich schweife ab.

Das ambitionierte Projekt ist Orgelspiel mit Percussion-Begleitung. Ein junges Musikerduo hat sich dazu eingefunden, und die Idee ist gar nicht mal so schlecht, allein — der Rhythmus hinkt. So ganz finden Orgel und Trommeln nicht zusammen, immer scheint der notwendige Schlag um Sekundenbruchteile zu spät zu ertönen, was die Harmonie ein wenig schmälert. Als kompletter Musikdilettant will ich hier nicht das Maul zu weit aufreißen und auch keineswegs den kreativen Ansatz der Kombination dieser beiden Instrumente schlechtreden; vielmehr erwähne ich es, weil mich dieser eigenartige Missklang sehr an dieses Jahr erinnert. Das Jahr, das sich nun bald schon seinem Ende nähert. Das zweite Jahr Pandemie mit seinen Lockdowns und Wiedereröffnungen; mit seinen Anstürmen urlaubsausgehungerter Tourist:innen, die die Küstenorte bevölkern, als ob es kein Morgen gäbe.

Zurzeit sind Herbstferien und in diesem Kontext muss ich zum Thema „Ansturm“ wohl keine umständliche Überleitung finden. Es ist voll auf der Insel. Sehr voll. Masken und 2- oder 3-G-Regeln gibt es noch; Abstand wird fast nirgends mehr eingehalten. Die arbeitenden Menschen sind bleich und müde und unter den Gästen sind wie jeher sone und solche; in dieser Saison leider mit leichtem Schwerpunkt auf „sone“: Die Aggressiven. Die Dauer-Diskutierenden. Die „Wir-bezahlen-Sie-schließlich“. Und ach, das Bezahlen. Sauteuer ist alles geworden, noch mehr als je zuvor, und da hängen die Langeooger:innen jetzt nun genauso mit drin.
Manchmal weiß ich nicht mehr, wie lange ich mir das Leben hier noch leisten kann.

Nun aber zur Orgel und dem um Sekundenbruchteile hinterherhinkenden Beat. Genau so fühlt sich dieses Jahr an, denke ich. Zumindest, seit kein Lockdown mehr herrscht: Eigentlich ist alles wie früher. Laut, voll, wuselig und teuer. Aber irgendwie eben auch nicht. Irgendwie ist da dieser zeitversetzt ertönende Trommelschlag, der das gewohnte Saisonrauschen aufmischt und es schwer macht, im geforderten Takt mitzusingen, mitzuschwimmen. Es strengt an, mehr denn je.

Und nein, der Insel bin ich nicht überdrüssig. Da sind die Momente, in denen sich weiches Herbstlicht in die Dünentäler ergießt; in denen sich Nebelbänder durch farbenprächtige Vegetation winden, in denen ein unendlicher Himmel aufreißt und die Sonne die sprühende Gischt wie einen Diamantenregen aufleuchten lässt. Da sind die Momente, in denen nach Regen und Meerwasser duftende Wege zum Strand führen, und zu beiden Seiten glänzen die überreifen Hagebutten wie kandierte Äpfel. — Momente, in denen der HERR einem die ganze Pracht Seiner Schöpfung geradezu um die Ohren haut und mich mit tiefer Dankbarkeit für die Gnade hier leben zu dürfen, erfüllt.

Dennoch. Irgendwie ging dieses Jahr anders vorüber. Man könnte ja meinen, dass nach einem komplett absolvierten Pandemie-Jahr das zweite bereits Gewohnheit wäre, aber dem ist nicht so, zumindest für mich nicht. „Wo war denn der Sommer?“, fragt auch die Freundin, ein wenig Ratlosigkeit im Blick, und ich kann ihr darauf nicht antworten. Nur einmal waren wir dieses Jahr richtig im Meer schwimmen; mit den Füßen drin waren es vielleicht ein paar Mal mehr. Ein einziges Mal hatten wir mit Vorsatz die Strandtasche gepackt und uns zwei Stunden genommen, um Inselurlaub zu spielen, und ein einziges Mal saßen wir wie Touristen im Eiscafé am Tisch, anstatt uns lediglich ein schnelles Hörnchen zwischen Termin A und Pflicht B einzuverleiben, aber sonst? Im Hin- und Her ewigen Wetterwechsels raste der Sommer an einem vorbei; flankiert von all den Katastrophenmeldungen über die verheerenden Überschwemmungen, welche wohl jedem nicht ganz empathiebefreiten Menschen die Leichtigkeit sommerlichen Seins raubten.

Und dann: Die Wahlen. Ein einziger Charakterfriedhof. Was nützen da Rosendüfte und goldenes Dünengras, wenn täglich irgendwo auf der Insel stinkende Jauchefässer ins Zwischenmenschliche gekübelt werden? Und bei all dem Modder im Kleinen — wo soll man dann noch Zuversicht im Großen finden? Aber irgendwann war auch die Kommunalwahl durch, dann die Bundestagswahl, beides noch mit einem blauen Auge irgendwie; das „blau“ hier natürlich nicht parteipolitisch zu verstehen. Auf jeden Fall hätte es jeweils schlimmer kommen können; aber man muss wachsam bleiben, damit das große Elend nicht aus der zweiten Reihe vorrückt, denn wachsam (oder besser: lauernd) ist das Elend wohl stets.

Nun also versuche ich dennoch irgendwie in die Melodie zu finden, am schrägen Beat vorbei; mich einfädelnd zwischen Orgel und Trommel mit dem Gesang, und einen Großteil der Zeit klappt es sogar. Der Beat wirft mich nur ganz sporadisch aus der Bahn, denn es ist von Vorteil, dass ich das Lied gut kenne. Und so ist das wohl auch mit dem ganz großen Lied von Langeoog: Ich erschaudere ob all der Misstöne. Aber das Zwitschern der Rotkehlchen im Gesträuch, das Rauschen der Brandung, das halb in den Seewind, halb in meine Jacke geflüsterte „Ich liebe dich“ der Freundin — all das höre ich trotzdem noch.

Momentaufnahme, Übergang

„Damit, dass Strom und Bäche vom Eise befreit sind, ist wohl zu rechnen“ schreibt mir ein Freund aus seinem Osterurlaub; die Postkarte — er schickt immer Postkarten statt E-Mails — zeigt einen alten, ledernen Reisekoffer, aus dem Frühlingsblumen quellen.
Und recht hat er, denn tatsächlich scheint der Winter seit Wochen schon Lichtjahre entfernt zu sein. Es ist das wärmste und sonnigste Osterfest, an das ich mich auf der Insel erinnere, und ich denke nur ungern an das letzte eisige Frühjahr zurück.

Nach emotional wie beruflich anstrengenden Tagen mache ich mich auf zu einem Abendspaziergang ans Meer. Am Strandübergang fotografieren zahlreiche Menschen mit Smartphones den Sonnenuntergang, und ich muss lächelnd an einen brillanten amerikanischen Comic denken, der eine fluchende Sonne zeigt, die sich darüber aufregt, nie mehr unbehelligt ein Nickerchen machen zu dürfen. Zweifelsohne: Hätte ich irgendeinen Apparat dabei, würde ich ebenfalls ein Foto machen.
So aber halte ich den Anblick nur für einen Moment im Herzen fest: Die silbernen, über die Mondlandschaft des Strandes mäandernden Priele, die im Schlick glänzenden Muscheln, Möwen im Gegenlicht, blaue Umrisse großer Frachtschiffe auf Reede, darüber der tiefrote Sonnenball.

Um diese Zeit verändert sich die Insel, insbesondere der Strand, täglich. Mit routiniertem Bienenfleiß werden neue Strandkörbe herangekarrt, Plankenwege verlegt, Spielgeräte installiert. Mit den frisch verlegten Wegen sieht es nun schon aus wie im Sommer, und im Augenwinkel meiner Erinnerung erscheint mir ein Bild vom letzten August. Der Sand war warm unter den Füßen, neben mir ging der Mann, dessen schöne Figur mir im Gedächtnis blieb, mit seinen perfekt sitzenden Polohemden und Chinohosen, die Sandalen in der Hand. Schlanke Finger, Musikerhände. Es war gut, dass er da war, denn sein Besuch machte das vergangene Frühjahr schon etwas weniger kalt. Er ist auch immer noch da, und also besteht kein Grund für Wehmut. Vielleicht sehe ich ihn sogar wieder, irgendwann. „Komm mal zu mir“, sagt er, aber ich weiß nicht, ob er das wirklich meint; seine Stadt suchte ich dennoch auf der Landkarte.

Die Erinnerung an den Sommer tut wohl. Und doch wird auch diesen Sommer die Insel wieder anders sein; es ist ja jetzt schon alles anders: Das neue Hotel, dessen Dachaufbau je nach Perspektive wie ein Zinksarg aussieht, die offenen Baustellen, die mit Steinen zugeschütteten Vorgärten, die pflegeleicht sein sollen, aber aussehen wie Gräber. 
Sogar der schöne Windflüchter, der die Straße zum Strand seit vielen Jahren wie ein Torbogen überspannte, lag die Tage kleingehäckselt neben seinem Stumpf. Er war wohl morsch geworden und stand die letzten Monate schon mit einem Seil ans Haus gebunden, aber schade ist es um ihn doch.
Und so wendet sich, wiewohl ohne Veränderung kein Fortschritt möglich ist, nicht immer alles zum Guten. Auch unter den Menschen auf der Insel liegt zurzeit vieles brach und einige Abgründe offen, in die man lieber nie geblickt hätte.
Wahlen stehen an. Ich betrachte die Muscheln am Strand, wie sie dort liegen, wo sie eben liegen, und denke, dass das im Dorf auch bald wieder wünschenswert wäre: Alle nehmen ihren Platz ein, so gut es eben geht. Einige liegen in Grüppchen, andere einzeln; keiner urteilt. Niemand bringt sich bewusst in Position, niemand drückt einen anderen mutwillig in den Schlick. Einige sind oben, andere unten, und mit der nächsten Welle kann sich das schon wieder ändern. Und zumindest darin, denke ich, ist es mit der Lokalpolitik ja nicht unähnlich: Man muss den Tiden ihren Lauf lassen und sehen, was sie bringen.

 

Momentaufnahme, Abbruch

Kurz vor der Abbruchkante lege ich mich flach auf den Sand und robbe die letzten Meter, um einen Blick hinunterzuwerfen. Übermannshoch geht es dort inzwischen senkrecht hinab; die Menschen, die am Flutsaum spazieren gehen, wirken klein wie Spielfiguren. Dahinter tobt eine wilde See.
Die Sandaufspülungen der letzten Jahre haben den Fraß der Wogen vom Dünenfuß ferngehalten: Das ist gut. Stattdessen aber gibt es nun diese Kante und Schilder, die auf die damit verbundene Gefahr hinweisen.

Nachdem ich in die Tiefe fotografiert habe, drehe ich mich auf den Rücken und betrachte den Himmel über mir. Er ist tiefblau mit einzelnen, stillen Wolkenbäuschen. „Sie war sehr weiß und ungeheuer oben“, zitiere ich nahezu zwangsläufig den Brecht in Gedanken; kein Sympath, aber ein Genie zweifelsohne: Wie so viele.

Vor ein paar Tagen war es zum ersten Mal warm in diesem Jahr. Das Thermometer am alten Hospiz zeigte 18°C. Am Strand wateten die ersten barfuß durchs Wasser; die See lag noch still und Lachmöwen, das Brutkleid schon fast voll ausgefärbt, gruben nach Beute im Schlick. Die warme, feuchte Luft tat den winterwunden Lungen wohl. So hätte es bleiben können.
Aber am Wochenende kehrte der Sturm zurück, warf eine wütende See gegen den Strand und fräste die Abbruchkante in ihre imposante Form.

Es ist wieder kühler geworden, so, als könne sich der Frühling noch nicht recht entschließen. Nur bei den Tieren lässt er sich nicht mehr aufhalten.
Zurück im Dorf sitzen zwei Austernfischer auf einem Dach. Ich sehe zu ihnen hoch und erinnere mich an die Zeit, in der ich diese Vögel noch mit unbändigem, euphorischen Staunen wahrnahm; kannte ich sie doch vorher nur aus Freiflughallen in diversen Zoos.
Seit einem halben Jahrzehnt nun sind sie für mich Alltag. Aber bei Weitem noch nicht alltäglich.

Warum sollte hier auch Routine einkehren? Auf einer Insel, inmitten der Nordsee, die ja im Grunde kaum mehr ist als eine nur mühsam der See abgerungene Ansammlung von begrüntem und bebautem Sand.
Der Strand sah noch nie so aus, wie er heute aussieht. Und er wird nie wieder so aussehen, wie er heute aussieht. Auch das Dorf verändert sich stetig: Altes weicht, Neues wird errichtet; von der Fluktuation der Menschen ganz zu schweigen, sei es durch Wegzug (freiwillig oder einer Not gehorchend) oder durch den Tod.

Manchmal fahre ich am Haus unseres alten Hausmeisters vorbei. Er starb an einem strahlend schönen Tag im letzten Sommer. Gelegentlich bewunderte er die Blumen auf meinem Balkon, wenn er darunter den Rasen mähte, und ich winkte ihm, wenn ich ihn zwischen seinen eigenen Blumen im Garten stehen sah; auf eine Schaufel gestützt oder mit der Schubkarre in den Händen.
Das Haus ist nun fast ausgeräumt und schaut stumm aus dunklen Augen, irgendwer hat es gekauft, hörte ich; vermutlich jemand, der hier schon viele Häuser hat. Der Garten des Hausmeisters ist verwildert, doch irgendwo brechen sich noch die Narzissen und Krokusse des Vorjahres Bahn. In einem der Fenster hängt eine kleine Dekoration, die man abzunehmen vergaß. Ein Überbleibsel Alltag von jemandem, der auf Erden nicht mehr existiert. So wie es einst mit jedem von uns geschehen wird. Und mit den Sachen, die wir liebten.

Den kleinen Glasengel, der bei mir im Fenster hängt, schenkte mir ein Zisterziensermönch. Er ist genauso grün wie meine Vorhänge, obwohl der Mönch die Vorhänge nicht kannte. Umso mehr mag ich, dass er nun in meinem Fenster hängt, aber für Außenstehende ist auch dieser Engel nur irgendeine Dekoration.
Vielleicht wird man ihn ebenfalls vergessen abzunehmen, wenn ich mal nicht mehr bin und meine Wohnung aus dunklen Augen stumpf auf die Straße blickt, denke ich, mit vertrocknenden Blumen in den Balkonkästen.

Natürlich macht mich dieser Gedanke traurig; zugleich wird mir aber bewusst, wie wichtig es ist, sich nicht an Irdisches zu klammern und Materiellem keine Macht zu geben; nicht mehr, als zum physischen Überleben notwendig ist. Und auch Menschen sollte man diese Macht nicht geben. Wir stehen eines Tages alle allein vor dem Schöpfer. Vielleicht legt dann ein Vorausgegangener ein Gutes Wort für uns ein: Das mag sein. Aber Denunziation, Verleumdungen, Machtspiele, Klüngelei, Korruption: Das wird es dort sicherlich nicht mehr geben. Gott weiß, ob wir gut waren. Wir können uns das nicht kaufen. Nicht erschleimen, nicht ermobben, nicht rauben. Wir müssen es sein. Eine Aufgabe, die einfach scheint, die es aber, wie wohl jeder weiß, nicht ist.

Niemand ist immer und ständig gut, aber die Entscheidung zum Bösen ist genau das: Eine Entscheidung. Das Meer kann sich nicht entscheiden, ob es die Insel beschädigt oder nicht. Als Mensch aber kann man das. Man kann sich aussuchen, wie man seinen Platz auf dieser Welt, auf dieser Insel hinterlässt.
Ich denke über die Abbruchkanten in meinem Leben nach. Manche, so scheint es, waren unvermeidlich. Viele schlug ich selbst, über andere hatte ich keine Gewalt.
Man kann dann noch eine Weile am Ufer stehen und sich nach der Zeit sehnen, als alles noch eine glatte, lichtüberflutete Ebene war; als man seine Füße in warmen, weichen Sand grub, und vielleicht gab es noch ein Paar geliebter Füße daneben, und treue Pfoten hintendrein. Aber letztlich gibt es doch nur zwei Möglichkeiten: Man räumt das Feld und geht dahin, wo es ungefährlich ist. Oder man bestellt das Baggerschiff, das den Abbruch zuschüttet, und den Trecker, der die Kante glättet. Der Sturm aber lässt sich nicht zähmen.

 

 

 

Momentaufnahme, Siedlung

Nach dem Gewitter kommt langsam wieder Leben über das Land. Im Vorgarten durchbrechen grüne Halme die vormals verbrannte Erde; drei weiße Schmetterlinge jagen sich über den sonnengelben Blütendolden des Rainfarns, auf dem noch, Glasperlen gleich, letzte Regentropfen schimmern. 
Noch ist der Himmel verhangen, aber es wird nicht lange dauern, bis das Licht das Wolkengrau verdrängt. Eine erste Ahnung von Blau ist schon zu sehen.

Ich gehe zum Strand. Die Luft ist mild. Außer mir ist niemand dort, die Menschen sind fort. Denn obwohl die Insel zurzeit vor Leuten überquillt, haben mit Einsetzen des Regens alle fluchtartig ihre gestreiften Trutzburgen der Strandkörbe verlassen und das Meer an Strandzelten und Campingsesseln eingeklappt. Was bleibt? Eine seltsam anmutende Siedlung, die für mich eine Menge über den Status Quo der Gesellschaft aussagt.

Denn zum ersten Mal wird mir bewusst, wie viele der Strandkörbe mit einem kleinen, künstlich angelegten Wall umgeben sind; hinzu kommen jene, welche mit Wäscheleinen, Gittern, Fahrradschlössern für die Dauer der Miete abgesperrt wurden, Territorialanspruch und exklusive Nutzungsrechte in die Welt schreiend.
An Stellen, wo nur wenige Menschen hinkommen, ist der Sand glatt und eben. Eine Fläche, die im technischen Sinne „egal“ ist, aber auch im übertragenen Sinne: Der See ist es egal, wer dort entlang läuft. König oder Bettler, Papst oder Politiker, Angestellter oder Aufsichtsrat. Gleichermaßen werden die Fußspuren mit der nächsten Welle eingeebnet: Egalisiert.
Nicht so, wo der Mensch den Strand sein eigen meint und ihn zur Sommerfreude okkupiert. Wie sehr zeigt sich hier das menschliche Bedürfnis, sich Land und Dinge Untertan zu machen und sich, wiewohl süchtig nach Gesellschaft, stets über andere zu erheben oder sich von ihnen abzugrenzen; am liebsten im Rudel, verschanzt hinter der vermeintlichen Macht der Gruppe und/oder ein paar reißenden Leitwölf_innen: 
Wir gegen Die.
Indes: Dass die lauteste Mehrheit nicht zwingend Recht hat, sollten wir in unserem Land seit spätestens 70 Jahren wissen.

Mir ist das nicht geheuer, jetzt, wo ich all diese Festungen dort verwaist vor mir sehe. Ich übersteige einen der Wälle und setze mich in einen der Strandkörbe — Hausbesetzung leicht gemacht.
Mein Hang zum Subversiven, schon früher Gegenstand der Verzweiflung beim Lehrkörper meiner Jugend, ist offenkundig nicht totzukriegen. Ich akzeptiere Dinge nicht, weil sie nunmal so sind oder immer so waren, sondern weil sie mir einleuchten. Weil sie logisch sind und im Idealfall auch gut.
Und was mir nicht einleuchtet, hinterfrage ich. Geht so nicht eigentlich mündiges Bürgertum? 
Etwas ratlos blicke ich zurück und frage mich, warum für viele auch der Grat zwischen Aufmerksamkeit und Auflehnung so schmal ist. Und für viele sind Lösungen so einfach, ach so einfach.
Man kritisiert Missstände auf der Insel? „Ja, dann zieh doch weg.“ Es kriselt in der Partnerschaft? „Ja, dann trennt euch doch.“ Es kommen Herausforderungen auf Europa zu? „Grenzen dicht.“ Man hadert mit ein paar Details römisch-katholischen Kirchenrechts? „Das hast du doch von Anfang an gewusst.“ Beliebte Varianten sind auch: „Hab ich gleich gesagt“ und „War doch klar, dass das schwierig wird.“ — Als ob Stillhalten und -sein oder gar Flucht je ein System verändert, je eine Gesellschaft vorangebracht hätten!
Auch ist es ein Trugschluss zu glauben, ein leichtes, einfaches Leben sei automatisch ein glückliches oder Zufriedenes. Glück braucht so viel mehr als das geringstmöglichse Maß an Reibung: Oft sogar das Gegenteil davon.

Wann, frage ich mich, ist den Leuten eigentlich der Kampfgeist flöten gegangen, das Eintreten für das, was man liebt, und das, was einem wichtig ist? Warum geht „guter Rat“ zunehmend nur noch in Richtung Duckmäusertum oder Kapitulation? Was bitte, ändert sich vom Schweigen und Aufgeben? Was vom passivem Verharren, was von der Flucht in Was-auch-immer? 
Wo, frage ich mich, ist der Wille, die Veränderung zu sein, die man sich wünscht? Muss man denn wirklich immer erst auf „die anderen“ warten, wie in der Schule, als man sich erst aufzuzeigen traute, wenn es auch ein anderer machte, damit man nicht als Streber galt, als vorschnell, als besserwisserisch? 

Wird denn wirklich nur noch aufgestanden, um sein für alles andere blind machende ICHICHICH gegen ein ominöses „DIE DA“ zu verteidigen?
Wobei ich mit dem ICHICHICH das herrische Gebaren vieler gesellschaftlicher Gruppierungen — von Aktivismus bis Politik — oder (um auf den Mikrokosmos „Tourismus auf Langeoog“ zurückzukommen) auch das etlicher Kleingruppen und Paare einschließe. Diese Menschen mögen alle naselang in der „Wir“-Form sprechen: Von Gemeinschaft haben sie trotzdem nichts verstanden.

Nun also, die Strandkörbe. Eigentlich ein schönes Blid man Strand, aber mit diesen unzähligen Festungswällen drumherum ein trauriges Bild. Ich mache ein Foto davon und nenne es „die Einsamkeit der Strandkörbe“; es ist das trostlosesete Motiv, das ich je auf der Insel fand.
Der Himmel reißt auf; in Kürze werden Strand und Burgen wieder belebt sein. Dann verläuft sich der Exklusivitätsanspruch, weil überall Kinder und Hunde herumwuseln und es sich nicht vermeiden lässt, dass auch Utensilien in den „Vorgärten“ der anderen landen oder ab und zu einer hindurchlatscht. 
Vielleicht, und nur das rettet meinen Glauben an die Menschheit, sammelt auch jemand aus der Nachbarburg mal einen fremden Ball auf und gibt ihn zurück mit einem Lächeln oder jemand leiht einer fremden Familie etwas. Vielleicht gibt es dann ab und zu auch eine Gemeinschaft unter Fremden, für mich das Ideal von Gemeinschaft.
Es ist zu leicht, sich in seinem eigenen Mikrokosmos einzusperren und abzuriegeln, zunehmend unerreichbar für
Milde, Nachsicht, Bildung und Menschlichkeit.

Auch das beobachte ich als beunruhigenden Trend: Die Menschen scheinen mir immer härter und unbarmherziger gegenüber anderen, aber im Inneren zunehmend verweichlicht. Wo geht eine Gesellschaft hin, frage ich mich, wo Schmeichelei, Heuchlerei, Opportunismus und Anpassung, in ihrer kriecherischsten Form, als Tugend gefeiert werden? Wo Kinder von klein auf auf „Markttauglichkeit“ gedrillt werden, bei gleichzeitiger gravierender Überbehütung? Wo „Freundschaft“ wie eine Aktie gehandelt wird, wo der Mut zur eigenen Meinung oder gar zur Veränderung gleich als Querulantentum gilt?
Auf der anderen Seite werden ekelerregende Ausprägungen menschlicher Kälte immer salonfähiger: Bösartigkeit und Häme, wohin man blickt. In den Sozialen Medien wird das besonders deutlich. Menschen sterben: Haha-Emoticon. Frau wird vergewaltigt: Haha-Emoticon. Menschen fordern Menschenrechte: Haha. Menschen krebsen am Existenzminumum: Haha. Menschen sagen ehrlich ihre Meinung: Haha. Natürlich ohne konstruktive Gegenrede — man kommt heutzutage ja wunderbar ohne die Anstrengung des Denkens aus, wenn man stattdessen doch genauso gleich persönlich werden kann.
Eine Frau beschwert sich über Sexismus: „Alte sei froh, wenn dich überhaupt noch einer anpackt“. Ein Krankenpfleger klagt über Arbeitsbelastung? „Wenn du in der Schule nicht versagt hättest, hättest du jetzt einen anderen Job und bräuchtest nicht jammern“. Gern auch abgekürzt zu „Mimimi“: Die Infantilisierung der Welt. Noch so eine Seuche, aber ich will nicht abschweifen.
Was ich am meisten vermisse, sind wohl zwei Tugenden, die man, so finde ich, gar nicht hoch genug achten kann: Demut und Dankbarkeit.

Demut und Dankbarkeit gegenüber der Schöpfung, gegenüber dem, was man hat, gegenüber der Gnade des Leben-Dürfens. 
Es gibt so viel, das nicht selbstverständlich ist. Aber um das zu entdecken, muss man bereit sein, seine Festung, sein Rudel zu verlassen und sich den Dingen — und Menschen — stellen. 
Und es lohnt sich, auch immer wieder neu hinzusehen, den Dingen und Menschen einen zweiten, dritten, vierten Blick zu schenken, anstatt schon nach einem halben die Schubladen zuzuknallen und seine Meinung als gesetzt anzusehen. Überall bieten sich Neuanfänge und Perspektiven, auch und gerade jenseits zubetonierter Pfade.

Der Himmel über Langeoog macht das aufs Schönste vor: Steht über dem Meer noch eine schwarzgraue Gewitterwand, so zeigt sich über den Dünen bereits der erste, goldene Schimmer von Sonnenlicht. Wenn man sich ein Stück vorlehnt in seinem Strandkorb und um sich blickt, sieht man das. Guckt man stur geradeaus, ist da nur das Gewitter.

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