Zaunkönig

Der Neujahrstag beginnt mit einem lauten Schmettern. Ich höre den Zaunkönig, lange bevor ich ihn sehe. Dann kommt er angeschossen; fliegt an mir vorbei und auf den niedrigen Zaun des Schullandheims zu, den er sich als Kurzzeitthron auserkoren hat. Dort sitzt er dann, das winzige Vögelchen: Kaum größer als meine Handfläche, so leicht wie ein Blatt Papier, in all seiner braungesprenkelten Pracht. Er wippt und hüpft und schmettert munter weiter; ist mal hier, mal dort, lässt sich bewundern und entzieht sich mit der Geschwindigkeit seines Umherflatterns doch jedem Fotografierversuch. Ich kenne das schon, also hebe ich die Kamera nicht einmal mehr an, sondern sehe ihm einfach nur zu, voll Bewunderung für seine königliche Herrlichkeit.

Aufgeplusterte Angeber sind mir in der Regel zuwider, aber Zaunkönige mag ich. Zaunkönige sind klein, rund und niedlich, wobei der Niedlichkeitsfaktor durch das sanft gesprenkelte Gefieder in seinen warmen Braun- und Weißtönen noch erhöht wird. Und doch machen sie jedem, der sie sieht — und hört — klar, dass es sich lohnt, sie nicht zu übersehen. Dass sie jeden Respekt verdienen. Und dass sie König des Zauns sind. Und zwar jeden Zauns: Vom Müllhäuschen bis zur Villa. Bis zu 90 Dezibel kann so ein Zaunkönigskehlchen erzeugen und damit bis zu 500 Meter weit hörbar sein. Der fröhlich zwitschernde Schnabel ist dabei kürzer als mein kleiner Fingernagel. Mein Jahr hätte nicht schöner beginnen können als mit diesem Zaunkönig, mit diesem Paradebeispiel an gesundem Selbstbewusstsein, das mir im Leben so oft fehlte.

Letzteres wird mit den Jahren besser — das kann ich allen Menschen, die jünger als ich sind, zusichern, wiewohl es auch nicht schadet, irgendwann endgültig seine Grenzen zu kennen, samt der Einsicht: Das können andere besser. Dann verzettelt man sich nicht mehr in Hundert Was-wäre-wenn-Versuchen, sondern baut nur noch das aus, was da ist. Und man umgibt sich freiwillig auch nur noch mit Menschen, die einen mit liebevoller Objektivität zu betrachten wissen: Die einen weder verklären und in Höhen jazzen, von denen man zwangsläufig abstürzen muss, noch voreilig vom Zaun schubsen, obwohl man nicht einmal wackelt.

Die Menschen, mit denen ich mich umgeben möchte, akzeptieren, wenn irgendetwas nicht mehr geht. Diese Menschen helfen einem Packen, halten vielleicht die Leiter fest, damit man langsam und vorsichtig selbst vom Zaun steigen kann, und dann gehen sie mit einem weiter, irgendwohin, zu einem neuen Garten, zu einem neuen Zaun. Der ist vielleicht niedriger als der alte, hat eine andere Farbe oder einen andere Form, aber irgendwann hat man sich auch darauf eingerichtet, und dann reichen die Freunde einem die Krone hoch, die sie in der Zeit des Wanderns, der Such- und Betteljahre sorgsam aufbewahrt hatten.

Mein alter Zaun sind meine Zeichenstifte. Den Zaunkönig, den ich nicht zu fotografieren vermochte, wollte ich zeichnen. Ein letztes Mal noch, der zitternden, krampfenden Finger zum Trotz. Aber es geht einfach nicht mehr wie früher. Wie ein Fahrrad, dessen Lenkerschraube verstellt ist, nicht die Spur zu halten vermag, produziert der Stift längst nicht mehr die Linie, die ich ihm vorgebe; macht Schlenker hier und Zacken da, wo eine energische gerade Linie sein sollte, und jegliche feine Rüttelbewegung zur Anlage eines flauschigen Gefieders treibt mir Schmerztränen in die Augen. Es geht nicht mehr, und so ist dieser zitternde, alte und gichtige Zaunkönig der letzte Vogel, den ich zeichne. Und mit ihm packe ich all die Dinge in einen Koffer, die einst so schön waren und sich als kleine Quellteiche der Bestätigung, dass Gott auch mich nicht talentlos erschaffen hat, durch meine Biografie geglitzert hatten: Die Komplimente, die Ausstellungen, die Verkäufe, das Lob. Nun bleibt mir das Malen mit Sprache, für das die Beweglichkeit meiner Finger hoffentlich noch eine Weile ausreichen wird. Das ist mein neuer Zaun.

Nun wird das Zeichnen nicht die einzige Aktivität sein, von der ich mich im Zuge des Alterns verabschieden muss, und ich bin nicht der Einzige, dem es so geht. Ich kenne Menschen, die früher zauberhaft filigrane Dinge bastelten und nun kaum noch die Knöpfe an ihrer Jacke schließen können. Ich kenne Menschen, die früher wieselflink jeden Baum erklommen hätten und sich nun, auf den Rollator gestützt, nur noch in der Erinnerung aus der Baumkrone winken sehen können. Aber ihre eigene Krone — die hat ihnen niemand genommen. Das Talent ist nicht fort. Es wird immer ein Teil von ihnen sein. Es hat sich nur Schlafen gelegt. Und so hoffe auch ich, mit dem fortschreitenden Verlust meiner Fingerfertigkeiten Frieden schließen zu können. Es bleibt ja noch mehr als genug.
Vielleicht werden die Zäune mit dem Alter niedriger, vielleicht werden sie breiter, damit man bequemer drauf sitzen kann. Vielleicht braucht man jetzt öfter eine helfende Hand, um nach oben zu kommen. Und vielleicht braucht es irgendwann sogar eine Rampe. Aber es geht immer noch aufwärts. Immer.
Und niemals, so erinnert mich der kleine Zaunkönig in meiner Straße lautstark, sollte man da, wo man ist, aufhören zu Singen.

Meer in Moll

Dem Meer ist’s einerlei
wohin wir fließen
an welchen Strand
es Dich und mich
verschlägt

Der Wind hat längst
schon jede Spur vom „Wir“
verweht und treibt
dein Boot weiß Gott
wohin

Ob das tote Holz am Strand
noch spürt, dass es einst
voller Leben war?
Ich frage mich, was bleibt
von uns

Wetter104undNLKWN8Wetter104undNLKWN7

 

Momentaufnahme, Licht

Nebelfeuchte Luft liegt über den leeren Straßen. Endlich ist es mild geworden, das Thermometer zeigt knapp über 10 Grad.
Zuhause ist es dunkel und sehr still. Ich schalte ein Licht an. Meine Wohnung liegt da wie ein Museum. Alles schaut mich an; hell, sauber und ordentlich. Mir fehlt das Leben darin.
Ich nehme das Kissen an mich, an dem er lehnte. An meinem Tisch, in meinem Leben. Der Stuhl steht, wie er ihn verließ.
Das Kissen riecht noch ein wenig nach ihm. Ich widerstehe dem Drang, es noch fester in die Arme zu schließen, mit in mein Bett zu nehmen, für eine letzte Illusion seiner Anwesenheit, für den verblutenden Traum eines langen, friedlichen Schlafs in seinen Armen. Ungestillte Sehnsucht, nahender Abschied.
Die Stille ist laut.

Das Horn der Spätfähre erschreckt mich. Morgen wird es ihn fortnehmen und ein „Nie wieder“ bringen. Ein einsamer Klagelaut, der bis in meine Wohnung dringt; bis in die zugige Bahnhofshalle meines Herzens. Auf deren verwaisten Gleisen der Inselbahn ein letztes Nachvibrieren seiner Anwesenheit. Geliebter Freund: Leb wohl.

Zugleich wird der morgige Tag ein Tag des Neubeginns. Meine Firmung findet statt. Ich putzte mein Herz so rein wie möglich dafür; so sauber, wie man ein abgewohntes, trauriges Möbel eben kriegt. Der Sonntag Laetare. „Freut Euch!“ heißt das. Ein so viel schönerer Imperativ als das Lebewohl, das folgen wird wie, nunja: Das Amen in der Kirche.

Der Priester wird mir die Hand auflegen und Heiliges Öl auftragen. Ich werde das Haupt senken und den purpurfarbenen Kreppstoff seines Obergewandes sehen, den weißen Lochstickereisaum der Albe, seine Schuhspitzen. Letztlich: Den Boden und Staub, zu dem wir alle wieder werden: Ich dann immerhin als Katholik. 
Ich werde weiters dem Satan und allen Versuchungen abschwören und einen Satz sagen, den ich mit nervöser Hand auf eine Postkarte schrieb, die ich im Osnabrücker Domforum kaufte. Sie zeigt eine schlichte, schöne Statue der Gottesmutter. 
„Ich glaube und bekenne alles, was die heilige, katholische Kirche als Offenbarung Gottes glaubt, lehrt und verkündet.“ — So sei es.

„Gott ist für mich, ich fürchte mich nicht.“ Das ist mein selbstgewählter Firmspruch, Psalm 118,6. Er nährt das Herz, wärmt und stärkt. Die Welt mag gegen mich sein, meine persönliche kleine Welt auseinanderfallen, aber: Gott ist für mich. Gott ist nicht gegen mich. Ich fürchte mich nicht.
Ich habe lange auf diesen Tag hingearbeitet, länger noch auf dieses neue Vertrauen in die Kirche. Ich habe Gott gründlich zugehört: Dein Wille geschehe. Wie in der Freud, so auch im Leid. 

Noch immer ist Buß- und Fastenzeit.

Ich glaube inzwischen fest daran, dass Enthaltsamkeit und Mäßigung mehr ist als ein Opfer, als etwas, womit man sich quält. Lange ließ ich das Übermaß in Allem walten. Wenn Gott mich nun das Sparen und Aufsparen lehrt sowie das Entsagen auch großer Sehnsucht, so nehme ich das an. Leicht ist es freilich nicht.



Ich vermisse meinen lieben tierischen Gefährten und meinen Lieblingsmenschen auf diesem Stück des Weges. Aber so hat Gott uns wohl nur bis zu einem bestimmten Punkt füreinander bestimmt. Oft erkennt man, so erzählte mir der Lieblingsmensch dereinst, das Gute in schmerzhaften Dingen, den Plan Gottes, erst lange nach einem Ereignis. Aber, so sei er sicher, es hätte alles seinen Sinn, so unnötig und bitter einem etwas zunächst auch erscheinen möge.
Ich halte die beiden Freunde in meinem Herzen und in Erinnerung, wie sie waren, als ich sie am Liebsten hatte.

In einem Winkel meiner angegrauten Seele legt Hoffnung einen süß duftenden Blütenteppich übers karge Land. Ein zärtlich flüsterndes „Vielleicht. Doch noch einmal. Irgendwann.“ Doch manchmal wird aus einem „Für immer“, das man ersehnte und an dessen Lichtschein man sich wärmte, eben wirklich ein Abschied für immer.



Ich denke über die Begriffe „Hoffnung“ und „Liebe“ nach, in weltlicher Hinsicht. Wie kann es sein, frage ich mich, dass so etwas Wunderschönes, je nach Kontext und vorgefügtem Adjektiv, zu so etwas Traurigem werden kann?
Vergebliche Hoffnung. Unerwiderte Liebe.


Was kann man dagegen setzen? Glauben natürlich; laut Bibel der Dritte im Bunde dieser Begriffe. Aber auch wieder Hoffnung: Hoffnung auf ein neues Licht am Horizont. Und sogar Liebe: Das Gehenlassen im Guten, das Bewahren von Haltung selbst in unwürdigen Situationen, das unerschütterliche Entgegenbringen von Respekt und Achtung selbst im Streit. Das Nichtverlangen und nicht grollen. Das Beiseiteschieben von Eitelkeit und Zorn. Es fällt nicht immer leicht. Aber auch das zu schaffen, sage ich mir, ist Liebe.

Es ist spät geworden. Der Anzug, den ich tragen werde, ist schwarz. Eine Farbe der Demut, der Trauer, des Abschieds. Es ist ein Freudentag, rufe ich mir die Vorabendpredigt des Priesters in Erinnerung: „Laetare!“.

Das Herz will sich freuen, sich erfüllen lassen von den schönen Gesangsstimmen der Pastoralreferentin und des Priesters. 
Und doch dringt durch die Melodien, den Weihrauch und das Licht der Kirche, dumpf und mahnend das Horn des Schiffes und das schrille Pfeifen der Inselbahn.

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