Blaue Stunde

Die Blaue Stunde kommt früh dieser Tage. Es ist nicht einmal 16 Uhr, als sich eisblaues Licht über die Insel senkt und allem darauf und darum etwas Unnahbares verleiht. So, als betrachte man die Winterdämmerung wie ein Exponat in einer Glasvitrine. Das schwindende Licht lässt alles verwaschen wirken. Die stattliche Brandung mit ihren meterhoch sprühenden Gischtkämmen, die grauen Wolkenwalzen, die wenigen Menschen. Das Leuchtfeuer von Norderney blakt verloren in die viel zu frühe Dunkelheit.
Am Flutsaum sitzt eine Möwe, die sich mit einem glibberigen Happen abquält. Von allen Richtungen nimmt sie das Gebilde in den Schnabel, längs, quer, versucht zu schlucken, spuckt wieder aus … und letztlich hat sie es geschafft: Das Knäuel aus Plastiknetz und Fischresten rutscht die hungrige Kehle hinab, ich kann die Ausbuchtung im Hals von außen sehen. Das war jetzt dumm, Möwe, denke ich. Vermutlich wirst du daran sterben. Zugleich fühle ich mich schlecht, denn ich hätte die Möwe verscheuchen können, als ich durch den Zoom meiner Kamera sah, mit was sie sich da abplagte. Ich habe es nicht getan, ich hätte ein Möwenleben retten können. Sie wäre doch eh sofort wiedergekommen, versuche ich meine Schuldgefühle zu besänftigen. Sie hätte um jeden Preis versucht, das zu essen. Und wenn nicht das, dann den nächsten Plastikmüll. Trotzdem war es falsch, denke ich, ich hätte sie retten können, und sei es auch nur für die nächsten paar Minuten.
Es wird schon zuviel gestorben in diesem November.

In meinem Lieblingsorden musste einer der Mönche viel zu früh heim zum HERRN, Leukämie, entsetzliche Sache. Und täglich sterben Unzählige an Corona; die vierte Welle ist über das Land gebrochen, so kalt und unbarmherzig wie diese Winterdämmerung. In den asozialen Medien sind binnen weniger Minuten Lachsmileys unter solchen Meldungen, Relativierungen und jede Menge anderer Zerebraldurchfall, dabei kann Merkel nicht einmal mehr alles Schuld sein, weil Merkel in Kürze nach 16 Jahren a.D. ist, noch etwas, was dieses Jahr prägt, und natürlich auch mich. Zweifelsohne bin ich ein Kind der Kohl-Ära, ich wuchs mit Birnenwitzen auf. Als Merkel Kanzlerin wurde, eilte ich gerade durch irgendeinen Münchner U-Bahnhof, eine Boulevard-Zeitung titelte: „Es ist ein Mädchen!“ Der Duden schuf unverzüglich Platz für das Wort „Bundeskanzlerin“, „Kapitänin“ folgte ungefähr zeitgleich. Und mittlerweile gibt es wohl Kinder, die fragen, ob auch ein Mann Bundeskanzlerin werden kann. Es war mitnichten alles schlecht.

Nun aber ist endgültig Schicht am Schacht für unsere Bundesphysikerin, die ich aufgrund ihrer uneitlen Unaufgeregtheit meistens mochte, wenn auch nicht ihre Partei. Auf jeden Fall gibt mir auch dieses Ereignis das Gefühl, dass dieses Jahr nur so an mir vorbeigerast ist — in einem Tempo, wie ich es mir von der Deutschen Bahn so manches Mal gewünscht hätte. Kein außerplanmäßiger Halt nirgends, kein Stillstand auf freier Strecke.

Übermorgen ist der Erste Advent. Ich texte die Freundin an, ob sie mir am Strand entgegenkommen möchte, denn auf einmal möchte ich nicht mehr allein sein unter dieser eisblauen Winterglocke, aus der bald alles Licht abgesogen sein wird. Sie hat gerade Feierabend und heute auch noch kein Tageslicht gesehen; seelisch dürstend strecken wir unsere Gesichter den letzten paar Lux vom Himmel entgegen und atmen noch ein paar Lungenvoll klare Meeresluft. Bald setzt nadelspitzer Eisregen ein.

Ich habe der Freundin ein paar Hausschuhe gekauft und sehe auf diese winzigen grünen Filzschläppchen, als ich meine sandverkrusteten Stiefel daneben ausziehe. Vielleicht ist doch nicht alles nur an mir vorbeigerast dieses Jahr, denke ich. Es gibt da ja doch noch etwas, das sich mit einer wärmenden, aber nie anmaßenden Selbstverständlichkeit in meinem Leben ausgebreitet hat; so wie die Wärme, die sich nun über den eingeschalteten Heizkörper in den klammen Zimmerecken verteilt.
Wir haben nun beide zwei Zuhause auf Langeoog, und das ist für mich ein sehr angenehmes Maß von Nähe, die weder besitzt noch einengt, auf die aber dennoch Verlass ist. Ich wusste nicht, ob wir das schaffen. Oder besser: Ob ich das schaffe. In einem großen Areal meiner Seele werde ich wohl immer ein Einzelgänger sein, aber es tut auch gut, dass die wenigen Gesellschaftsräume meines Herzens nun nicht mehr ganz unbewohnt vor sich hinstauben, mit blinden Spiegeln und fadenscheinigen Tüchern über allem darin. Nun aber, nach fast zwei Jahren, wächst das Vertrauen auf etwas, bei dem man zwangsläufig noch einmal an die scheidende Bundeskanzlerin erinnern muss: „Wir schaffen das.“

Ankommen ist eine schöne Sache. Auf dem Bett steht der Karton mit der Adventsdeko, mit der ich die Ankunft des HERRN in diesem Jahr zelebrieren möchte. Etliches habe ich nicht wiedergefunden, denn was Advents- oder Osterdeko angeht, bin ich ein Eichhörnchen: In dieser Kiste fnde ich es ganz sicher wieder. Dieser Platz ist idiotensicher. Ordentlich weggepackt, steht das Zeug dort den Rest des Jahres nicht im Weg herum. Ja, und dann ist der Advent immer wieder zu schnell da und die Kisten sind weg.
Ich wühle in dem, was noch da ist, und schalte die Lichterkette an. Warmweiße Sterne strahlen, die Batterie hat durchgehalten. Im Regal steht die Krippe, ein sehr geliebtes Geschenk meiner Eltern. Maria, Josef mit der Laterne, das Baby, die Schäfchen. Alle haben treu gewartet, alle haben eine Schicht Staub angesetzt, die ich mit einem Mikrofaserlappen vorsichtig abwische.
Deine Welt, HERR, ist ziemlich kaputt, denke ich, als ich den Stall wieder häuslich herrichte. Der Stern am Dachgiebel fällt zwei Mal herunter, als ich den winzigen Holzpin ins Gebälk zu drücken versuche. Aber dann sitzt er: Das Licht wird kommen.
Draußen ist schwarze Nacht.

Halleluja

Es ist ein eisiges Osterfest. Sturmböen peitschen Hagel durch die Straßen, am Strand zeigt eine brüllende See ihr Drama vor leeren Rängen. Zwischendurch eine kurze Illusion von Frühling: Leuchtende Himmelsbläue, zart hingetupftes Wolkiges. Goldene Strahlen, die sich aus schwarzen Gewitterfäusten zwängen, bevor der nächste Platzregen einsetzt. Verirrte Schneeflocken tanzen über frierenden Narzissen. So geht das drei Tage lang, und eigentlich, denke ich, passt dieses Bilderbuch-Aprilwetter auch perfekt zum heiligen Triduum mit seiner Abfolge aus Erstarrung, Trauer, Leere, Hoffnung und Freude. Zum Spazierengehen hätte ich mir indes etwas anderes gewünscht, denn schön ist das Sauwetter nicht. Die Fotos für die Arbeit mache ich mit halb zugekniffenen Augen, immer auf der Hut, dass die Kamera nicht zuviel Sand frisst. Der Wind ist grob; er schubst und schlägt und zerrt an Allem. Heruntergehen zum Meer? Unmöglich. Kommt der Sturm von vorn, drückt es mir die Brust zusammen und ich kann kaum atmen. Selbst zu Fuß geht es nicht voran.
Auf den Bildern sieht es wildromantisch aus: Der tiefblaue Himmel mit seinen majestätischen Quellwolken. Dünenkämme, auf denen sich lauter kleine Sandwirbelstürme bilden, sodass es scheint, als würden sie dampfen. Und natürlich: Das Meer mit seinen gewaltigen Wogen, die sich teerschwarz unter sprühend weißer Gischt aufbäumen und an den Strand donnern. In den Herzen der Tourist:innen, die jetzt gerne auf der Insel gewesen wären, regt sich Sehnsucht: Ach, wie gerne würde man sich da jetzt die Seele freipusten lassen. Wie schön das raue Nordseewetter doch ist.
In der Tat hat das zweifelsohne seinen Reiz. Von drinnen betrachtet, mit einer heißen Tasse Tee.
Ich jedenfalls bin erst einmal froh, als die Kirchentür hinter mir zufällt.
Lumen Christi.
Deo gratias.

Die Osterkerzen leuchten warm; ein letztes Heulen des Sturms verklingt mit dem Einsetzen der Orgel: Halleluja, Jesus lebt!

Auf die Freundin und mich regnet Weihwasser zum Taufgedächtnis; rechtzeitig haben wir die Brillen abgesetzt und halten sie in den Händen. Der Priester zielt gut mit dem Aspergil. Es ist ein junger Mann mit Elan, dem man das Halleluja glaubt.
Und es ist gut, dass er da ist.

Das Licht durchdringt alles, und plötzlich kann man sie fast greifen: Die Hoffnung. Die Freude, die Zuversicht. Es wird eine Zeit kommen nach dem Virus — oder zumindest eine Zeit nach der Durchimpfung. Es wird weitere Osterfeste geben. Das nächste vielleicht schon ohne Masken. Oder mit Gemeindegesang. Und das übernächste ist dann vielleicht sogar wie vor Corona.
Die letzte Osternacht feierte ich allein mit dem Gotteslob und einer Kerze vor dem Rechner. Während unser Bischof tapfer im einsamen Dom vor der Webcam zelebrierte, pries ich den HERRN in schiefen Tönen. Aber das Haus war leer in der Pandemie, wen sollte das dann stören?

Es ist schön, dass es in diesem Jahr wieder Präsenzgottesdienste gibt, wenn auch unter strengsten Bedingungen und mit halbleeren Bänken. Fast unwirklich scheint jetzt die Erinnerung an die letzte Osternacht vor der Pandemie, in der die Kirche so voll war, dass wir sämtliche Notsitze an den Bänken ausgezogen hatten und trotzdem nicht alle Menschen sitzen konnten. Ich kniete recht unsanft auf dem Lüftungsgitter; den Rest der drei Stunden stand ich. Aber auch das sorgte für bleibende Erinnerungen.

„Frohe Ostern!“ ruft der junge Geistliche der Freundin und mir nach, als wir die Kirche verlassen. Seine golddurchwirkte Stola strahlt mit ihm um die Wette. Vor uns liegt die Schwärze der Inselnacht.
Am nächsten Morgen sitzen die Freundin und ich beim Osterfrühstück. Wir haben die Eier gemeinsam gefärbt, es ist unser zweites gemeinsames Ostern. Ich sehe sie an und kann gar nicht glauben, dass dieser Mensch nun schon so lange an meiner Seite ausharrt. Die Zeit rast, obwohl doch objektiv betrachtet kaum etwas passiert durch die Corona-Beschränkungen: Man kann nicht groß etwas erleben, nicht verreisen, sich nur mit einer kleinen Auswahl an Dingen ablenken. Natürlich machen wir schon Pläne für „Danach“: Suchen Unterkünfte, die längst noch geschlossen sind, planen Elternbesuche, Museen-, Zoo- und Einkaufsbummel; träumen von Reisen, die wir uns ohnehin nicht leisten können. Aber wir leben auch gut im Jetzt; genießen die leere Insel und die überschaubare Arbeitsbelastung. Es ist ein gutes Leben. Und wir hatten verdammt viel Glück.

Dieser Tage räumte ich meinen Posteingang auf; löschte jahrealte E-Mails von irgendwelchen Menschen, denen ich einst auf höchst ungesunde Weise verfallen war und noch mehr Mails, in denen ich mich bei Familie und Freunden über diese Menschen ausheulte; über all die Machtspielchen, die emotionale Erpressung und das Leid; all diesen toxischen Scheißdreck, den ich nie als solchen erkannt hatte. Der Fairness halber sei erwähnt, dass ich aber auch all den toxischen Scheißdreck, den ich selbst angerichtet hatte, selten als solchen erkannt hatte. Vielmehr wähnte ich mich stets als den allein aufrichtig Liebenden; als den einzigen, dem in dieser Beziehung Unrecht geschah; als den, den man für sein Lieben kurz über lang immer grausam bestrafte.
Nun aber, mit vielen Jahren bis Jahrzehnten Abstand, las ich all diese Sachen und schämte mich sehr. Wie sehr hatte ich mich ausnutzen, manipulieren, demütigen und bloßstellen lassen, nur damit mir jemand ein paar Krümel Anerkennung, einen Anflug von Zärtlichkeiten hinwarf oder mich überhaupt zur Kenntnis nahm? Von „Liebe“ mag ich gar nicht reden. Ich schämte mich dafür, wie bedürftig ich mich anderen gezeigt hatte — und wie nackt. Und wie oft ich selbst dabei Grenzen übersehen und übertreten hatte; im Verlangen nach Gegenliebe, die mir vermeintlich zustand, weil ich dafür doch alles getan hatte. Aber ein „Lieb mich gefälligst!“ funktioniert nicht. Liebe ist kein Imperativ. Man kann sich Liebe nicht erarbeiten, nicht verdienen. Liebe lässt sich auch nicht einfordern. Sie ist da oder nicht.
Und wie unspektakulär sich Liebe anschleichen kann, hatte ich bisher auch nicht gewusst.

Ich hatte immer auf das große Feuerwerk gewartet und dabei übersehen, dass eine sanft leuchtende Kerzenflamme viel länger Bestand hat. Kein Getöse, keine Flamboyanz. Doch nun sehe ich diese sanft leuchtende Flamme, und drumherum ist eine warme Stube aus Geborgenheit mit der Ahnung, das ich dort bleiben kann.
Ich muss nichts besitzen und nichts darstellen. Ich muss einfach nur sein. — Musste ich wirklich 45 werden, um zu begreifen, dass es Menschen gibt, denen das reicht?
„We’re just two lost souls swimming in a fish bowl“, habe ich Pink Floyd im Ohr, und vielleicht ist das auch so, aber auf jeden Fall schwimmen wir in noch immer in wohltuend ruhigem, klaren Wasser, das von dem Paket an Verletzungen, das wohl jeder in unserem Alter mit sich herumschleppt, nur selten getrübt wird.

„So, so you think you can tell
Heaven from Hell
Blue skies from pain
Can you tell a green field
From a cold steel rail?
A smile from a veil?
Do you think you can tell?“

— So geht das Lied weiter, und nein: I don’t think I can tell.
Man kann nur erahnen, wünschen, hoffen. Man muss vertrauen. Aber gerade das fällt oft schwer.

Tatsächlich komme ich damit zurück zur Osterbotschaft, denn auch die Jünger mussten vertrauen, dass Jesus wirklich auferstehen würde. Dass Leid und Tod überwunden würden. Qui tollis peccata mundi. Und dann gab es den ungläubigen Thomas, der erst in der Wunde herumstochern musste, um zu glauben. Und ich? Ich musste erst glauben, nein: wie Thomas begreifen, dass Christus tatsächlich auch mich nicht aus den Augen verloren hatte, dass er da war, dass ich bei IHM Trost und Liebe fand. Liebe, die ich mir nicht erst erarbeiten oder verdienen musste und die ER nicht als Almosen aus Mitleid oder als Leckerli fürs Gehorchen verteilte, sondern die er einfach so gab: Im Vertrauen; aus Vertrauen. Christus, dem ich nichts präsentieren musste, was ich nicht war. Und der mich gesehen und angesehen hatte, ohne dass ich mich dafür auf irgendeine entwürdigende Weise hatte entblößen müssen. Er sah mich an, bevor ich es selber konnte. Damit ich es konnte.

„Sehen Sie sich in erster Linie Mal als Christ, dann erst als Katholik“, sagte einst ein Beichtvater, als ich im Kontext mit „Liebe“ mal wieder mit dem Lehramt haderte, „denn Liebe kommt immer von Gott. Egal, wo — und bei wem — sie uns trifft.“ Was man dann daraus mache, könne zwar von Gott entfernen — hier verwies er auf die ignatianische Unterscheidung der Geister —, aber die Liebe als solche? Das Empfinden von Zuneigung, Schmetterlinge im Bauch, die Freude am anderen, dem anderen eine Freude sein? Göttlichen Ursprungs, immer.

Und doch bleibt die Liebe wohl ein Geheimnis, dem man sich mit dem menschlichen Verstand nicht nähern kann. Man muss vertrauen: auch hier.
Man muss vertrauen, dass weder Gott noch die Freundin eine Kartei nach Flensburger Vorbild führen; mit der Liebe als „Lappen“. Zuviele Sündenpunkte? Lappen weg, Liebesentzug, wochenlanges Anschweigen und das Bettzeug auf dem Sofa. Und ja, ich hatte solche Beziehungen: War Schrott, um bei den Auto-Metaphern zu bleiben.
Dass Gott keine derartige Kartei in Flensburg führt, durfte ich inzwischen überreichlich erfahren. Mit Vorsatz durchs Leben pflügen wie die berühmte gesengte Sau sollte man natürlich trotzdem nicht.
Und die Freundin? Hat gerade anderes zu tun. Sie entzündet die Osterkerze, die wir in der Kirche geschenkt bekamen. Ich sehe den warmen Widerschein der Flamme in ihren Pupillen und Brillengläsern.
Lumen Christi.
„Unser zweites Ostern“, sagt sie. Ja, sage ich: Zu ihr. Zu Gott. Zu uns.
Deo gratias.

Momentaufnahme, Seltsam

Auf dem Balkon sitzend, warte ich auf den Regen. Es sind luxuriöse Minuten der Stille. Oder, besser gesagt: seltene Augenblicke der Abwesenheit von Menschenlärm. Denn zu hören gibt es dennoch reichlich. 
Ich höre das Rollen der Brandung und den Wind, der durch die üppig ergrünte Hecke auf dem Nachbargrundstück streicht. Holunderholz knarzt leise unter dem Gewicht schwerer Blütendolden; im Entwässerungsgraben quakt eine Ente, ihr Gründeln erzeugt silbriges Plätschern. Von Süden her kommt erstes, leises Donnergrollen.
Über all dem liegt warmer Dunst. Endlich, möchte ich sagen, denn es war ein denkwürdig kaltes Frühjahr. Von „heiß“ sind wir auch jetzt noch Meilen entfernt, aber dieser Tag war, für Langeooger Verhältnisse, schon annähernd tropisch.
Nun bricht die Dunkelheit herein. Eine schwarze Wolkenwand schiebt sich über die letzten Reste des Sonnenuntergangs. Das Donnern wird nun deutlicher und bald fällt der Regen in warmen, lotrechten Schnüren vom Himmel. Im Lampenlicht, das aus meiner Wohnung in die Inselnacht strahlt, sehe ich die Tropfen funkeln. Wind weht kaum, sodass ich das Naturschauspiel unter dem Balkondach genießen kann, ohne selbst nass zu werden.
Ein letzter Radfahrer rast die Straße entlang; alle anderen Menschen sind wohl in ihre Häuser oder Ferienunterkünfte geflüchtet. Von meinen Balkonpflanzen perlen dicke, silbrige Tropfen lebensspendenden Wassers und ich rieche den moosigen Duft feuchter Erde.

Ich freue mich nicht über die Kälte der vergangenen Wochen, aber mich erleichtert, dass die Sonne dadurch auch weniger verheerende Kraft entfalten konnte. Und ich bin glücklich, weil es nun wieder mehr regnet. Nur ungern erinnere ich die braunen, vertrockneten Deiche des Vorjahres, die sich bis zum Herbst kaum erholten. Auch die Straßenrandbegrünung wich einer sandigen Wüste, in der sogar die robusten Kartoffelrosen schlappmachten. Dieses Jahr aber ist das Gras fast überall noch grün; die Rosen stehen in voller Kraft und überziehen die Dünentäler mit einem pinkfarbenen, duftenden Blütenteppich. Es ist ein seltsamer Sommer: Nicht nur wegen des Virus.

Ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Ich weiß, wer es ist, aber trotzdem verlasse ich meinen wildromantischen Logenplatz im Regen, um ihr entgegenzugehen. Die Freundin steht in meinem Flur und strahlt mich an; mit diesem Lächeln, als sei ich ein Scheck über eine Million Euro und nicht ein eigenbrötlerischer, menschenscheuer Mittvierziger mit fliehendem Haaransatz und Schlafhosen. Wassertropfen perlen von dem gelben Ostfriesennerz, der an ihr ganz entzückend aussieht, und von ihrer Haut, über deren Beschaffenheit ich nichts dichten könnte, was unterhalb der Kitschgrenze bliebe. Eine nasse Haarsträhne klebt an ihrer Wange. Sie streicht sie fort und folgt mir auf den Balkon, um sich in schönstem Schweigen mit mir den Regen anzusehen.
Es ist ein ganz eigener Frieden mit ihr, aber auch das ist noch immer seltsam. So viele Jahre gab es in meinem Liebesleben nichts, das nicht mit mannigfaltigen Nuancen von „Es-ist-kompliziert“ durchsetzt gewesen wäre; von Unmöglichkeiten, Mauern und Schmerz; von gesellschaftlicher oder kirchlicher Ächtung.
Die einzige Liebe, die mir in den letzten Jahren beständig Quelle von Trost, Kraft, Hoffnung und Zuversicht gewesen war, war die Liebe zu Gott. Und eigentlich hatte mir diese Liebe auch gereicht. Ich hatte nicht mehr daran geglaubt, dass mir Derartiges auch noch einmal von einem Menschen geschenkt werden würde. Doch nun ist sie da, die Liebe. Im Himmel wie auf Erden.

„Nicht müde werden, / sondern dem Wunder / leise wie einem Vogel / die Hand hinhalten“ dichtete Hilde Domin 1992 — Und ich hoffe, dass ich es schaffen werde, mich dem neuen Wunder in meinem Leben mit der hier so filigran beschriebenen Zutraulichkeit und Neugier zu nähern.

Der Regen lässt nach. In der Wohnung über uns brüllt ein Baby; auch das Austernfischerpaar, das auf einem der Flachdächer nebenan brütet, macht sich mit Rufen bemerkbar. Das Leben um uns herum erwacht noch einmal, bevor es sich endgültig zur Nachtruhe bettet.

Auch wir ziehen uns zurück und ich wundere mich einmal mehr darüber, wie schnell man sich wieder an einen Menschen an seiner Seite gewöhnen kann. Dieser Tage ertappte ich mich sogar dabei, wie ich gedankenversunken zwei Teetassen füllte, obwohl meine Freundin erst Stunden später zu Besuch kommen wollte. Wenn ich nachts ihre Hand berühre und sie dann im Halbschlaf ihre Finger um meine schließt, berührt mich diese Geste des Vertrauens und der Hingabe auf eine Weise, für die ich mir erst wieder Vokabular zurechtlegen muss.
 „Sie haben jetzt auch für diesen Menschen Verantwortung“, wetterte jüngst der Beichtvater, als ich von meinen Unsicherheiten und Ängsten erzählte, und natürlich weiß ich, dass er Recht hat. Es sind jetzt nicht mehr nur meine Unsicherheiten und Ängste. Es sind auch ihre.

Und so wird die Liebe wohl immer eine Herausforderung sein: die zu den Menschen, aber auch die Liebe zu Gott. Zugleich ist beides ein großes Geschenk, das es verdient, mit der gebührenden Achtung angenommen zu werden.
Ich will es versuchen.

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Momentaufnahme, Start

Von der Wohnung, die nicht meine ist, schaue ich über nebelumhüllte Straßen. In der Nacht muss es geregnet haben; das rote Dach glänzt vor Nässe, die Pollen und Staub des vergangenen Frühlingstages sind weggespült. Es ist noch früh; die Morgensonne hat sich als milchiger Ball gerade erst über den Horizont erhoben.
Die Austernfischer lassen seit Stunden ihr Trillern ertönen, auch der Fasan meckerte zeitig in den Dünen. Nun stimmen auch die Stare ein, die Lerchen, Amseln und Rotkehlchen. Ein neuer Tag in dieser unwirklichen Zeit.

Die Freundin verabschiedet sich zur Arbeit. Ich trinke ihren Kaffee am Fenster und sehe zu, wie der Nebel die Insel Stück für Stück verschluckt. Aber es wird nicht lange dauern, dann wird er all die Schönheit des Weltnaturerbes wieder den Blicken preisgeben; unter einem wolkenlosen Himmel in all ihrer Frühlingspracht.
Die Natur lässt sich von keiner Corona-Krise aufhalten. Und die Liebe wohl auch nicht.

Sehr viel ist ein wenig unwirklich in diesen Tagen. T-Shirtwetter, und dennoch ein menschenleerer Strand. Ein leergefegtes Inseldorf mit verschlossenen Läden. Eine leere Kirche, kurz vor den Ostertagen; eine einzelne Kerzenflamme flackert unter der Gottesmutter durch den Luftzug der offenstehenden Tür. Porta patet, cor magis.
Ich stelle eine weitere dazu und weiß nicht, was ich Gott erzählen soll. Aber ich bin da. Und ER ist es auch.

Sehr viel ist neu in diesen Tagen, und man wagt sich auf fast vergessenes Terrain, unsicher wie als Kind mit Schlittschuhen auf dem Eis. 
„Und was ist, wenn es nicht funktioniert?“ „Wenn man es nicht versucht, kann man es nicht wissen.“ So ist das wohl.
Irgendwann stolperte ich beim Schlittschuhlaufen über einen halb aus dem Eis ragenden Ast; ich schlug der Länge nach hin und hatte ein blaues Auge. Auf dem Kemnader Stausee war das, und dennoch hörte ich nicht auf, das Schlittschuhlaufen zu mögen. Und auch der See ist mir ein alter Freund. 
Die Freundin kennt den See; wir teilen eine Heimatregion. Und so verbindet uns auch eine Mentalität und vieles, das keine Worte braucht.

Der erste wirklich warme Tag liegt hinter uns. Die ersten LangeoogerInnen tummelten sich in Badekleidung am Strand, einige wagten sich sogar in die noch kalte Nordsee. Die Gemeinde hat einige Strandkörbe zur freien Verfügung aufgestellt; vor allem zum Sonnenuntergang sitzen dankbare Inselbewohner darin, um einen weiteren Tag im Corona-Wahnsinn zu verabschieden. Einen weiteren Tag, an dem nichts mehr normal scheint. Aber was ist schon normal? — Eine uralte Frage, deren Antwort mich aber tatsächlich noch nie interessiert hat.

„Bist du jetzt heterosexuell?“ Nein. Denn Schubladen interessieren mich auch nicht, und dieser Mensch, der noch so neu in meinem Leben ist, mich aber aus irgendwelchen Gründen tatsächlich zu lieben scheint, sieht das genauso.

Ich kann nicht behaupten, dass mir das nicht gefällt, oder dass es nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber manchmal sind einem auch schöne Dinge erst einmal noch fremd und man beobachtet sie mitunter staunend, als wäre man selbst nicht beteiligt.

Auch die ganz ungewohnte Dimension der Unkompliziertheit lässt mich noch etwas ungläubig an die Sache herantreten. Plötzlich riskiert man keine angewiderten Blicke mehr. Man muss sich nicht mehr vorsichtig umschauen, bevor man es wagt, den anderen zu berühren. Es gibt plötzlich keinen Grund mehr, sich zu verstecken. Und auch keine moralischen Hindernisse: Kein Ehering, kein Priesterkragen.
Freilich, da gibt es den Inselklatsch. „Ich wünschte, ich könnte dich vor den dämlichen Sprüchen der nächsten Zeit beschützen“, sage ich. Aber da müssen wir jetzt beide allein durch, denn selbst wenn man sich an einer künftigen Gemeinsamkeit versucht, ist das Ja zum anderen doch jeweils eine einsame Entscheidung, mit all ihren Konsequenzen.

Es ist sehr still am Strand. Zwar sind fast alle Strandkörbe besetzt, aber aufgrund der Hygienebestimmungen sind die meisten Menschen nur allein oder zu zweit unterwegs; es gibt keine lärmenden Gruppen, wie sie sonst um diese Zeit schon die Insel bevölkern würden. Alle unterhalten sich leise oder lauschen reglos, die Gesichter von der tiefstehenden Sonne vergoldet. In die Rufe der Seevögel und das leise Rauschen des Windes im Dünengras mischt sich das gleichmäßige, einschläfernde Atmen der See. Es ist ungewohnt, nun wieder einen anderen Menschen neben mir atmen zu hören, nach all den Jahren der Angst: Der Angst vor Nähe, der Angst vor dem Entdecktwerden, der Angst vor Höllenstrafen. Der Angst vor den eigenen Gefühlen. Der Angst vor der Verantwortung für das Glück und Leid eines anderen, der einem vertraut und sich so gewissermaßen ausliefert, so wie man sich immer in Liebe ausliefert. 
„I don’t know where we’re going, but God, it’s a start“ heißt es in einem Lied von Tom Rosenthal, und das trifft den status quo wohl ziemlich genau. Aber es ist schön, in diesen Tagen der Distanz eine Entscheidung für Nähe getroffen zu haben. Und in dieser Zeit, wo alles Gewohnte auseinanderzubrechen scheint, plötzlich jemanden zu haben, der in unerschütterlichem Heldinnenmut irgendetwas mit „für immer“ plant.

Momentaufnahme, Krone

Der Wetterbericht verspricht einen heißen Tag. Nach einer langen Periode des Regens sind die Menschen ausgehungert nach Sonne, und so birst die Insel bereits ab Mittag unter Myriaden an Tagesgästen, zusätzlich zu all jenen Menschen, die einen längeren Urlaub auf Langeoog verbringen. 
Wiewohl sich das Laub der Bäume bereits herbstlich zu färben beginnt und kaum noch eine Heckenrosenblüte zwischen all den leuchtend roten Hagebutten dem Lauf der Dinge trotzt, so ist es doch spürbar Hochsaison auf der Insel.

An solchen Tagen findet man nur am frühen Morgen Frieden. Nicht so früh, dass einem die letzten bezechten Teenager am Strand entgegentorkeln, aber früh genug, dass sich der Schwall lärmender Schulklassen erst später die Dünenübergänge hinab und auf den Strand ergießt. In diesem kurzen Zeitfenster ist man allein mit der Schöpfung: Mit dem Rauschen der Brandung, dem Gluckern des Wassers in den Prielen, dem Gezänk der Möwen, dem sehnsüchtigen „Tüü-lüü“ der Rotschenkel. 
Irgendwo schlägt ein Hund an; dazu beruhigendes Gemurmel des Besitzers.
Ich lasse den Blick über die Weite schweifen, Baltrum im Morgendunst. Davor ein Frachter.
Es ist ein Königreich. 
Wir sind gekrönt von Gott, hieß es letztens in einer Andacht. Mit unserer Taufe erhielten wir diese Krone, wir mussten sie nicht erarbeiten, nicht erben, nicht mit Kriegen erstreiten, nicht durch Intrigen an uns reißen. Wir waren ihrer würdig, einfach so. Gott traut uns dieses Amt zu, jedem von uns, von Anfang an. 
Das ist ein schönes Bild, denke ich. Aber es bringt auch viel Verantwortung mit sich. Und es birgt Gefahren.

Über diesen Satz nachdenkend, wandere ich den noch menschenleeren Strand entlang. Schlick quillt zwischen meinen nackten Zehen hervor, danach folgt wieder trockener Sand. Ich passiere eine hübsche gestreifte Feder, ein Stück Müll, ein Büschel Algen. Ein Fender, den ein Schiff verloren hat, treibt heimatlos und grau im Priel.
Da, der Müll, denke ich. Passiert nicht genau das, wenn man suggeriert bekommt, man sei die Krone der Schöpfung? Neigt man dadurch nicht zu eben dieser „Nach-uns-die-Sintflut“-Haltung, zu Hochmut und Verschwendungsucht, schmeißt man nicht genau deswegen seinen Abfall in die Botanik, weil man meint, dass das eigene Leben dem von Krebsen, Algen, Möwen überlegen wäre, dass einem der Rest der Schöpfung untertan sei und man folglich darin wüten könne, wie man wolle?
 Aber das ist nicht königlich, denke ich weiter, zumindest nicht in meinem Verständnis von Königlichkeit.
Wir mögen diese Krone tragen, aber wir sollten sie mit Würde tragen, um nicht zu sagen: Mit Demut. Gerade, weil sie uns in solch bedingungslosem Vertrauen geschenkt wurde, und die ganze wunderbare Erde dazu, auf der wir leben und die uns nährt.

Ich bin froh, dass mir dieser Satz erst heute zur Reflektion gegeben wurde, wo ich ihn mit einer gewissen Reife (und einem Maß an Erfahrung im Scheitern) betrachten kann, und nicht etwa in Jahren juveniler Überheblichkeit. Hätte mich früher an der Königlichkeit nicht zuvörderst der Palast geblendet, der Schmuck, die prachtvollen Gewänder? 
Dabei liegt der eigentliche Schatz doch in dem, was man zunächst als Nachteil an einem hohen Amt begreifen könnte: In der Verantwortung, in der Fürsorgepflicht. Es ist keine Bürde, sich mit liebevoller Hingabe um das zu kümmern, was einem von Gott anvertraut wurde — Es ist ein Geschenk.

Erneut schweift mein Blick in die Weite, und ich weiß, dass ich diese Welt liebe, endlich zu lieben gelernt habe, nachdem mir das Leben so lange eine Last war — und ich so weit entfernt von allem: Von der Schöpfung, von mir selbst. 
Ich denke an die Zeit von Taufe und Konfirmation zurück und dass ich damals nicht in der Lage war, die mir angebotene Krone zu erkennen, anzunehmen und zu tragen. Ich hätte mich ihrer auch nicht für würdig befunden. 
Unter dem Flügelschlag eines sich in die Lüfte erhebenden Seevogels sprüht das Wasser wie fallende Juwelen. Das Licht der Morgensonne lässt die zitternde Wasseroberfläche des Priels aufgleißen.

Rührung überkommt mich: Gott, so weiß ich, hat meine Krone all die Jahre für mich aufgehoben. Bis ich ihren Wert erkannt habe und meinen eigenen dazu. 
Aber das tat ich nicht allein. Denn er schickte mir diesen Menschen, der sie mir wiederbeschaffte. Der seine schönen Gewänder raffte und durch den Schlick watete, um sie zu bringen; ohne Furcht, sich auf dem Weg zu mir dreckig zu machen. Der mir die Königlichkeit vorlebte, so, wie ich glaube, dass sie sich unser Schöpfer für uns Menschen gedacht hat: Mit Würde statt Hochmut. Mit der Absicht, Menschen im Glauben zu einen statt zu trennen. Und der mir zeigte, wie Kirche gemeint ist. 
Zitternd streckte ich meine Hände aus: ich würde wieder in die Kirche eintreten und die Krone tragen, und dabei nach bestem Bemühen aufrecht sein in Haltung, Worten und Taten: Denn wie sonst wollte ich verhindern, dass sie erneut herunterfiele?

Um mich herum erstrahlt nun der Morgen am Meer in voller Schönheit. 
Es ist unmöglich, vier Jahre hier zu leben und nicht wieder an Gott zu glauben, denke ich, tagtäglich umgeben von so viel Pracht, wie sie kein Mensch erschaffen könnte. 
Ich weiß nicht, ob ich der Sache dieses Mal gerecht werde, aber ich bin willens, es zu versuchen. Denn dieses Mal, denke ich, weiß ich zumindest eines sicher: Dass ich die uns Menschen als „Untertan“ anvertraute Schöpfung von Herzen liebe. Und dass es keine Schande für einen König ist, zu dienen.

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Momentaufnahme, Sommerwolken

Es gibt Tage, an denen mag ich sogar die kleinen Kreuzspinnen, welche an meinem Fahrradlenker ihre Netze bauen; die weniger intelligenten bauen die Netze in den Speichen. Noch winzige Vorboten des Herbstes, so wie die in den Gärten reifenden Äpfel und die leuchtend roten Hagebutten, welche nach und nach die Blüten der Heckenrosen ersetzen. Morgens ist Tumult in meinen Staudentöpfen: Spatzen forsten, randalierend in den Blättern, nach ungeernteten Johannisbeeren.
Auch die ersten Starenschwärme sind da; sie ballen sich in der Luft oder zeigen ihr irisierendes Gefieder auf vom Sommerregen satten Feldern.

Am Strand liegt eine alte Holzpalette; ein ärmliches Podest, auf das ich meine Sachen breite, aber heute, mit einer sanft brandenden See vor mir und nichts als dem Himmel über mir, ist es ein Thron.
Müde von einer mehrstündigen Wanderung strecke ich mich aus auf dem sonnenwarmen Holz und blicke in das Blau, auf dem Wolken treiben. Zarte Schleier nur, ab und zu ein kleines Flöckchen dazwischen; sie lösen sich auf, formieren sich neu, treiben weiter, verschwinden, entstehen. Ich frage mich, wie lange man das ansehen kann, ohne dabei in Trance zu fallen, und es beruhigt mich ebenso wie der regelmäßige Herzschlag des Meeres.

Es sind Momente berauschender Vollkommenheit. Ich erzähle dem Lieblingsmenschen davon, den Satz umschiffend: Ich wünschte, Du wärst hier. Glück wird größer, wenn man es teilt, genau wie Liebe. Das ist keine besonders schlaue Weisheit, aber so ist es. 
Und ich weiß, dass er denselben Himmel sieht, dort, wo er wohnt, wenn auch mit anderen Wolken. Wir teilen ja immerhin einen Planeten.
Nein, korrigiere ich mich. Wir teilen mehr. Er fühlt das auch.
Dann ist sie da, diese diffuse Sehnsucht, und ich weiß nicht, ob es Liebe ist, und wenn ja: welche Art davon. Man sollte ja meinen, in meinem Alter wüsste man irgendwann Bescheid darüber, aber das stimmt nicht, es ist immer wieder neu, es gibt keinen Konstruktionsplan dafür. Aber ich weiß, dass er mich glücklich macht, oder beginnen wir bescheidener: zufrieden. In mir ruhend. Er gibt und ich darf geben. Es liegt kein Nehmen darin, keine Gier. Und ich bete, dass uns das erhalten bleibt, dass die Trivia der Liebe einmal nicht Einzug halten mögen, dass wir verschont bleiben von Misstrauen, Eifersucht, ja sogar von jeder Form übermäßigen physischen Begehrens, denn so, wie es jetzt ist, liegt etwas Heiliges darin; eine mir bislang unbekannte Form von Reinheit.

Natürlich streift mich gelegentlich der Gedanke, wie er wäre, der Stillstand der Welt in seinen Armen. Wie es wäre, sein schönes Gesicht nicht nur mit Blicken zu berühren. Ich denke an sein jungenhaftes Lächeln, in dem so etwas Bescheidenes, nahezu Beschämtes liegt, das jeden Verdacht der Überheblichkeit von ihm nimmt. Seine Augen sind dunkel, klar und tief wie ein Waldsee, fern jeder Bedrohlichkeit. Kein morastiger Grund, kein undurchsichtiges Wurzelwerk, in dem man sich verfinge; nichts, das einen herabzöge in die Finsternis. Ich mag seinen Intellekt, seine Geduld und seine Güte. Seinen Humor und seine Ehrlichkeit. Ich denke an den Segen dieser sehr langsam, aber kontinuierlich gewachsenen Verbundenheit und dass es vielleicht gerade die Notwendigkeit eines gewissen Maßes an Distanz, an Mäßigung ist, die für uns Zukunft schafft. Alles andere liegt in Gottes Hand.
Ich setze den Weg fort, es wird kühl. Und doch schweige ich darüber, dass mich auf meiner Insel manchmal friert. Da, wo er wohnt, schlägt Regen an die Scheiben. Ich sehe ihn hinter alten Mauern. Mich umschließt das Meer.

Schwalben begleiten meinen Weg auf dem Rad nach Hause. Auch sie sind unaufdringliche Begleiter, schön und frei. Kamille blüht in Ackerfurchen, das Heu ist gemacht. Am Horizont, vor der Silhouette der Windräder auf dem Festland, gleitet ein hellbeleuchtetes Schiff. Es bleibt noch lange hell in diesen Tagen.
Der Sommer ist nicht vorbei.

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Momentaufnahme, Hier und Jetzt

Es ist die Nacht vor Heiligabend. Erste Orkanböen rütteln am Haus. Ich spähe unter den Decken hervor zur Uhr: Nicht einmal Fünf. Dennoch liege ich wach, eingehüllt in dunkle, warme Geborgenheit, dem soeben vergangenen Traume nachsinnend: Ein wenig irritiert, begleitet von einer diffusen Sehnsucht und einem seltsamen Gefühl grundlosen Glücks. Erneut habe ich von dem Mann geträumt — Und wieder war es ein schöner Traum. Welch Wunder, denke ich, über mich selbst spöttelnd: Natürlich träume ich von diesem Mann noch schön. Er ist noch neu; er hat mich ja auch noch nie verletzt.
Dennoch ist für jemanden, der mit unschöner Regelmäßigkeit von Albträumen und Pavor nocturnus heimgesucht wird, jeder friedliche Schlaf ein kleines Wunder, und also gebe ich mich wohlig der Erinnerung hin.
Der Mann erscheint nie klar konturiert im Traum; in seiner Schemenhaftigkeit zwar ein wenig geisterhaft, aber doch ein Geist, den niemand zu fürchten braucht. Denn seine Haut ist warm und glatt, und ich höre das Schlagen seines Herzens, das menschlicher nicht sein könnte. Auch spricht er wenig, aber wenn, dann mit ruhiger, angenehmer Stimme. Ich fühle mich wohl in seiner Nähe.

Auch im Traum ist es eine Winternacht. Vor dem Fenster bewegen sich Zweige, versilbert vom kühlen Licht eines großen, klaren Mondes. Der Mann ist bei mir, aber er schläft nicht. Genau wie ich liegt er mit offenen Augen wach und lauscht dem Sturm, der an den Fenstern zerrt. Leise summt er ein paar Töne eines Lieds, das ich sofort erkenne: Es ist eines meiner Lieblingslieder. Ich wusste bisher nicht, ob er singen kann, aber es klingt klar und schön, und ich freue mich darüber, weil ich mir einbilde, dass er es für mich summt. Schließlich weiß er, dass auch ich nicht schlafen kann, sondern um diese Uhrzeit immer wachliege, wie fast alle von episodischer Schwermut Geplagten, und so eint uns auch dieses Schicksal: Die Wanduhr zeigt kurz vor Fünf.
Ich küsse ihn in rührseliger Dankbarkeit auf die im Mondlicht fast porzellanartig makellos anmutende, nackte Schulter. „Schön, dass du da bist“, flüstere ich. Der Mann sieht mich an. „Du weißt doch gar nicht, wo ich gerade bin.“
Jetzt bin ich hellwach. Ich richte mich auf, weil mir der Satz kryptisch vorkommt, und auch ein bisschen unheimlich. „Wie meinst du das?“
Aber der Mann lächelt nur und sieht hoch zum Mond, der ihm aus irgendeinem Grund gerade näher zu sein scheint als ich. Das blaue Licht färbt seine Augen und die warmen, honiggoldenen Strähnen in seinen Haaren silbern. Mir fallen Liedzeilen von Franz Ferdinand ein, meiner Lieblingsband als Twentysomething. Gott, ist das lange her. Aber den Text weiß ich bis heute:

Blue light falls upon your perfect skin / falls, and you draw back again / falls, and this is how I fell.

Come on home. 

Er hat Recht, denke ich, resignierend in seinen Arm zurücksinkend. Er ist nicht hier. Er ist irgendwo anders, und womöglich hat er das Lied gar nicht für mich gesummt, wahrscheinlich weiß er gar nicht, dass ich es liebe. Das ist wohl immer die Gefahr, wenn wir uns verlieben, aber den anderen eigentlich noch gar nicht kennen: Wir füllen die Wissenslücken mit Wunschdenken. Wir projezieren unsere Träume auf den anderen. Weil wir möchten, dass er fühlt, was wir fühlen, sieht, was wir sehen. Im Idealfall ist das auch so. Aber die Realität heißt: Wir wissen es nicht.

Nein, resümiere ich also, ich weiß nicht, wo du gerade bist. Aber ich wäre gerne bei dir. Und wenn du es dort nicht aushältst, nehme ich dich mit zu mir ans Meer, oder wir suchen einen Platz, den wir beide ertragen. Aber dafür muss ich wissen, wo ich dich finde. Auch wenn du jetzt neben mir liegst und ich dir physisch näher kaum sein könnte.
Ich sehe zu ihm hoch. Sein Gesicht ist jetzt deutlich als seines erkennbar; er hat charaktervolle, dennoch sanfte Züge, die etwas Verträumtes, zuweilen Verspieltes, umgibt. Ich mag das.
Dennoch bleiben seine Konturen unscharf, was vermutlich nichts damit zu tun hat, dass ich nachts keine Kontaktlinsen trage — zumindest erinnere ich nicht, dass meine Kurzsichtigkeit jemals im Traume ein Thema gewesen wäre. Vielmehr ist es wohl so: Ich mag diesen Menschen. Genug, um von ihm zu träumen. Aber ich kenne ihn nicht genug, um ihn wirklich klar vor mir sehen zu können, was schade ist.
Und so liegt wohl eine gewisse Gefahr darin, wenn man sich nur ein- oder zweimal sieht, die gegenseitige Anziehung begreift, aber den Rest dann nur noch schriftlich oder fernmündlich erledigt. Denn oft kommt es dann so, dass die reale Person irgendwann nur noch eine Art Kerntheorie ist, ein Stichwort, und alles Weitere ein Produkt unserer Phantasie und unseres Wunschdenkens, mitunter sogar eines unseres Narzissmus: Nämlich in jenen Parts, in denen wir wünschen, dass der Significant Other uns möglichst gleicht — Wen der Bauer nicht kennt, liebt er nicht.

Ich will dich aber kennen, rufe ich innerlich in verzweifeltem Trotz, weil ich dich lieben will! Für eine Sekunde fürchte ich, es laut ausgesprochen zu haben, aber der Mann liegt immer noch still und sieht sich den Mond an.
Ich möchte dich sehen, im Hier und Jetzt. Ich möchte bei dir bleiben, bis der Tag deiner im Mondlicht so blassen Gestalt wieder Farbe verleiht, bis dein Gesicht klare Konturen bekommt, bis die aufgehende Sonne das Blau in deine Augen zurückbringt und den Honigton in deine Haare. Und ich möchte, dass auch du mich siehst.
So, wie ich bin. Und trotzdem nicht wegläufst. Und trotzdem all das hier nicht für ein Versehen hältst, mich nicht für einen Lügner und unsere Liebe nicht für ein kleines, schmutziges Geheimnis.
Sieh mich an.
Ich wünschte, ich könnte ihm das sagen. Aber ich schweige.
„Schlaf“, sagt der Mann, und er küsst mich beiläufig, mit abwesendem Blick, so wie jemand, der sich am Bahnhof verabschiedet und mit halbem Herzen dabei schon im zur Abfahrt bereitstehenden Zug sitzt.

Ich muss mich nicht in „Freud“ umbenennen, um zu ahnen, was diese Traumsequenz bedeutet: Es gibt kein Vertrauen ins Jetzt. Vielmehr wähne ich mich das ganze Leben lang zwischen zwei Zügen — entweder noch wartend oder bereits verlassen. Und auch wenn ich nicht immer allein am Gleis stehe, so sind Bahnsteige doch per se ungemütliche Orte: Immer getränkt mit Sehnsucht und Abschied.
Der Traum ist vorbei. Ich stehe auf und mache koffeinfreien Kaffee, in der absurd lächerlichen Hoffnung, danach vielleicht doch noch schlafen zu können, die morgendliche Schwermut begrüßend wie ein altes, gebrechliches Haustier.
Ich denke an das Lied aus dem Traum und spiele es mir vor, aber ich mag es nicht mitsummen, weil meine Stimme nicht mehr schön ist, weil sie verlorenging, irgendwo zwischen Bahnsteig A und B.
Das Reisen ist teuer. Aber nichts ist so wertvoll wie die Ankunft und das Bleiben.

Ich sehe wieder zum Bett, das jetzt leer ist. Gerne hätte ich dem Mann aus meinem Traum noch etwas gesagt.
Nein, denke ich, ich weiß nicht, wo du gerade bist. Und es geht mich auch überhaupt nichts an. Vermutlich sollte ich mich einfach von dem Gedanken befreien, jemanden immer zur Gänze begreifen zu wollen. Denn ist es nicht gerade das Geheimnisvolle, sind es nicht gerade all die kleinen Abwesenheiten in der Anwesenheit, die jemanden begehrenswert machen? Habe ich nicht selbst genug verschwiegen?

Ich denke an die kleine, bunte Inselbahn, und dass der Mann den Kopf einziehen muss, wenn er da ein- und aussteigt, weil er so groß ist. Die Bahn sieht dann noch mehr aus wie ein Spielzeug.
Die Erinnerung an dieses Bild touchiert mein Herz. Es ist nicht wirklich schmerzhaft, aber es reicht, um ein leichtes Ziepen zu verursachen; einhergehend mit dem Wissen, dass Bahnhöfe ja nicht immer nur für Durchreisen und Abschiede stehen. Es gibt auch Wiedersehen. Es gibt Ankünfte. Eine sirupsüße Spur von Hoffnung zieht sich durch das Gemüt.
Vielleicht kommt er ja wieder, denke ich. Vielleicht sind wir dann wirklich zusammen schlaflos. Vielleicht wissen wir dann, wo wir sind.
Und vielleicht kann auch einer von uns bleiben.

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