Momentaufnahme, Empfang

Ein einsamer Krähenlaut dringt durch die hereinbrechende Nacht. Ich sehe den Vogel, als ich den Kopf zum Himmel hebe. Er fliegt in Richtung Waldrand, wo sich die Wipfel der Fichten schwarz im Dämmerlicht abzeichnen.
Vom Rande des Klostergartens her rauscht der Bach. Grillen zirpen.
Im Haus ist Ruhe eingekehrt; die letzte Messe ist verklungen und die Menschen bereiten sich auf den Schlaf vor. Ich aber möchte mich noch vom heiligen Bernhard verabschieden und suche ein letztes Mal die Kirche auf. Heute leuchten nicht einmal mehr Kerzen, als ich das dunkle Gotteshaus durch die Krypta betrete. Aber ich finde den Weg zum Bernardi-Altar auch so — dem weißen Gewand der Heiligenfigur sei Dank.
Der heilige Bernhard auf dem Altarrelief ist nicht besonders detailreich gearbeitet; mit seinen runden, rosig gepinselten Pausbäckchen und den kleinen, zum Gebet erhobenen Händchen hat die Darstellung etwas Puppenhaftes, wenn nicht gar Niedliches an sich. Man hat den Heiligen auf diesem Relief wohl instinktiv lieb — obwohl mir durchaus bewusst ist, dass ich dort auch einen der glühendsten Verfechter der Kreuzzüge vor mir habe. Kein Licht ohne Schatten; das gilt auch für Heilige. Und natürlich lebte er zu einer Zeit mit einem „leicht“ anderen Verständnis von Völkerrecht als wir es heutzutage pflegen. Im Hier und Jetzt verhilft mir die Fürsprache des Heiligen Bernhard aber zu neuem innerem Frieden.
Denn der Geruch nach uralten Steinen und Kerzen sowie das liebe, rundliche Antlitz der Heiligenfigur beruhigen mich mit wunderbarer Zuverlässigkeit. Hier gebe ich den Tag mit all seinen Erlebnissen und Emotionen zurück in Gottes Hand.

Bereits am Morgen war es noch einmal sehr heiß geworden. Über der Landschaft lag die süßliche Schwere eines intensiven Geruchs nach Fallobst, durchmischt von frischem Grasschnitt. Über Vielerlei nachdenkend, wanderte ich Richtung Wald. Mit jedem Meter wich der penetrante Obstgeruch den Aromen von Harz und Nadelholz, von kühlem Erdreich und dem klaren Wasser der Kyll, die beharrlich wie eine treue Freundin längs des Wanderweges rauschte.
Irgendwann hatte ich einen ordentlichen Anstieg bewältigt; das Tal breitete sich unter mir mit abgeernteten Feldern, gemähten Wiesen und immer wieder kleinen versprengten Inseln von Obstbäumen, deren Äste sich unter den schweren Früchten bogen. Ab und zu ein Haus; am Feldrand ein Ansitz. Dazwischen die Gleise des Eifelexpress.

Ich zückte mein Mobiltelefon, um ein Foto zu machen und erschrak über den Eingang von 47 Nachrichten. Im Ort, zu dem das Kloster gehört, ist keinerlei Empfang; maximal für eine altmodische SMS reicht es. Was einerseits gut ist; denn schließlich sollen dort ja alle Antennen auf GOTT gerichtet sein. Andererseits ist es für jemanden, der sich doch einer gewissen Internetsucht schämen muss, eine große Umstellung. Dort auf der Anhöhe schien es jedenfalls etwas Netz zu geben und natürlich trieb mich die Neugier zur Sichtung der Nachrichten und zum Versand eigener Depeschen. Letztlich waren von 47 Mails aber 46 problemlos delegierbar, und ich dachte über meine bisherige Priorisierung von Angelegenheiten nach. Und auch darüber, welchen Sinn eine ständige Erreichbarkeit denn wirklich hatte. Ich verzichtete darauf, auch noch nachzuschauen, was derweil in der Welt passiert war, steckte das Gerät in die Tasche und ging weiter. Als ich das nächste Waldstück erreichte, brach der Empfang ohnehin wieder zusammen. Inzwischen hatte sich die Sonne durch Wolken und Wipfel gezwängt, es wurde zunehmend wärmer und stickiger. Die Fichten erreichten in diesem Areal eine nahezu furchteinflößende Höhe; ebenso wie die Steilheit der Abgründe. Ich wusste: Wenn ich dort stürzte, wäre ich tot. Und wenn einer dieser Baumriesen auf mich stürzte, auch. Menschen begegnete ich auf der 5 Kilometer langen Strecke keinen — mit Ausnahme zweier Forstarbeiter. Ihre Anwesenheit beruhigte mich, denn sie sorgten mit dem gezielten Holzschlag vermutlich nicht nur für die Wirtschaft in der Region, sondern auch für die Sicherheit wandernder, waldfremder Touristen. Nach dem Passieren der Waldbaustelle wurde es vollkommen einsam um mich. Vor mir der Weg. Rechts Wald und Steilhang, Links Wald und Steilhang. Die Kyll und die Gleise lagen irgendwo ganz weit unten; zur halben Stunde hörte ich den Zug rattern.
Ab und zu wühlte ein Tier im Unterholz; es trippelte, knackte und schnaufte. Bäume in Schräglage ächtzen und stöhnten. Ich sah auf mein Telefon: Keinerlei Netz.
Obwohl der Waldweg eine Art Sonnentunnel bildete, war die gewaltige Ansammlung von Bäumen um mich schon nach wenigen Metern erschreckend finster. Ich war froh, jetzt nicht nach den Stichworten „Wölfe“ und „Waldeifel“ googlen zu können. Was hätte es auch genützt?
Ich sang ein Marienlied; zumindest die zwei Sätze, die ich daraus auswendig konnte, um die merkwürdigen Tierlaute zu übertönen. Der ganze Wald schien mir plötzlich wie ein einziges, riesiges Lebewesen; ein autarker und atmender Organismus, in dessen gewaltigem, schwarzgrünen Bauch ich lediglich geduldet wurde. Er lehrte mich neuen Respekt.
Angekommen an meinem Ziel — einem benachbartem Örtchen, lief ich zum Bahnhof und nahm den nächsten Eifelexpress zurück. In der Bahn saßen Menschen, die sich in einer für mich fremden Sprache unterhielten. Sie klang wie eine Mischung aus Französisch und Niederländisch; ich vermutete Luxemburgisch. Es war seltsam, aus dem Bauch des Waldes in diese nahezu städtische Erfahrung internationalen Flairs katapultiert zu werden. Aber irgendwo genoss ich es auch.

Momentaufnahme, Anreise

Der Eifelexpress ist ungefähr so „express“ wie der rasende Roland auf Rügen rast, also: Gar nicht. Mit enervierender Langsamkeit schiebt sich der Zug seit meinem Zustieg in Euskirchen durch trostlose Industriegebiete und irgendwas mit Landschaft. Ich bin zu diesem Zeitpunkt schon 5 Stunden unterwegs und habe das gesamte Repertoire an Bahnversagen durch, zu dem dieser Konzern fähig ist — zu meiner Laune schweige ich dementsprechend lieber. Das Dauergeschnatter Mitreisender und die Beschallung mit diversen Serien, YouTube-Videos und Telefonaten, die sich weitere Passagiere via Smartphone (und ohne Kopfhörer) zu Gemüte führen, zerrt zusätzlich an den Nerven. Ich versuche, die Reizüberflutung mit stillen Entspannungsübungen zu bekämpfen, und tatsächlich lassen mich diese Übungen, in Tateinheit mit rein physischer Übermüdung, sogar irgendwann einschlafen.

Als ich aufwache, hat sich die Gegend verändert. Mitreisende sind kaum noch da, und vor dem Fenster türmen sich dicht und dunkel bewaldete Berge. Ich schrecke hoch; in heller Panik, mein Ziel verpasst zu haben. Aber ich habe Glück: Laut Uhr und DB-App sind es noch 20 Minuten bis St.Thomas. An den Bahnhöfen, deren Namen teils länger sind als die Orte, wird längst nur noch bei Bedarf gehalten. Vor meiner Wunschdestination kommt irgendetwas mit Doppelnamen; danach kommt der Zug quietschend am Zielort zum Stehen. Die graue Regenwand der letzten Tage hat sich verflüchtigt. Pünktlich mit meiner Ankunft bricht Sonnenlicht durch die Baumkronen und lässt das Wasser der Kyll glitzern. Kirche und Klostergebäude warten gleich hinter dem Bahnhof wie alte Freunde.
Ich war nie hier, aber ich habe sie augenblicklich lieb. Und die Gegend ist mittlerweile atemberaubend: Wald, Wald, Wald — Das einzige, was mir auf Langeoog schmerzlich fehlt, und von dem ich deshalb im Urlaub gar nicht genug bekommen kann.

Der Mensch, der mich begrüßt, hat klare blaue Augen über seiner Maske und wirkt ruhig und freundlich. Er erklärt alles schnörkellos, dann bin ich im Zimmer. Durch das weiße Sprossenfenster mit den zartgelben Vorhängen sehe ich direkt in den Klostergarten; irgendjemand macht sich dort mit Leiter und Astschere an Obstbäumen zu schaffen. Der Rasen ist leuchtend grün, von nahezu englischer Schönheit, und wird von einer alten Steinmauer gesäumt. Dahinter ragen riesige Fichten in den mittlerweile leuchtend blauen Himmel, ich höre den Fluss rauschen und ansonsten: Nichts.
Ich bin fürs Erste überwältigt. Danke, Gott, denke ich. Und Dank an den lieben Priester, der mir dieses Exerzitenhaus empfahl. Es fühlt sich gut an.

Ich weiß, dass nun der Moment zum Loslassen und Entschleunigen gekommen ist. Also packe ich das Smartphone in den Schrank und schalte den mobilen Datenempfang aus: Es gibt sowieso kaum Netz. Für eine SMS an die Liebste und meinen Vater halte ich das Gerät aus dem Fenster für wenigstens einen Balken E: „Bin da. Superschön hier. Bis dann.“
Das Telefon herunterzufahren habe ich bald darauf geschafft. Mich selbst in den Ruhezustand zu versetzen ist schwieriger. Zwar bin ich körperlich nach wie vor todmüde, aber mein Hirn, mein Geist tun das, woran der Eifelexpress krachend scheiterte: Sie rasen.

Stille, sage ich mir. Ankommen. Ruhe. Aber ich wusele dennoch erst einmal hier und da, entpacke und arrangiere, erkunde das Haus, dusche, ziehe mich um — und stelle fest, wieviel Zeit man plötzlich hat, so ohne Smartphone. Noch immer sind es 1,5 Stunden bis zum ersten Treffen mit der Gruppe und dem offiziellen Start des Exerzitienprogramms.

Zeit für den Garten. Als ich hinaustrete, duftet die Luft nach Lavendel und Rosen, nach reifem Obst und frisch geschnittenem Gras. Und tatsächlich finde ich auch all das vor. Über einer flechtenverzierten Steinbank hängen orange leuchtende Zieräpfel; dahinter ein schön gewachsener Baum mit rotbackigem Boskop, daneben Birnen. Als ich die großen, reifen Birnen bewundere, deren Zweige über die uralte Steineinfriedung des Gartens hängen, huscht eine kleine Eidechse in ein Mauerloch, vor dem sie sich gerade gesonnt hatte. Ich kann mir einen Laut der Begeisterung nicht verkneifen. Eine Eidechse hatte ich zuletzt als Kind irgendwo gesehen; vielleicht im Sauerland, ich weiß es nicht mehr. Hinter dem Garten sind kleine Teiche, die ein plätschernder Zulauf speist. Eine Kapelle lobt die Gottesmutter: Ave, maris stella — Ein bisschen Meer ist wohl überall. Ein hölzernes Tor führt auf einen Waldlehrpfad, den ich mir sehr groß auf die To-do-Liste setze. Mein erster Blick hinein durchstreift eine geheimnisvolle Schlucht mit hölzernen Brücken und einem Bach, ringsum erhebt sich majestätisch der Wald; sonnendurchflutetes Weideland schmiegt sich an seinen Rand.
Auch in der Kirche fühle ich mich sofort wohl: Ein Seitenaltar ist dem heiligen Berhard von Clairvaux gewidmet und ich denke voller Liebe an „meine“ Zisterzienser, für die ich hier gewiss beten werde. Der heilige Bernhard steht hier auch nicht zufällig, denn tatsächlich siedelten in St.Thomas vor vielen Jahrhunderten Zisterzienserinnen. Auch eine Art Besserungsanstalt für straffällig gewordene Priester war einst an diesem Ort, Demeritenhaus genannt — über diesen Teil der Geschichte (und die damit verwobenen Biografien) denke ich aber vorerst lieber nicht nach.
An der Wand links vom heiligen Bernhard stehen — aus Holz gefertigt — gleich zwei Männer mit Kind im Arm: Der heilige Josef und der heilige Antonius, jeweils mit dem Jesusknaben. Mir gefällt diese Darstellung väterlicher und brüderlicher Zuneigung, und so komprimiert habe ich sie auch noch nirgends sonst vorgefunden. Maria mit dem Kinde lieb gibt es aber ebenfalls zur Genüge.

Nach der obligatorischen Kennenlernrunde endet die erste Gruppenzusammenkunft mit dem Satz: „Ab jetzt gilt durchgehendes Schweigen“. Das Schlusslied, mit dem wir ins Schweigen entlassen werden, könnte nicht besser zur Umgebung passen: „Der Mond ist aufgegangen …“

Mittlerweile ist er das auch wirklich; der Mond leuchtet mit sanftem Schein über dem Klostergarten und zieht seine Silberspur über die gepflegten Rasenflächen. „Der Wald steht schwarz und schweiget …“

Momentaufnahme, Urlaubsträume

In zwei Wochen wäre ich in Polen gewesen. Genauer: Masuren, Ostpreußen. Die Heimat meiner Vorfahren. Gräfin von Dönhoffs Kindheitserinnerungen las ich längst, ebenso Ralph Giordanos großartiges „Ostpreußen Ade“. Auch Lenzens „Suleyken“ steht ausgelesen neben meinem Bett. Ich pflügte mich — trotz veritabler Abneigung gegen den zeitgenössischen Ableger — durch Jahrhunderte an Deutschordensgeschichte, um vor der mächtigen Marienburg nicht dazustehen wie der berühmte Ochs vorm Tor. Ich kaufte sündteure High-Tech-Ohrstöpsel gegen Vatterns Schnarchen im zu teilenden Hotelzimmer und ein gewaltiges Waffenarsenal gegen die Legionen masurischer Mücken, die wohl so Manchem schon laue Abende an ansonsten wunderschönen Seen verleidet haben. Ich frischte meine 8 Worte Polnisch auf und träumte von Eisvögeln im Schilf, von Schmetterlingwiesen, abgelegenen Gehöften, silbrigen Seewellen, prachtvollem Katholizismus und Unmengen Historie. Von Kahnfahrten, Kanälen mit Schwänen, Kalorienbomben mit Sauerkraut und träumenden Wäldern:
Vorbei.
Ostpreußen ist nicht. Und der Grund heißt Corona.
Es geht mir in dieser Hinsicht also nicht besser als es den unzähligen Langeoog-Fans geht, die seit Wochen mit den Hufen scharren und nicht wissen, ob ihr Urlaub nun stattfinden wird oder nicht. Einige davon können nun aufatmen, denn ab Montag gibt es wieder Touristen auf der Insel; die Zweitwohnungsbesitzer dürfen bereits seit Mittwoch wieder anreisen. Etliche ließen sich nicht zweimal bitten. Heute ist Donnerstag.

Am Mittag wandere ich einmal mehr durch eine unfassbar schöne Stille, die mir Gebet und Gesang zugleich ist. Am Strand höre ich nichts außer dem leisen Rauschen der Wellen; es gibt kaum Wind. Die Sonne wärmt zumindest ein wenig in diesem noch viel zu kalten Mai; hungrige Möwen werfen ihre kreisenden Schatten auf den Sand. Kein Fischbrötchen nirgends: Auch für die Tiere ist dieser Frühling ungewöhnlich. Ob die überhaupt noch wissen, wie man sich selbst Nahrung sucht?, frage ich mich und werfe einen Blick nach oben. Das Möwengeschwader zeichnet sich leuchtend weiß vor einem überwältigend blauen Himmel ab. Satt, dunkel, intensiv — ein Blau, wie man es nur auf kostbarsten Darstellungen der Gottesmutter findet; ein Marienmantelblau im Marienmonat Mai. Aber ohne Marienburg. Szkoda!

Ich liebe Langeoog. Aber der geplatzte Traum von der Reise nach Masuren betrübt mich. Schon lange war keine Reise mehr so lange vorher geplant, so gründlich vorbereitet, von so viel Vorfreude begleitet gewesen. Natürlich: Man kann das nachholen. Und ja, es ist nur ein Urlaub. Was ist das schon gegen das höchste aller Güter, die Gesundheit, die meines Vaters noch dazu? Es ist nunmal höhere Gewalt, und ich kann nur Gott danken, dass der Corona-Kelch bislang an meinem engsten Umfeld vorüberging. Wie lange der Virus die Insel noch weitgehend verschonen wird? Der Realist in mir gibt den LangeoogerInnen nach der Wiederbelebung des Tourismus nur noch wenige Wochen. Der Asthmatiker in mir hat Angst und tastet nach dem Inhalator in seiner Tasche.

Auch den Herbsturlaub hatte ich schon gebucht: Ein weiterer Traum von Wald und Stille; strenge Schweigeexerzitien in einem abgelegenen Konvent. „Hier gibt es kein Mobilfunknetz, wir sind wirklich mitten im Wald“, erklärte der Gastpater beim Vorgespräch, „nur für den Fall, dass Sie es heimlich versuchen.“ „Hatte ich nicht vor“, erklärte ich. Aber damals hatte ich ja auch noch keine Angst um die Gesundheit mir lieber Menschen, um meinen Arbeitsplatz, und eine Freundin hatte ich auch noch nicht. Meint: Sogar für jemanden wie mich, der sich um direkte Kommunikation nicht übermäßig reißt, bekam der Terminus „in Verbindung bleiben“ doch etwas höhere Priorität in den letzten Wochen. 
Dennoch möchte ich hin; vielleicht sogar mehr denn je. All die Ereignisse der letzten Wochen, all das Neue und Ungewohnte, das Schöne und Schreckliche — ich sehne mich danach, all das in Ruhe sortieren und verarbeiten zu können; ebenso wie danach, noch einmal aus neuer Perspektive an Gott herantreten zu können und Verpasstes nachzuholen.
Ich gehe täglich für ein stilles Gebet zur Kirche, aber die Sehnsucht nach einer Eucharistiefeier und der Schönheit katholischer Liturgie ist groß.

Die Unruhe dieser Zeit und das Unstete, das diese Krise in den Seelen der Menschen anzurichten vermag, mehrt in mir die Sehnsucht nach Stille. Nach dem Maximum an Stille, das mir ein Urlaub bieten kann. Eine absurde Sehnsucht in diesen Tagen auf Langeoog — eigentlich. Denn ist es nicht so still und schön wie nie zuvor in einem Frühling? Im Dorf blüht der Flieder; erster Rosenduft weht durch die Dünentäler, die nach den Regengüssen der letzten Tage wieder prachtvoll ergrünt sind. Rehe springem einem ohne Scheu in den Weg, Fasane weichen kaum noch vom Fleck, wenn man sich ihnen nähert. Mensch und Tier funktionieren hier als Schicksalsgemeinschaft, solange der Mensch nicht zuviel Raum einnimmt. Aber bald schon wird wieder Lachen, Schreien und Fahrradklingeln durch die Straßen hallen; bald wird die einsame Krähenspur am Strandübergang von hundert Menschenfüßen verwischt sein. Bald werden sich auch die Kassen der Inselgemeinde, der Geschäfts- und Privatleute wieder füllen; für das Überleben auf der Insel notwendig, zweifelsohne.
Aber die Stille war schön. Und die Träume waren es auch.

Den berüchtigten Inselkoller, den mir hämische Bekannte vor meinem Umzug nach Langeoog schon nach drei Wochen an den Hals wünschten, hatte ich bisher noch keinen einzigen Tag. Ich will nicht woanders leben. Nie. Und obwohl die Vorfreude auf viele Reisen und Ausflüge groß war, übertraf bislang noch nichts die Freude der Heimkehr. „Sechs Jahre — und ich kann es manchmal immer noch nicht fassen, dass das hier kein Urlaub ist. Dass ich wirklich hier lebe“, sage ich beim abendlichen Strandspaziergang und drücke den Menschen in meinem Arm noch etwas fester an mich. Wir können das jeden Tag haben. Ich muss nicht mehr stundenlang fahren und Unsummen dafür ausgeben, um am Meer zu sein. Ich gehe einfach die Straße hoch; manchmal allein. Manchmal nicht. Und dann liegt es vor mir, in all seiner Pracht; im Wechsel der Jahreszeiten, atemberaubend schön in einfach jedem Zustand. Ob sturmzerwühlt, in frühlingsblauer Unschuld oder grau verregnet: Ich liebe das Meer.
Nur manchmal, da träume ich mir die Umrisse eines Sees in die glitzernde Wasserfläche. Mit Schilf an den Ufern und Eisvögeln. „Und schau mal, die Wolken heute“, sage ich zur Freundin: „Sehen sie dort nicht aus wie die Spitzen eines Nadelwaldes?“

 

Momentaufnahme, Kreuzfahrt II

Pünktlich zum Sonnenaufgang erwache ich. Die Nacht war erstaunlich ruhig, obwohl ich befürchtete, aufgrund bezechter Mitpassagiere keine Ruhe zu finden. Tatsächlich ist aber der Konsum von Alkohol in den Kabinen streng verboten und nachts patroullieren Sicherheitsleute durch die Gänge, die vermutlich auch für Ruhe sorgen. Mit meiner Kabine habe ich aber auch erstaunliches Glück, denn zumindest die direkten Nachbarkabinen scheinen unbewohnt und sie liegt wunderbar mittschiffs, von wo man als See-Anfänger die Schiffsbewegungen noch am Wenigsten spürt.

„Wetter soll ja nicht so toll sein“, unkte eine Bekannte vor meiner Anfahrt. „Regen und Kälte sind mir egal, erwiderte ich. Aber klar sollte es sein, mit guter Sicht. Wäre schon schade, wenn alles im Nebel läge.“

Es hätte nicht schöner werden können. Schon am frühen Morgen hat die Sonne trotz eisigen Winds schon wärmende Kraft. Einige Arbeitschiffe sind unterwegs; auch der Zoll auf einem schnellen Schlauchboot.

Ich gehe das Promenadendeck entlang bis zum Bug; das Schiff schlägt einen eleganten Wellenteppich in die tiefblauen Wasser, während die Sonne allmählich über die Wipfel verschneiter Mischwälder kriecht.

Wir sind in Norwegen angekommen, und ich verstehe Augenblicklich, warum Norwegen vielen als Sehnsuchtsland gilt. Alles sieht genauso aus, wie ich es mir immer erträumt habe. Bunte Häuschen und kapellenähnliche Leuchttürme auf kleinen Felsinselchen, umkreist von Seevögeln. Noch im Morgendunst liegende, bewaldete Bergketten, zwischen denen Fjorde glitzern. Und über all dem liegt Schnee, der die falunroten und gelben und blauen und cremefarbenen Fassaden umso pittresker leuchten lässt. Auch die Zweige der mächtigen Kiefern und Fichten biegen sich unter dem Weiß, darunter das satte Grün unberührter Wildnis. Mich würde nicht wundern, hier Wale zu sehen. Oder einen Elch.

Ich kann den Blick nicht losreißen. Mit jedem Mal, dass ich mich vom Fenster wegdrehe, scheine ich eine noch schönere Szenerie zu verpassen, obwohl ich schon die jeweils vorherige kaum für steigerungsfähig hielt. Es ist nicht einmal sieben Uhr, und ich bin vollkommen euphorisiert.

Beim Frühstück (in gleicher Opulenz wie das Abendessen) habe ich dieses Mal angenehme Renter als Nachbarn. Sie stammen dem Akzent nach vermutlich auch aus Norddeutschland, wenn nicht gar Ostfriesland. Die meiste Zeit aber sind sie still und berauschen sich, ebenso wie ich, an der Landschaft, die am Panoramafenster vorbeigleitet.

Den Rest des Morgens verbringe ich in vollkommen schönheitstrunkener Ergriffenheit in der Sonne auf dem Helikopterdeck, bis Olso in Sichtweite kommt.

Die Einfahrt in den Oslofjord ist unvergesslich. Auch hier ist ein Inselchen schöner als das andere, ein Leuchttürmchen malerischer, dazwischen wieder bunte Häuschen und Wald, Wald, Wald. Und Wald.

Als das markante Opernhaus in Sichtweite kommt, fordert eine Lautsprecherdurchsage das Fertigmachen zum Landgang.

Drei Stunden Stadtrundfahrt mit Halt an drei Sehenswürdigkeiten später kann ich nicht sagen, ob mir Oslo gefällt. Ich fühle mich wie Ware, die durch eine vielteilige Produktionsanlage geschoben und dort rauf und runter gefahren, nach links und nach rechts und mehrfach im Kreis gedreht wurde, um am Ende in jeder Hinsicht fertig vom Band zu rutschen. Mit Sicherheit sind die Museen, die wir besuchten, interessant und die Altstadt bezaubernd; auch Architekturfreunde kommen sehr auf ihre Kosten. Aber es ergibt wenig Sinn, zu Dutzenden auf einmal hinein gestopft und im Schweinsgalopp durchgejagt zu werden: In 20 Minuten zurück am Bus, und bitte alle pünktlich.

Jedenfalls sind die drei Stunden Stadtrundfahrt in Nullkommanix vorbei, ohne das wirklich Gelegenheit zum Ankommen und Verarbeiten der Eindrücke gewesen wäre. Aber für einen ersten Überblick muss es reichen.

Es geht zurück aufs Schiff. Die vielen Norweger an Bord sind in Oslo geblieben, und zuletzt verstand ich auch, warum diese Kreuzfahrt auch dort so beliebt ist, obwohl Kiel nicht als gerade als klassisches Touristenziel gilt: Fast alle verließen das Schiff mit riesigen „Tax free“-Tüten voller Alkohol. Helgoland kann hier mitreden.

Die katholische Domkirche St. Olav habe ich leider nicht gesehen. Ich fragte die Reiseführerin danach, aber sie fragte nur, warum mir das wichtig sei. Ich führte solidarisches Interesse an der Diaspora-Situation der norwegischen Katholiken als Grund an und dachte, nach einem kurzen Moment der Verwunderung, dass das eigentlich eine sehr gute Frage ist. Eine, die man sich als Christ immer mal wieder stellen sollte: Warum ist der Glaube, warum ist GOTT mir wichtig?

Beim Auslaufen und der Rückreise durch den Oslofjord — der Himmel über uns ist immer noch strahlend blau und die Sonne spiegelt sich in den Eisschollen — fallen mir Tausend Antworten auf ihre Frage ein. Und dann noch eine und noch eine. Man muss einfach nur hinsehen.

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Momentaufnahme, Fülle

„Leben in Fülle“. Es ist ein Leichtes, sich vorzustellen, was die Bibel damit meint, wenn man dieser Tage über Land fährt. Vor dem Busfenster, auf der Straße Richtung Norden, wogen goldene Ähren. Der Mais schießt in die Höhe, auf den Obstplantagen bekommen die Äpfel schon rote Bäckchen. Auf den Verkehrsinseln leuchtet der Rainfarn in goldener Pracht. Die Natur ist hier weiter als auf Langeoog, denn dort hat diese von mir geliebte Pflanze, die unter anderem an den Strandaufgängen wächst, noch grün verschlossene Knospen.
Blühstreifen, welche die Äcker und Weiden säumen, sind blauweiß geblümt wie zartes, friesisches Teegeschirr: Kornblumen und Kamille, Disteln und Schaumkraut geben sich ein „Landlust“-Covertaugliches Stelldichein. In einem funkelnden Wassergraben füttert eine Teichralle ihr Kleines, Holsteiner Fleckvieh käut, träge und wohlgenährt, auf saftiggrünen Wiesen wieder. An den Straßenrändern zeichnet sich eine Allee junger Birken strahlend weiß gegen den königsblauen Himmel ab. 
All diese Pracht ist über das zarte Erwachen des Frühlings weit hinaus; sie trägt bereits das Verprechen auf die Ernte des Herbstes in sich, ohne jedoch schon erkennbares Verfallen, die Vorboten des Winters, zu zeigen. Der Sommer ist auf seinem Zenit.
Kurz vor der Stadt Norden steige ich aus. Das Schloss Lütetsburg ist mein Ziel mit seinem beeindruckenden Park, an den ich mich nur vage aus sehr jungen Jahren — damals in Begleitung meiner Eltern — erinnere. 
Mit ihren alten Gewächshäusern, die heute ein Café und einen Laden beherbergen, erinnert mich die Anlage an die Königlich-Preußische Gartenakademie in Berlin, unweit des Botanischen Gartens, wo ich liebend gern den mir ansonsten unerträglichen (obwohl hochgepriesenen) Berliner Sommer verbrachte.
Im Inneren des Glashauses, in dem sich das Café befindet, ranken Weinstöcke aus den 50er Jahren und zaubern entzückende Schattenspiele auf das schlichte, aber gepflegte Interieur. Sogar das Klo befindet sich in einem bezaubernden Backsteinhäuschen, an dem üppige Rosen wuchern. 
Es ist später Vormittag; das Café hat gerade erst aufgemacht. Außer mir ist nur ein älteres Ehepaar sowie ein Damenkränzchen anwesend, das bereits bestgelaunt dem Sanddornprosecco zuspricht. 
Die Kuchen und Torten in der Vitrine sehen ebenfalls aus, als entstammten sie geradezu einer „Landlust“-Ausgabe, aber es ist eindeutig noch zu früh dafür. Also bestelle ich Tee und eine Gemüsequiche, die hier nicht profan mit einem „Beilagensalat“, sondern mit einem „kleinen Salatgesteck“ angepriesen wird. Alles ist stilvoll und edel, ohne protzig zu sein: Cleanes Understatement. Und wo wäre das Wording „Gesteck“ passender als in einer Schlossgärtnerei? Eben. Der Ex-Werbefuzzi in mir nickt. Und fast wäre mir auch schon nach Prosecco.

Nach dem Brunch rüste ich mich für den Gang durch den Park, dessen gewaltige Ausmaße mir erst bewusst werden, als ich im zweiten historischen Gewächshaus — dem Lädchen — einen ausführlichen Parkguide kaufe. Mir dämmert jetzt schon, dass ich nicht alles schaffen werde, bis ich den Bus zum letzten Schiff zurück nehmen muss. Also picke ich mir die interessantesten Stationen heraus: Die Kapelle, die 300 Jahre alte Eiche, die Nadelgehölze, den größten See. 
Aber es fällt schwer, sich an den Plan zu halten. 
Hinter jeder Ecke eröffnen sich faszinierende Perspektiven, spektakuläre Sichtachsen, ausgeklügelte und doch so zufällig wirkende Blickwinkel. Zwischen den sonnendurchwirkten Zweigen immer wieder: Das Schloss.
Eine Hochzeitsgesellschaft hat sich unterhalb des „Tempels der Freundschaft“ versammelt, der eine Außenstelle des Standesamts Hage beherbergt. Die nächste Gesellschaft wartet bereits auf ihren Einzug. Eine hochgewachsene Dame in einem eleganten, bodenlangen grünen Kleid, mit weich aufgesteckten, edelholzbraunen Haaren und sensationeller Figur, verschmilzt förmlich mit dem Sattgrün der Bäume und stiehlt der Braut zweifelsohne die Show. Ich sehe sie nur vom Weiten, aber es ist einer der seltenen Fälle, in denen sogar ich eine Frau anbetungswürdig finde. Und jedes Mal, wenn jetzt jemand „Holla, die Waldfee sagt“, denke ich, werde ich wohl genau diese bezaubernde „Waldfee“ vor Augen haben.
Unter einer Baumgruppe posiert ein drittes Brautpaar gerade für eine Fotografin. Alle, die daran vorbeimarschieren, rufen „Herzlichen Glückwunsch“: Es sind viele. Die Braut ist zu stark geschminkt und sieht gestresst aus. Aber sie bedankt sich und versucht zu lächeln. Die Fotografin hat ihr und dem Bräutigam Holzbuchstaben in die Hand gedrückt: L, O, V, E. Die Braut soll sich das O über den Kopf halten. Es sieht albern aus und sie tut mir Leid. So eine Erinnerung wöllte ich nicht im Album. Aber der Baum, unter dem sie stehen, ist schön. Und der Bräutigam auch.

Ich erreiche die „Nordische Kapelle“. Das winzige Gotteshaus wurde 1802 nach skandinavischem Vorbild errichtet, inklusive künstlicher Felsen, Nadelbäume und kunstvoll arrangierten Wurzelwerkes. Ein Schild am Eingang mahnt zur Stille.
Ich bin überrascht, hier das Gotteslob sowie Kniebänke vorzufinden, aber tatsächlich ist und war die Eigentümerfamilie des Schlosses katholisch: In Ostfriesland eine Seltenheit. Aber auch für die Öffentlichkeit kann die Kapelle für Trauungen oder Trauerfeiern genutzt werden. Freilich eher von Menschen mit wenig Anhang, denn mehr als ein Dutzend Menschen passt kaum hinein. 
Ich schlage ein Kreuz und knie mich auf die hellgrauen, weich gepolsterten Bänke. Außer mir ist niemand da, und so genieße ich kostbare Momente der Andacht vor einem schlichten, aber Wärme und Zuhause ausstrahlenden Altar unter einer leicht schiefen, weißgrauen Kuppel. Etwas schief hängen auch die Kerzen in ihren Halterungen; auf der Altarstufe steht ein Strauß frischer Blumen.
Ich mag die Kapelle: Sie vertrömt die Geborgenheit eines abgeliebten Kuscheltieres, auch wenn dieses Bild vielleicht ungehörig klingt. Aber ich spüre, dass man hier gut zur Ruhe kommen kann. Und nach Hause. 
Wie sehr dieser Eindruck passt, wird mir erst später klar werden. 

Die Abfahrzeit des Busses rückt näher. Quasi im Sprint eile ich durch die wichtigsten Areale des Parks, immer wieder ausgebremst von meinem fotografischen Auge, das unbedingt noch diesen und jenen Winkel mitnehmen möchte. Und in einem Bereich mit besonders vielen Nadelbäumen, riesigen Lärchen und Zypressen, kann ich einfach nicht anders als verweilen. Wie lange ich keinen Waldboden mehr unter den Füßen hatte! Fast hatte ich vergessen, wie federnd-weich man auf einem dicken Polster aus Lärchennadeln und -zapfen läuft! Ich wippe ein wenig darauf herum und lasse gleichzeitig den Blick die Stämme emporgleiten, hinauf zu den hellgrünen Kronen. Zwischen den braunen Ästen im lichtundurchdringlichen Teil der Bäume glänzen Spinnweben.
Sofort zücke ich das Smartphone, um zu recherchieren, ob ich nicht einen Bus später nehmen kann. Leider geht es nicht. Und nun rennt die Zeit wirklich. 
Ein letztes Abbremsen im Westteil des Parks: Ein großes Schild weist auf einen „Begräbniswald“, der in diesem Areal liegt, und listet Verhaltensregeln dafür auf. Um das Schild herum tanzen Schmetterlinge. Ich schaue zu den Bäumen: Das sind Gräber? Augenblicklich bin ich so fasziniert wie begeistert, denn bis zum Abschnitt „Begräbniswald“ war ich zuvor auch im Parkführer nicht gedrungen. Und diese Entdeckung hätte ich wirklich nicht erwartet. Schnell reiße ich einen Flyer aus dem angehängten Plexiglaskasten: Darüber möchte ich mehr wissen!

Vor den Busfenstern entfaltet sich erneut die Fülle des Lebens in allen leuchtenden Farben. Urlauber auf dem Weg zu den Fähranlegern Bensersiel und Harlesiel plappern fröhlich in den Sitzreihen ringsum, planen Strandbesuche und Essen. Ich ziehe den Flyer aus der Tasche. Will ich mich jetzt wirklich mit dem Tod beschäftigen? Werden mich meine Freunde nicht für akut depressiv halten, wenn ich davon erzähle? Aber ich bin es nicht, und wann sollte man sich denn sonst mit dem Tod beschäftigen, wenn nicht auf dem Zenit seines Lebens? Die Hälfte ist rum, sage ich mir. Und niemand weiß, was noch bleibt.
Freilich: Mich mit meinem eigenen Ableben zu beschäftigen, macht mir nichts aus. Zumal ich mir, da Nachkommen- und Ehepartnerlos, zwangsläufig selbst Gedanken ums Wo und Wie machen muss, wenn ich kein DIN-genormtes Sozialbegräbnis haben möchte. Ich bin nicht immer in der Lage, mir über das Wie des Sterbens Gedanken zu machen oder gar über das, was nach dem Tode kommt oder auch nicht, auch wenn ich mir da als Christ vielleicht sicherer sein sollte. Aber über die Beerdigung? Bittesehr.

Indes fällt es mir schwer, andere davon sprechen zu hören. Insbesondere Nahestehende. Ich weiß, dass es wichtig wäre, beispielsweise die Eltern zu fragen, was sie sich für einen Abschied von der Welt wünschen, aber ich habe das noch nie fertiggebracht. Man will ja nichts heraufbeschwören. Und ja, ich verdränge auch den Gedanken daran. Nach dem Motto: Wenn ich ausblende, das Eltern sterben, tun sie es auch nicht. Aber so wird das nicht sein. In sehr vielen Todesanzeigen sind die Leute schon jetzt jünger als meine Eltern, und es zerreißt mir bei jedem und jeder das Herz.
Die Tage sprach mich mein Vater auf mein potentielles Erbe an, aber so schön ich das Haus auch finde: Wenn das Eigentum daran an seinen Tod geknüpft ist, will ich es nicht haben. Und nicht einmal daran denken. 
„Ich werde es nicht verkaufen“ — dieses Versprechen zumindest konnte ich geben: Das Haus wird länger leben als wir alle, so Gott will.
Kein Gentrifizierungsbagger wird das Haus im Berliner Nordosten zugunsten irgendeines neumodischen Einheitsklotzes zerreißen, keine Abrissbirne die doppelglasigen Fenster zertrümmern, aus denen auf einem Foto von 1928 mein Urgroßvater schaut. Letzterer liegt keine 600 Meter vom Haus entfernt beerdigt: Und so schließt er sich wieder, der vielbesungene „Circle of Life“.

Nun also, der Friedwald in Lütetsburg mit seiner heimeligen, katholischen Kapelle. Wenn Langeoog die Insel fürs Leben ist, denke ich, warum sollte sie zwangsläufig auch die Insel fürs Sterben sein? Natürlich möchten die meisten Menschen dort beerdigt werden, wo sie — zumindest in summa — glücklich waren, wo ihr Zuhause war. Ich hege keinen Zweifel daran, dass dieser Platz Langeoog ist. Aber will ich auf den Dünenfriedhof, wo sommers Heerscharen lärmender Touristen zu Lale Andersen pilgern, wo Menschen picknicken und mit Fahrrädern herumsausen, jede Friedhofsordnung missachtend? Will ich eines dieser mitleiderregenden Gräber werden, um die sich sichtbar niemand mehr kümmert? Und eine Seebestattung? Schön, aber viel zu teuer. Der Wald, denke ich, ist eine gute Idee. Man kann sich sogar den Baum aussuchen, unter dem man bestattet wird, mit Namensplakette oder ohne. Und niemand sieht, ob man noch Angehörige hat oder nicht, ob man den Leuten egal ist oder nicht, weil diese Gräber per se nicht geschmückt werden. Im Friedwald gibt es keine Beliebtheitswettbewerbe mehr. Nicht, dass die einem nach dem Tode nicht ohnehin egal wären — aber man kann ja nie wissen.
Die dem Flyer beigelegte Postkarte mit der Bitte um „mehr Informationen“ fülle ich aus. Nach dem Baumaussuchen könnte man doch auch im Schlossparkcafé etwas Leckeres genießen oder auf dem benachbarten Golfplatz eine Partie spielen, wirbt die Postkarte. Fast muss ich darüber lachen. Aber muss der Tod auch immer todernst sein? Die Karte ist auch nicht schwarz, stelle ich überdies fest: Es ist ein sattes Tannengrün. 
Als ich danach den Kopf hebe, um erneut aus dem Busfenster zu sehen, fühle ich mich selten lebendig.

Momentaufnahme, Fernweh

Im Haus gegenüber sind die Lichter ausgegangen. Schwalben schießen durch den sich verdunkelnden Himmel, in den, von mir unbemerkt, die Dämmerung eingesackt ist, ohne dass ich mich nach dem Sonnenuntergang umgedreht hätte, während ich auf meinem nach Osten gerichteten Balkon saß und las.

Hinter dem Friedhof, vom Haus aus gerade noch in Sichtweite, ziert ein schmaler Streif Nadelbäume den Dünenrand. Dahinter erstreckt sich das Meer, das nun schwarz daläge in seiner nächtlichen Einsamkeit, blinkte nicht noch das Leuchtfeuer von Helgoland mit der schönen Regelmäßigkeit eines Herzschlags oder die Lichter der auf Reede liegenden Containerschiffe.
In den Kiefernzweigen plustern Wildtauben ihr Gefieder; ein Fasan sucht leise meckernd Deckung zwischen Moosen und Farn.

„Ich sähe so gern mal wieder Wald“ erzähle ich dem alten Nachbarn, den ich früher am Tage vor dem Blumengeschäft treffe, „einen richtigen Wald. Das fehlt mir.“ „Ja“, sagt der Mann, „schön sowas. Ich war gerade in Schweden, bei unserem Sohn, der lebt dort, da waren Bäume wie Fahnenmasten, wunderbar, sag ich dir, so hoch waren die.“ Er reckt die Finger bis in den Himmel und grinst in seinen schlohweißen Bart. „Nach Südtirol möchte ich gern“, erzähle ich weiter, „vielleicht im Herbst, aber ich weiß nicht recht, wegen des Geldes. Nachher ist irgendwas und dann hat man nichts mehr, weil man im Urlaub war, aber da soll es Lärchenwälder geben, tiefe Wälder, so weit, wie das Auge reicht.“ „Ach Jungchen“, sagt der Mann, der mich immer „Jungchen“ nennt, obwohl mich mittlerweile auch schon vier Jahrzehnte auf Erden versaut haben, und legt mir seine große, schwere Hand auf die Schulter, die in seinem Berufsleben bei der Handelsmarine schon Gottweißwas für Dinge geschleppt und zurechtgezurrt hat. Der Mann hat gearbeitet: So viel steht fest.

„Jungchen“, sagt er, „so war das ja früher, nech: Sparen, sparen, hieß das immer, dann haste. Später, dann haste. Aber was haste dann, und für was? Mitnehmen kannste doch nix am Ende, und ich hab noch keine Kiste gesehen, wo hinten ne Anhängerkupplung dran ist.“
„Ja“, sage ich, „das letzte Hemd hat keine Taschen, sagt auch mein Vater immer“, und ich muss lachen, weil wir beide mit unseren Fahrrädern vor dem Geschäft stehen, ein jeder mit einem Anhänger angekuppelt. Aus meinem ragen Geranien und ein Margaritenstämmchen, aus seinem eine Seilwinde mit ein paar Metern Stahltau. Aber er hat ja Recht: Auf unserem letzten Gang kommt das nicht mit, und kurz befällt mich deswegen Trauer. Es gibt so viele Sachen, die mir lieb sind, und die neu gekauften Blumen sind noch so schön und voller Leben.

„Ich bin froh, dass ich so viel gesehen habe, als ich jung war, jetzt kann ich ja nicht mehr so und will’s auch nicht. War zwar alles schön, aber weißt du, wenn Du nach Edinburgh reinfährst in den Hafen, dann siehst du die schönen weißen Felsen, und wenn du nah dran bist, sind die nur weiß vor Lummenscheiße, so ist das, nech.“

Der Mann ist ein Philosoph.

„Ich weiß, was du meinst“, sage ich, und kann nur einmal mehr die ostfriesische Sprachpräzison bewundern. „Aber fahr du mal hin“, fährt er fort, „ist bestimmt schön da. War ja auch schön in Schweden, die Bäume und die Eichhörnchen, überall Eichhörnchen, die haben wir hier ja auch nicht. Und mein Sohn, der hat es da auch gut, zufrieden ist er da, ja.“ Es schwingt etwas Trauer mit, als er das sagt. Es ist eben weit weg, und ich bin sehr froh, dass ich auch gerade noch einmal mit meinen Eltern im Urlaub war.
„Aber was ist denn mit dir, Jungchen, bist du denn zufrieden?“ „Aber ja“, sage ich, „mir geht es gut. Mir gefällt es hier, ist ja auch wunderschön, das Meer, die Dünen. Aber manchmal vermisse ich halt doch einen Wald.“

„Ich bleibe jetzt auch erstmal hier“, sagt der Mann, „muss ja auch nicht weg, wo ich doch Zeitung habe und das Internet. Aber wenn du da so liest, denkst du ja auch: Was soll ich denn hinterlassen, wofür, in so einer Welt.“ Ich nicke nachdenklich. „Hier“, präzisiert er, „dieser Trump“, und er rollt den Namen mit friesischem „R“, „was der schon wieder gemacht hat, diese Scheiße, und alle verärgert. Aber ich sag dir, noch einen Krieg, das brauch ich nicht, da bin ich ja doch froh, dass ich bald abtrete, noch einen Krieg, das brauch ich nicht.“
Recht hat der Mann, denke ich erneut, auch wenn das fatalistisch ist, und bin einmal mehr froh, dass ich keine Kinder habe, und niemandem, dem ich diese Scheiße erklären muss.

Und die Wälder, von denen ich träume: Wer weiß, wie lange die noch stehen. Da mag ein Baum viele Jahrhunderte von oben auf die Menschheit herabgesehen haben, in stoischer Gelassenheit, aber dann kommt die Kreissäge oder ein Gift in den Boden, und dann ist er dahin. Und man kann nur noch Särge draus bauen, mit oder ohne Kupplung.

Ich radele heim und pflanze meine Blumen. Farbtupfer in einer Welt, die sich bei näherer Betrachtung allzu oft in Grau und Moll geriert; ein schöner, weißer Fels, der bei näherem Hinsehen nichts anderes ist als ein Haufen Lummenscheiße, und das Schreien der Seetaucher entpuppt sich bei näherem Hinhören als Kakophonie von Krieg und geschundenen Seelen. Und doch ist die Welt es Wert, bereist zu werden, geliebt und gepflegt. Denn bringt diese eine Welt nicht auch alles zutage, was wir lieben? Fußt sie nicht auf dem einen, großartigen Plan eines liebenden Schöpfergottes? Die Welt ist nicht schlecht, nur weil wir sie zugrunde richten.

Am Strand spielen Kinder mit noch unverdorbener Begeisterung für die Wunder unseres Planeten. „Guck mal, Papa“, rufen sie, „wir haben den Quallen ein Hallenbad gebaut“. Der Vater verlässt seinen Liegeplatz und bewundert die rechteckig ausgehobene Grube. Die Kinder kippen mit ihren Eimern Meerwasser hinein; dazwischen treiben einige der durchsichtigen Gallerttiere, behutsam hineingesetzt wie Fische in ein Aquarium.

Ich mache mir nicht viel aus Kindern, aber hier muss ich doch lächeln, weil mich die Szene als Beobachter rührt, und ich frage mich wehmütig, wie lang es wohl dauern wird, bis jemand den Kindern sagt, dass Quallen das Ungeziefer des Meeres sind, unwürdig eines eigenen Wellnessbereiches. Wie lange es dauert, bis sie aufhören, die Quallen zu mögen.

Ich muss nicht lange warten. Ein paar Meter weiter wird eine Qualle von der Schaufel eines anderen Kindes in Stücke gehackt.

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Momentaufnahme, Sonnenschein

Ich mag Friedhöfe. Friedhöfe sind die einzigen Orte, an denen man auch bei schönem Wetter weinen kann, ohne schräg angesehen zu werden. Auf Friedhöfen darf man noch fühlen.

In Berlin hatte ich eine depressive Phase; ich weinte ständig grundlos ― kein Schluchtzen oder inneres Erschüttern; nichts, was das Weinen ankündigte: Es lief einfach, wie bei einem undichten Wasserhahn. Dummerweise war zeitgleich Sommer, der berühmte Jahrhundertsommer, oder einer von den Jahrhundertsommern zumindest; die Leute sind angesichts des sonstigen Sauwetters ja immer schnell mit Superlativen. In der Wohnung war es zu heiß, einen Balkon hatte ich nicht, den Gemeinschaftsgarten hielten die Nachbarn mit ihrer Kinderschar besetzt. Wo konnte ich dann noch hin, wenn ich zwar vor die Tür, aber in meinem Zustand nicht weiter auffallen wollte?
Also ging ich jeden Tag auf den Friedhof, weil das der einzige Ort war, an dem man unbehelligt draußen sitzen und auch im Hochsommer weinen konnte. Man suchte sich einfach einen Grabstein, der vom Jahrgang her Eltern oder Partner sein konnte, setzte sich daneben und schon war die Tarnung perfekt. Frische Gräber waren weniger zu empfehlen: Hier bestand immer die Gefahr, auf echte Angehörige zu stoßen.
Außerdem konnte man sich auf dem Friedhof am Wasserhahn für die Friedhofsblumen abkühlen, das war praktisch bei der Hitze, weil man es wegen der Depression ja auch nicht ins Freibad oder an einen See schaffte. Dazu nahm man sich eine Gießkanne, betätigte die Pumpe und ließ einfach mehr Wasser über die Handgelenke als in die Kanne laufen, wahlweise über die Füße, wenn man ohnehin Sandalen trug. Mit dem Rest goß man dann das fremde Grab; so viel Gegenleistung musste sein.
Die Leute die man traf, waren beschäftigt mit ihrer eigenen Trauer oder sonstwo in Gedanken, ab und zu nickte jemand teilnahmsvoll. Aber niemand kam und sagte: „Lach doch mal, ist doch schönes Wetter“, „reiß dich zusammen“ oder bohrte nach, warum man denn bei diesem Wetter alleine sei.
Auf dem Friedhof war ich ein freier Mann, losgeschnürt vom Gute-Laune-Korsett des Sommers.

Heute weine ich in depressiven Phasen nicht mehr, die Chronifizierung meiner Depression hat mir nicht einmal mehr diesen Aktionsradius gelassen. Aber ich gehe nach wie vor gern auf Friedhöfe, unabhängig vom Gemütszustand.
Denn obwohl ich das große Grau (von vielen auch „der schwarze Hund“ genannt) mittlerweile unter Kontrolle habe, irritiert mich nach wie vor, dass alle Welt nur noch Liebe und Lachen und Tralala zuzulassen scheint, sobald es Mai wird und die Temperaturen zweistellige Werte erreichen.
Der Mai ist der Monat mit der höchsten Selbstmordrate. Theorien zufolge liegt das daran, dass depressiven Menschen das Gefangensein in ihrer eigenen, farblosen und ausgebluteten Welt umso mehr bewusst wird, je stärker das Leben der anderen um sie herum zu pulsieren, zu blühen und zu leuchten beginnt. Man kann auf der Parkbank schlecht seine vertraute Düsternis pflegen, wenn nebenan ein Paar knutscht und rosafarbene Blüten auf einen herabrieseln. Sogar die Scheißtauben vögeln in den Zweigen, und man selbst würde schon lange jedes nackte Dessousmodel aus dem Bett werfen, wenn man dafür nur einmal erholsamen Schlaf fände. Depressionen sind Instant-Zölibat.

Bleibt also der Friedhof.

Auf dem Langeooger Dünenfriedhof gibt es hinter der Trauerhalle einen kleinen Teich. Er ist nicht besonders gepflegt, aber in seiner traurigen Ramponiertheit hat er auch wieder etwas Rührendes, und ja: Vertrautes an sich. Ich mag den Teich, er ist ein Freund.
Die danebenstehende Bank haben Vögel vollgekackt; die wenigen Stufen hoch zum Lieferanteneingang der Trauerhalle sind gesprungen und uneben, vermutlich laufen die Sargträger hier Gefahr, mit dem Leichnam zu stolpern. Man müsste das machen lassen, denke ich, während ich mich auf den am wenigsten beschissenen Abschnitt der Bank am Teich setze, ist ja nicht auszumalen, wenn. Also, man muss sich das vorstellen, und dann liegt der Mensch da, aus dem Sarg geplumpst, was für eine Tragödie. Man müsste die Stufen machen lassen, wirklich. Aber vermutlich sind die Langeooger Sargträger längst daran gewöhnt.

Neben dem Teich steht ein Granitblock mit dem berühmten Gedicht Goethes: „Über allen Gipfeln ist Ruh.“ Ein paar Menschen haben Kerzen darunter gestellt, kleine Figuren, Kieselsteine und Muscheln. Aber in den Wipfeln, die den Dünenfriedhof umgeben, ist selten Ruh. Die erwähnten Tauben gurren in den Ästen. Buchfinken durchklauben den mit weichen Nadeln gepolsterten Boden. Ein Fasan marschiert strammen Schrittes durch die Balten-Gedenkstätte und vorbei am Mahnmal für die namenlosen Ertrunkenen, welche im Laufe der Jahrzehnte auf Langeoog angespült wurden. Nachts schreit aus den Bäumen der Kauz.

Der Dünenfriedhof ist der einzige Ort auf der Insel, an dem man in nennenswerter Menge Nadelbäume findet: Auch deshalb mag ich den Friedhof. Ich liebe den Geruch von Nadelholz; die einzigartige Beschaffenheit und das Knistern von Nadelwaldboden.
Die Fichte, welche die Bank beschattet, auf der ich sitze, und von der die Vögel hinunterscheißen, treibt gerade aus. Als Kind konnte ich mich ewig damit beschäftigen, die kleinen, hellbraunen Knopsenhüllen von den zartgrünen Trieben zu ziehen und so quasi deren Geburtshelfer zu spielen. Am Ende waren die Finger klebrig und dufteten vom Harz. Ich ziehe drei oder vier Hüllen ab. Das Gefühl, als erster die jungen, weichen Triebe zu berühren, ist nach wie vor unvergleichlich. Um die Fichte herum befinden sich viele verschiedene Tannen- und Kieferarten. Manche recken die Zweige zum Himmel, flehend, trotzig oder lobpreisend. Andere lassen sie hängen in stiller Gram. Manche stehen einfach da, aufrecht, in unbeugsamer, makelloser Würde: ein letztes Salutieren an die toten Soldaten, welche hier ebenfalls begraben liegen. Kriechkiefern winden sich am Boden im Schmerz. Auf dem Friedhof findet jedes Gefühl in den Bäumen seinen Ausdruck.
Natürlich ist ein Friedhof in erster Linie ein Ort des Trauerns, aber auch Dankbarkeit wird hier empfunden, für die Zeit, die man mit dem Verstorbenen hatte oder für die Gnade Gottes, jemanden nicht lange leiden zu lassen. Und Liebe gibt es auf dem Friedhof. Natürlich: Liebe. Manchmal auch Gram, Wut, ein verzweifeltes: „Warum?“ Aber auf dem Friedhof darf all das sein, hat all dieses Menschliche seinen Platz, egal, wie viel Mai und wie viel Sonnenschein drumherum ist. Und wenn man selbst nicht in der Lage ist, seinen Gefühlen Raum oder auch nur einen Namen zu geben, findet man seinen Trost hier im Anblick des kleinen, beschützenden Nadelwaldes, der die Grabfelder umarmt oder im stoischen Rauschen der See, welche keine 150 Meter entfernt an den Strandabschnitt Gerk-sin-Spoor brandet. Es ist ein friedlicher Ort, selbst während der Hochsaison.

Auch heute bin ich fast allein; nur ein paar Touristen machen Fotos von der Grabstätte Lale Andersens und ziehen sofort wieder ab. Am Teich hinter der Leichenhalle habe ich noch nie jemanden getroffen; er ist mein kleines Refugium, obwohl auch andere hier manchmal herkommen müssen: Die Figürchen und Kerzen unter dem Stein mit dem Goethe-Gedicht belegen es.

Es gibt noch einen zweiten Friedhof auf Langeoog, an der Inselkirche mitten im Dorf. Ich weiß nicht, nach welchen Kriterien von den Insulanern beschlossen wird, wer auf welchem Friedhof landet, aber wenn man schon irgendwann verbuddelt werden muss, so denke ich: Dann bitte hier. Zwischen Gräberfeld und Trauerhalle ist noch Platz; eine sattgrüne Rasenfläche, an deren Rand sich ein paar Kindergräber befinden, erinnert die Lebenden an ihre eigene Vergänglichkeit, das Ziel quasi vor Augen. Und vielleicht, denke ich, wird einigen der Wert des Lebens auch erst hier bewusst.

Ich verlasse den Friedhof. Vor dem schmiedeeisernen Tor am Ausgang hat der Wind Blütenblätter zusammengetrieben. Die Maisonne umhüllt ein Wolkenschleier. Als sich am Ende der Straße mein Haus aus dem Hochnebel schält, lächle ich.
Das Leben hat mich zurück.

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Momentaufnahme, Heile Welt

Ich warf die Weihnachtspost am frühen Montagabend ein. Die meisten der Briefe tragen Berliner Adressen. Heute ist Dienstag. Wenn die Briefe mit ihren, mir jetzt so deplatziert erscheinenden, Weihnachtsgrüßen in Berlin eintreffen, ist die Stadt bereits eine andere. Das indes konnte ich Montag, gegen 18 Uhr, noch nicht wissen. Zu diesem Zeitpunkt hatten 12 Menschen, die sich zum Weihnachtsmarktbesuch an der Gedächtniskirche entschieden hatten oder einfach nur so dort vorbei mussten, noch zwei Stunden zu leben.

Ich hatte lange mit einem Anschlag auf Berlin gerechnet. Was sollte unsere Hauptstadt denn auch von der Hauptstadt Frankreichs oder Belgiens unterscheiden? Was dort passiert, kann auch uns passieren. Emotional vorbereitet ist man trotzdem nicht.
Und plötzlich versteht man wieder all das Leid unserer Großeltern: Das tägliche Leben mit dem Gedanken, dass irgendwer, den man kennt, nicht wiederkehrt von der Front. Dass das Haus eines Menschen, den man kennt, in Schutt und Asche gebombt wird. Dass irgendjemand, den man liebt, aus dem Leben gerissen wird, viel zu früh und ohne jede Vorwarnung. Freilich: Dass Menschen plötzlich versterben, geschieht auch durch Unfälle, das ist grauenvoll genug. Aber wie viel unbegreiflicher ist es, wenn dieses Leid durch ideologische Verblendung verursacht wird, durch den Wahn Einzelner, also nicht durch unglückliche Umstände, sondern durch bösartigsten Vorsatz? Wieviel Kraft erfordert es, hier dann nicht einzuknicken, zu pauschalisieren, oder von der Angst vor dem Terror das eigene Dasein fremdbestimmen — sich also im Wortsinne terrorisieren — zu lassen? Sich nicht vor der nächsten Zugfahrt zu fürchten, dem Bahnhof, dem vollen Einkaufszentrum?

„LKW rast in Weihnachtsmarkt“: Als die erste Eilmeldung auftaucht, bin ich zur Reflektion nicht fähig. Vielmehr greift eher eine Art Reflex, ein offenkundig archaischer Beschützertrieb, mit dem ich meine „Herde“ daheim in der sicheren Höhle wissen will, und also schreibe ich jede und jeden an, der oder die mir am Herzen liegt: Lebst du?
Das Mobiltelefon zittert in meiner Hand.
Ich hatte mir nach dem Münchner Attentat so sehr gewünscht, so etwas nie wieder eine Freundin, einen Freund, fragen zu müssen. Und nun also doch noch Berlin.

Ich denke an die unzähligen Male, die ich während der Adventszeit selbst auf dem Weg vom Tauentzien zum Bahnhof Zoo den Breitscheidtplatz überquert hatte. Oftmals hatte ich dabei keinerlei Interesse am Weihnachtsmarkt, aber man musste da eben durch, wenn man schnell zur U-Bahn wollte; es gab ja auch eine etwas breitere Gasse zwischen den Buden zu diesem Behufe. Und durch genau diese Gasse raste am Montag Abend der LKW, und riss Buden und Menschen mit sich.
In der Zeitung ist ein Bild des Fahrzeugs: In der zersprungenen Windschutzscheibe hängt eine geschmückte Tannengirlande, und ich kann kaum in Worte fassen, wie sehr mich dieses Bild erschüttert. Denn kaum etwas stimmt wohl so feierlich und friedlich auf die Festtage ein, wie an einem ruhigen Abend die Wohnung festlich zu schmücken, Kränze zu binden, Kerzen aufzustellen und Kugeln und Schleifen in warm illuminiertes Wintergrün zu hängen. Nun aber ragen diese Tannenzeige mit den Kugeln und Schleifen, die irgendein Mensch dort liebevoll drapiert hatte, damit ein anderer sich daran erfreute, aus dem gesplitterten Glas einer Mordwaffe. Es ist unerträglich.

Nach und nach geben meine Freunde Entwarnung. Dieses Mal hat es also niemanden getroffen, den ich kenne, denke ich, und allein der Gedanke „dieses Mal nicht“ lässt mich innerlich erschauern. Ich sitze vor dem Fernseher und kann nicht aufhören zu weinen. Denn die 12 Verstorbenen und zahlreichen Verletzten hätten meine Freunde sein können. Sie waren irgendjemandes Freunde, Brüder, Väter, Töchter. Das Leid der Angehörigen? Unvorstellbar. Es kann keinen Gott geben, der Menschen zu so etwas anstiftet.
Ich versuche, Musik zu hören oder etwas anderes im Fernsehen anzuschauen, aber es ist plötzlich alles so entsetzlich trivial, was da gespielt und besungen wird; mit der Liebe und all den Alltagsstreitereien.
Und ich frage mich, wie es eigentlich unsere Großeltern im Krieg fertig brachten, trotz all des Grauens Weihnachten zu feiern, Kindergeburtstage, Hochzeiten. Wie konnte man lieben und lachen, wenn schon morgen wieder jemand erschossen werden konnte, von Granaten zerfetzt oder ausgebombt, mit keinem Besitz mehr außer den staubigen Lumpen am Leibe?

Andererseits: Ist es nicht auch beruhigend, dass aller Hass und alle Gewalt das Schöne, Frohe und Gute nicht auszurotten vermögen? Dass es Menschen geben wird, die in der Not zu Helden werden, Blumen, die aus Trümmern wachsen sowie Dinge und Ereignisse, die ein Lächeln auch in tränenüberströmte Gesichter zaubern?
Vielleicht, ahne ich, ist das Finden von Liebe, Licht und Schönheit zwischen den Klüften einer immer fragileren Welt auch einfach eine Art Selbstschutz, um nicht wahnsinnig zu werden. Denn in der Nacht hatte ich einen schönen Traum.

Zwar schien es mir bis früh in den Morgen unmöglich, nach all den schrecklichen Nachrichten überhaupt einzuschlafen, aber als ich letztlich doch wegdämmerte, fand ich mich auf einer Anhöhe in einem verschneiten Wald wieder. Der Wald war absolut still, aber es war keine bedrohliche Stille, sondern eine friedliche. Kaum ein Laut war zu vernehmen. Nur ab und zu das Rascheln eines Eichhörnchens, das durch die Zweige turnte, ein Rotkehlchen, das sang. Das leise Knarren schneeschwerer Äste und der gedämpfte Laut, mit dem ein Packen Schnee vom Baum zu Boden fiel. Der große Mann war bei mir, und unter uns wand sich die Straße in Serpentinen durch den schweigenden Wald, begrenzt von einem schlichten Holzgeländer vor dem Abhang, aus dem irgendwo mit silbrigem Gluckern eine Quelle sprudelte. So waren die Wälder meiner Kindheit.

Auch der Mann schweigt, und ich weiß nicht, was er denkt, denn er sieht in die Ferne. Schnee fällt in dicken weißen Flocken und schmilzt auf seinen bernsteinfarbenen Haaren, auf seiner Haut. Ich gehe zu ihm und lege einen Arm um ihn. Ein wenig hadere ich wieder damit, dass er so groß ist, weil ich, so dicht bei ihm, deswegen nur die Knöpfe seiner Jacke sehen kann und nicht sein Gesicht. Ich sähe gern, was er fühlt. Quälende Sekunden verstreichen, in denen ich nicht weiß, ob ihn die Umarmung stört, weil er sich nicht rührt, aber dann nimmt er mich ebenfalls in den Arm: Erst in einen, dann in beide. Jetzt sehe ich überhaupt nichts mehr außer dem Stoff seiner Ärmel und den Knöpfen, und es wird dunkel in seinen Armen, aber es ist kein beängstigendes Dunkel, sondern dunkle Geborgenheit. Ich vertraue ihm. Ich habe lange niemandem mehr auf diese Weise vertraut.
Der Wald ist schön. Es ist kalt, aber auch die Kälte ist nicht bedrohlich; es ist die Art von Kälte, die man genießen kann, weil man weiß, das man mit geröteten Wangen aus dieser Kälte in ein warmes Zuhause zurückkehren wird, mit Kaminfeuer, trockenen Sachen und Tee auf einem knisterndem Stövchen. Und dann sind da diese schönen, schlanken Flötistenfinger, die einem die restlichen Schneeflocken aus dem Haar streichen, und gütige, blaue Augen, die einen ansehen, als habe man auf der Welt noch nie etwas Schlechtes getan. Es ist erstaunlich, wie Liebe einen zurück in den Stand der Unschuld versetzen kann, und das Erstaunlichste ist: Es funktioniert immer wieder.
Es war der schönste Traum, den ich seit Langem hatte.

Als ich aufwache, bin ich wieder allein mit der Welt. Sofort fallen mir alle Ereignisse des Vorabends wieder ein: Da war also dieser Terror in Berlin, mit dem ich jetzt zurechtkommen muss, ohne, dass mich jemand in die Arme nähme. Warum, frage ich mich, träume ich dann so schön und friedlich, wenn diese Ereignisse doch quasi geradezu nach Albträumen schreien? Beinahe fühle ich mich deswegen schlecht. Ich würde gerne mit dem großen Mann sprechen, aber er hat genug eigene Sorgen, also lasse ich ihn in Ruhe.
Dennoch ist die Situation absurd. Wie kann man von Liebe, Schnee und Wäldern träumen, also der ganzen klischeehaften Weihnachtsromantik, wenn da draußen — in jener Stadt, die einst auch meine war — gerade jede Weihnachtsromantik aufs Brutalste zerstört wurde? Vielleicht, denke ich, ist es wirklich nur eine Art Schutzmechanismus.

Die Welt ist nicht heil, und vermutlich wird sie es auch niemals. Aber offensichtlich brauchen wir unsere eigenen kleinen, heilen Welten, um die Leiden der großen Welt zu ertragen. Einige finden darin sogar die Kraft, um diese Leiden zu lindern. Vor diesen Menschen verneige ich mich heute in tiefstem Respekt: Vor den Helferinnen und Beschützern, vor Ärzten und Polizistinnen, vor Fremden, die Fremde bargen, zudeckten und trösteten. Vor Menschen, die nicht zulassen, dass die Dunkelheit über das Licht siegt, der Hass über die Liebe.
Und ich danke allen, die auch in meinem Leben dafür sorgen, dass sich die Welt trotz all des Terrors immer noch nach Zuhause anfühlen kann: Wenn schon nicht im Großen, so doch zumindest im Kleinen.

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(Das Bild zeigt die Aussicht aus dem Berliner Haus im letzten Winter.)