Momentaufnahme, Wege

Es ist Hochsaison. Tagsüber ist kaum noch ein Pflasterstein zu erkennen vor den Strandaufgängen: Überall Fahrräder, Fahrräder, Fahrräder. Beim Bäcker lange Schlangen bis weit hinaus auf die Straße. In den Supermärkten die Ware aus den Regalen gezerrt, kaum, dass sie verräumt wurde. Die Strandkörbe ausgebucht, die Cafés voll, die Straßen bunt vor Menschen, die Angestellten bleich und müde. Leer sind in diesen Tagen nur noch die Friedhöfe und Kirchen.

Ich bin noch müde am Morgen; dennoch stehe ich auf, wohl wissend um die Kostbarkeit dieser Momente der Stille, des Wartens auf den ersten Möwenschrei, bevor der Lärm der Welt einsetzt. Dem Liebsten widme ich ein paar Worte, in die er sich lehnen kann, wenn ihn schon mein Arm nicht erreicht, und es tut gut, nicht immer allein zu erwachen, auch wenn uns so viele Kilometer trennen: Auch das gibt Kraft für den Tag.

Ein meditativer Strandspaziergang steht an, es soll um biblische Gartengeschichten dabei gehen und das Hineinspüren in sich selbst, in den Garten der Seele, inmitten in der erwachenden Natur unserer wunderschönen Insel.

 Wir beginnen in der katholischen Kirche, in der sich wesentlich mehr Menschen sammeln, als ich es für möglich gehalten hätte. Mit einer Seelsorgerin und zwei Ordensbrüdern ist die Quote an Theologie-Profis sehr hoch, dennoch herrscht von Anfang an eine einladende, warme und unkomplizierte Atmosphäre, die auch dem interessierten Laien, also mir, Geborgenheit vermittelt und Ruhe in sein Herz pflanzt.

In Stille bewegt sich die Gruppe zum Strand, und es ist schön, dass es angesichts all des Lärmen und Tosens um uns tatsächlich noch Menschen gibt, die nicht nur Stille aushalten, sondern auch Momente der Stille schenken können. 

Rückschau zu halten, werden wir eingeladen: Gerahmt von 7 Bibelstellen, die sich mit Gärten beschäftigen, soll das eigene Leben in 7 Abschnitte unterteilt werden, die wir gehend reflektieren — dabei überlegend, welche „Pflanzen“ wir daraus mitnehmen und weiter nähren möchten.


Mich ängstigt dieses Vorhaben ein bisschen, schleppe ich doch, wie vermutlich jeder Mensch, auch eine Menge Vergangenheitsmüll mit mit herum, den ich lieber unangetastet ließe. 
Aber: Für einen schönen Garten muss man sich eben auch den Schädlingen und dem Unkraut darin widmen; und den Ansatz, dabei auf das zu fokussieren, was uns weiterbringt (und immer weiterbrachte), finde ich wunderbar. Denn oft genug bringen ja auch schlichteste Samenkörner wunderschöne Gewächse hervor, und Pflanzen, die man in der Kälte gestorben wähnte, erwachen zu neuem Leben. Warum also sollte das im „Seelengarten“ anderes sein? Also beginne ich mutig zu harken.



Frühe Kindheit. Was tummelt sich da im Garten? Tiere, die man liebt. Pflanzen, die einen begeistern. Ein Herz voller Zuversicht, Vertrauen, nur das Gute sehen und Gutes erwartend, noch unbehelligt von der Grausamkeit der Welt. Dann: Im Kindergarten dieses Mädchen, das mich immer verprügelte, obwohl ich nichts getan hatte, sondern einfach nur da saß. Bis dahin hatte ich gelernt: Man wird geschlagen, wenn man Böses getan hat. Ich hatte aber nichts Böses getan. Ich saß da. Trotzdem Schläge. Das frischgemalte Bild zerrissen, die Jacke auch. Die Sandburg, in die ich hingebungsvoll Zinnen und Gräben zog, vertieft ins Spiel: Zerstört unter prasselnden Schaufelschlägen, die auch schmerzhaft meine Hände trafen, mein Weinen Benzin im Feuer. Die Kindergärtnerin? „Ja, dann wehr dich doch!“
Gelernte Lektionen: Es gibt geborene Sadistinnen. Es gibt Gleichgültigkeit. Sich-nicht-Wehren ist schlimmer als Schlagen. Und Gott mag Gutes mit Gutem vergelten, Böses mit Bösem: Die Welt tut es nicht.


In der Schule ähnliches Spiel, mein Versagen an der Blockflöte, die Lehrerin, die Musik und katholische Religion unterrichtete, voller Hass. „Kannst du dich nicht wenigstens ordentlich kämmen, wenn du schon sonst nichts kannst?“ Wir kamen vom Schwimmen; ein Reißen an den zerzausten Haaren, das böse, flache Vollmondgesicht der Lehrerin über mir mit der Aura und Wärme eines Kreissägenblattes, die verhasste Flöte vor mir. Den katholischen Mädchen steckte sie manchmal Süßigkeiten zu, aber auch nur den hübschen. „Du siehst aus wie ein Engel“ sagte sie dann, und drehte die blonden Löckchen der so Verehrten um die Finger der einen Hand, während die andere ein Bonbon in das Engelsmündchen schob. Die anderen bekamen nichts, und ich obendrein eine Drei in Musik, meine bislang mieseste Note.

Gelernte Lektionen: Ein Christenmensch ist nicht zwingend ein guter Mensch. Frauen sind nicht netter, mitfühlender oder mütterlicher als Männer. Wenn man schön ist, wird man geliebt: Und nur dann. Blockflöten sind des Teufels.


So lächerlich das alles heute klingen mag, wenn es von einem erwachsenen Mann kommt: Die Erinnerung daran fällt schwer, dennoch. Was aber nun Gutes daraus mitnehmen, welches Pflänzchen nähren? 
Erschien mir die spontane Rückschau zunächst nichts als düster, so sehe ich es plötzlich doch sehr deutlich in der Ecke des verhassten Klassenzimmers blühen: Es gab etwas, das mir Licht brachte, und lebenslang Licht bleiben sollte. Versagte ich zwar an der Blockflöte, so lernte ich dafür aber schneller Lesen und Schreiben als alle anderen. Bücher wurden meine Freunde, ebenso wie die eigenen Geschichten in meinem Kopf, die ich zu Papier brachte, in Worten oder Bildern.



Der nächste Lebensabschnitt. Die Jugend und das Erwachen erotisch-romantisch konnotierter Liebe. Die erste Begegnung mit einem Schmerz, dessen Brutalität ich nicht einmal am Rande meiner Vorstellungskraft hatte: Liebeskummer. Das Wissen um die eigene Andersartigkeit, wenn auch noch ohne Namen. Das Suchen und Nicht-Finden eines Platzes in dieser Welt, Dunkelheit, Verzweiflung.
Nein — hier schalte ich meine innere Nachttischlampe an, um dieses Monster zu vertreiben: Es war nicht schön. 
Ich reiße mich fort aus der Tiefe meiner Erinnerung, zurück an den Strand. Lachmöwen balgen sich um einen Krebs. Algen polstern den Rand des Priels mit grünem Belag. In der Ferne das Leuchtfeuer von Norderney: Ich bin hier. Alles ist gut. 
Was aber nun auch aus dieser Zeit nähren und hegen? Auch hier rankt die Blume der Literatur empor, das Malen dazu, sowie die Aneignung von Wissen — tatsächlich: Ich lernte gern. Nur die Menschen verstand ich nicht, mich eingeschlossen.

Die nächsten Lebensabschnitte: Viele Experimente, viel Irren. Ein bisschen Scham, ein bisschen: Ach, naja. Der Seelengarten gewinnt an Struktur, Beete zeichnen sich ab, Wege. Der Hauptweg plötzlich so klar zu erkennen, als wäre er frisch ausgestreut mit hellen Muscheln. Doch das Tor, was es vor diesem Weg zu überwinden gilt, ist hoch und von Stacheldraht umzäunt. Ich reiße mich blutig daran, mich aufbäumend, dann fallend, aber schließlich: Auf der anderen Seite. Die ersten Meter auf dem neuen Weg bin ich so nackt wie nie zuvor. Jeder sieht es, das Blut, die Narben. Aber ich finde neue Kleidung, die mir passt. Es geht voran. Links und rechts des Weges gewinnen die Stauden an Kraft. Bäume beugen beschützend ihre Kronen über mich, zu hohen Kathedralen wachsend, in denen ich erst mich selbst, und dann Gott wiederfinde. Am Ende der Baumkathedrale öffnet sich der Blick aufs Meer: Ich bin zuhause, endlich.
Gelernte Lektionen: Es lohnt sich doch, das Leben.


Psalm 147 wird gelesen, mir bis dahin — nach jahrzehntelanger Kirchenabstinenz — unbekannt. „ER schafft deinen Grenzen Frieden.“

Es ist der schönste Satz, den ich seit Langem hörte. 
Genau so ist es, denke ich: Das ist mein Jetzt, mein Glück, meine Heimat. Es herrscht Frieden an den Grenzen. An denen, die ich überwand, aber auch an jenen, die noch da sind. Sie ängstigen mich nicht mehr. 
Ein großes Gefühl durchflutet mich mit so ungeahnter Wucht, das ich fast zu Taumeln meine: Dankbarkeit. Liebe. 
Und sehr viel Zuversicht. 
Am Himmel reißen die Wolken auf, Schiffe auf Reede gewinnen an Konturenschärfe. Aber ich taumele nicht, sondern stehe mit beiden Füßen fest im Sand.

Eine andere Bibelstelle folgt, in der sich Nordwind und Südwind treffen.



Um uns herum erwacht jetzt der Strand, erste Urlauber kommen, die Surfschule wirft ihre Bretter in den Priel. „Ih, das ist ekliger Dreck hier“, schreit ein Kind, „Das ist nicht eklig, das ist nur Schlick!“ erwidert der Lehrer, und ich bin dankbar, dass er die Kinder keine Abscheu vor der Schöpfung lehrt.

So ist das vielleicht auch mit den Teilen unseres Lebens, die wir verabscheuen und für die wir uns schämen, denke ich. Man meint: Es ist ekliger Dreck, der einen für immer besudelt, aber in Wirklichkeit kann man das meiste davon abwaschen, sogar nach Jahren noch. Man meint, man stecke fest auf immer und ewig, aber meistens gibt es dann doch Menschen, die einem die Hand reichen; die einem zeigen, wo in all dem Alltagsgestrüpp noch die Blumen zu finden sind, und die einen motivieren, nicht müde zu werden bei der Gartenpflege.

Als wir das Vaterunser beten, erscheinen wir ein wenig wie aus der Zeit gefallen, wie wir dort stehen, die Worte sprechend und ansonsten schweigend, während alles um uns schon lärmt. Es mag auf Außenstehende farblos wirken; vielleicht sogar trist, dieses Häuflein Pilgernder dort am Strand. Aber der Garten in meinem Inneren blüht in schönsten Farben, und durch die Dächer der Baumkronen fällt Licht.

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