Durst

Es war ein kalter, trockener Frühsommer. Die Temperaturen klammerten sich noch Ende Mai an die 10°C-Marke, obwohl die Sonne schier ununterbrochen gegen die Kälte anzuscheinen versuchte. Regen fiel, wenn überhaupt, nur in homoöpathischen Dosen, die gerade ausreichten, um die erschlafften Blüten und Blätter mit ein paar fotogenen Perlen zu benetzen. In den letzten Tagen hat sich zumindest die Trockenheit ein wenig gebessert, aber ich weiß nicht, was dieser Regen zu retten vermag. Die lang ersehnte Feuchtigkeit lockt den Duft der Kartoffelrosen und Maiglöckchen noch einmal hervor; im Morgendunst singen Nachtigallen, irgendwo verborgen im dichten Rosengestrüpp, das schon mit herbstbraunen Blättern durchsetzt ist. Daneben jedoch, als kleiner Hoffnungsschimmer, zeigt sich ganz neu ins Leben geholtes, frisches Grün, das das verdurstete, welke Laub verbirgt.
Nun steht in wenigen Tagen der meteorologische Sommeranfang bevor. Am Strand ist das längst unübersehbar: Die Saisonausstattung ist vollständig. Strandkörbe, Plankenwege, Spielgeräte, Umkleidehäuschen, Duschen, alles da. Austernfischerküken tapsen durchs Gras, die Highland-Rinder säugen zottelige Kälbchen mit honigfarbenem Fell. Durch die Salzwiesen streicht der Wind und enthüllt ihr sommerliches Farbenspiel.
Dahinter liegen die weiten Wattflächen.
Ich sehe mir das alles an und sehe es dabei doch irgendwie nicht; ich sehe diesen Sommer nur mit den Augen. Herz und Seele schweigen. Die Farbenpracht ist wunderschön und die Tierkinder sind entzückend, und ich weiß, was ich bei dem Anblick fühlen sollte, aber ich fühle nichts. Da ist wieder diese Milchglasscheibe und diese Schallschutzmatte zwischen mir und der Welt; hochgezogen von irgendeiner Leibgarde meiner Seele, über die ich nicht befehlen kann. Die Depression ist zurück.
Nun höre ich schon wieder das Geunke, wie ich denn unglücklich sein könne, denn ich hätte doch alles, allem voran eine Wohnung am Meer, aber man kann tatsächlich eine depressive Episode haben, ohne unglücklich zu sein, denn Depressionen sind nunmal eine Krankheit — und kein temporärer Gemütszustand oder gar ein Gefühl. Vielmehr gehen Depressionen mit einer Art Gefühlstaubheit einher; man ist weder traurig noch fröhlich, sondern einfach … gar nicht. Eine atmende Hülle, die nach außen hin noch eine Weile funktioniert, wie sie es trainiert hat, aber auch das ist endlich. Sonst ist da nichts. Und hinter dem Funktionsmodus nur noch Leere.
Alles ist schwer; das Leben wird zähflüssig. Man kämpft sich mit jeder Bewegung durch dicklichen Sirup, der aber nicht süß ist, sondern so farb-, geschmack- und geruchlos wie alles andere, das einen umgibt, und das man aus der Erinnerung noch lieben oder verabscheuen kann, aber in Wirklichkeit ist da gar nichts. Man kann einen Ausflug machen, um sich abzulenken, und minutenweise funktioniert das auch: Man lacht über einen Witz, bewundert einen hübschen Vogel und die zartgrünen Weizenfelder entlang der Birkenalleen. Man sieht die Schönheit: Die Felder gesäumt von schwarzgrünem Wald, die Zweige der Trauerbirken wehen im Abendwind, die roten Fachwerkhäuser stehen von der Abendsonne vergoldet in kleinen, heimeligen Ansammlungen wie alte Freunde. Grün lackierte Scheunentore mit leuchtenden Rosen davor und riesigen Rhododendren mit plüschigen Hummeln in den Blütentrichtern. Aus dem Wald ruft der Kauz; Störche klappern, aus dem Schilf am Teich quakt es. Der treue Mensch weicht nicht von meiner Seite, ist weich und warm und und liebt und lächelt unerschütterlich; baut einen warmen, weichen Kokon aus Geborgenheit. Und dennoch.
Man fällt zurück in den zähen Sirup; alles verhallt und verschwimmt und verblasst — obwohl man weiß, dass es noch da ist. Und obwohl man weiß, dass es schön ist. Wenn man sich dann dabei ertappt, dass man irgendetwas machen wollte und doch nur minutenlang vor sich hingestarrt hat; dass man tagsüber bald irre wird vor Müdigkeit und nachts doch kein Auge zubekommt, weil da zu viel ist, was einen plagt und sorgt, auch wenn die Vernunft im Hintergrund ebenso vergeblich wie ununterbrochen gegen das Plagen und Sorgen anplappert — dann weiß man, dass die Depression wieder da ist, der schwarze Hund, F 33.2. oder wie immer man das Elend nennen mag.

Depression ist ein bisschen wie diese riesige, weite Wattfläche hinter der Salzwiese, denke ich manchmal. Eine graubraune, plane Ödnis. Allerdings ohne das Glitzern der Siele, ohne all die Geräusche, die vom Leben unter dem Schlamm erzählen. Und im Gegensatz zum Watt bietet eine Depression weder Nahrung noch Lebensraum. Im Gegenteil: Depressionen laugen aus; sie saugen Farbe und Leben aus allem und beschneiden die eigene Welt auf ein Minimum an Funktionsradius. Und mit jedem Außenreiz wird es schlimmer. Dann kommen die körperlichen Symptome: Das schrille Pfeifen im Ohr, die Luftnot, die Erschöpfung, die Muskelschmerzen, der Schwindel und die Schlaflosigkeit. Danach funktioniert gar nichts mehr.
Selbstverständlich tue ich dem Watt mit diesen Vergleichen Unrecht, denn das Watt ist ein wundervolles, faszinierendes Ökosystem, in dem, genauer betrachtet, mehr los ist als auf jeder Partymeile — mit unendlich viel Leben in jedem Kubikzentimeter, mit geschäftigem Gewusel, mit Leben und Sterben, Gedeihen und Vergehen. Die vermeintliche Ödnis, die das Watt auf den ersten Blick bietet, hat ihre ganz eigene, unverwechselbare Schönheit und ist von unschätzbarem Wert.
Sicher gilt das auch für die Wüste und vielleicht sogar für die Mondlandschaft, auch wenn ich beides noch nie mit eigenem Auge gesehen habe. Insofern gibt es wohl keine Landschaft, die sich wirklich mit der Seelenlandschaft eines Depressiven vergleichen ließe, aber Betroffene und deren Angehörige wissen, was ich meine.

Leider gibt es da noch die anderen.
30% aller Deutschen halten Depressionen auch im Jahr 2022 noch für eine Charakterschwäche, las ich dieser Tage. Für einen Fall von Faulheit, von „Stell-dich-nicht-so-an“, von „Lach-mal-die-Sonne-lacht-auch“ und „andere-Menschen-haben-echte-Probleme“. Von diesen kommen dann die Kalenderweisheiten und irgendwelcher esoterischer Klimbim der Richtung „Glücklichsein ist eine Entscheidung“; letzteres entspringt vermutlich der Unsitte, dass einige Menschen umgangssprachlich von „depressiv“ reden, wenn sie lediglich „schlecht drauf“ oder „unglücklich“ meinen. Und nein, es geht auch nicht jeder depressiven Episode ein Schicksalsschlag voraus. Längere Phasen von Stress können eine solche begünstigen; traumatische Erlebnisse auch, aber letztlich springen Depressionen doch recht wahllos Menschen an: Auch schöne, erfolgreiche, glückliche. Tote Film-, Literatur- oder Sportstars sind dafür traurige Beweise. Depressionen sind eine Krankheit, mitunter tödlich. Und es muss vorbei damit sein, dass man nicht darüber reden darf. Ist es nicht vollkommen absurd, dass man für jede harmlose Erkältung Mitgefühl bekommt, sich in einer schweren depressiven Episode aber „halt einfach mal mehr bewegen“ soll? Depressive Menschen sind keine undankbaren Jammerlappen, sondern krank. Nicht mehr, nicht weniger, und in den meisten Fällen sogar behandelbar krank. Depressionen sind nicht immer komplett heilbar, aber doch kontrollierbar. Dafür gibt es Fachärzt:innen und Medikamente. Warum ich das hier erzähle, anstelle ausschließlich ein Farbe und Leichtigkeit sprühendes Glitzerbild des Inselalltags zu zeichnen? Weil es Leben retten kann, darüber zu reden. Und weil Depressionen — ja, tatsächlich — auch reisen und schwimmen können.

Hinweis:
Wer sich hier allzu sehr wiedererkennt — ich habe seit mehr als 3 Jahrzehnten Depressionen und kann die Schwere einer Episode mittlerweile halbwegs einschätzen; folglich auch rechtzeitig Hilfe in Anspruch nehmen. Wer das nicht kann: Bitte ruft lieber einmal zuviel als einmal zu wenig eine Fachärztin, einen Seelsorger, den Krisendienst, den Psychosozialen Dienst oder die Telefonseelsorge (0800-1110111) an. Auch die 116 117 hilft. Bei akuten Suizidgedanken wählt bitte den Notruf 112! Bei der Seelsorge oder dem PSD kann man sich auch als Angehörige:r von depressiven Menschen beraten lasen, Hilfe und Ohr finden. Ihr seid nicht alleine — und die Menschheit besteht tatsächlich nicht nur aus den rohen, unzivilisierten, schadenfrohen und gehässigen Arschlöchern, die unter Artikel über Depressionen und Suizide dämliche Lachsmileys pappen. Da draußen ist auch eine Menge Licht — Immer noch. Alles Liebe!

Winterliebe

Es ist ein traumhaft schöner Wintertag. Nach einem eher unsanften Auftakt mit heftigem Schneefall, steingrauem Himmel und rabiaten Windböen, zeigt sich die verschneite Insel nun in voller Pracht. Der Schneefall ist zum Erliegen gekommen; das Grau am Himmel ist einem satten, leuchtenden Blau gewichen, durch das nur noch vereinzelt Wolken treiben. Die Müdigkeit der vielen dunklen Tage sitzt mir noch in den Knochen, und ohne berufliche Verpflichtungen hätte ich mich an diesem Tage wohl kaum weit vor die Tür begeben. Doch nun mache ich mich auf zum Hafen, ein Auftrag wartet. Ich hefte die Augen fest auf die Straße, um nicht hinzufallen, und halte immer wieder an, um mir den Winterzauber rechts und links des Weges anzusehen. Nur gedämpft hört man das Schnattern der Graugänse auf den Weiden; sie haben sich in die Nähe schützender Sträucher und Gebäude zurückgezogen.
Ein großer Greifvogel gleitet über mich hinweg; ich kann noch sein dunkelbraunes Gefieder erkennen; vermutlich ein Mäusebussard. Der Greif lässt sich auf einem hohen Baum nieder und späht von diesem Ansitz aus nach Beute.
Je mehr ich mich Hafen und Seedeich nähere, umso mehr Stimmen dringen an mein Ohr: Stimmen, bei denen sich mein Herz öffnet. Ich höre das Trillern von Austernfischern, die wehmütigen Laute Großer Brachvögel, das Piepsen der niedlichen Sanderlinge, dazu Entengeschnatter und natürlich: Möwen. Aus den Bäumen melden sich Rotkehlchen und Meisen; eine Drossel labt sich an letzten Hagebutten.
Die nackten Zweige der Bäume erheben sich majestätisch in den Himmel, der sich am späten Nachmittag schon in Rosé und Apricot färbt. Aber die Sonne hat noch Kraft; ich öffne meine Jacke und lasse mich von Licht und Vogellauten beschenken.
Liebe erfüllt mich: Zu dieser wunderbaren Natur, zu diesem Tag, zu diesem Leben. Und auch in die Insel verliebe ich mich wieder neu, als wäre es nicht schon mein achtes Jahr hier. Beinahe fühle ich wieder die Anfangseuphorie von 2014, als ich in jeder freie Minute in die Natur radelte und dabei jede Farbe, jede Pflanze, jedes Tier mit einer Innigkeit ins Herz schloss, als würden sie mir tags darauf wieder fortgenommen. Nun war bis zu meiner Insel-Ankunft mein Leben auch nicht durch Beständigkeit ausgezeichnet, und so war diese Verlustangst und dieses Gefühl von „Mitnehmen, was geht, solange es nur geht“ vermutlich nur natürlich. Auch heute möchte ich die Insel freilich nicht hergeben, aber es sind mir doch einige Ängste genommen: Die Wohnung ist fest und auch beruflich fühle ich mich endlich angekommen und angenommen. Die Kirche gibt meiner Seele Halt. Es ist ein gutes Leben.

Ich stelle mein Fahrrad in der Nähe des Zugangs zur Deichkrone ab. Das Schloss benutze ich nicht, denn außer mir, Hunderten von Vögeln und ein paar anderen Tieren ist hier niemand. Ich setze meine Fußspur in die eines Feldhasen, der scheinbar ordnungsgemäß den schmalen Weg auf dem Deich entlanggehoppelt ist, ohne auch nur den kleinsten Haken zu schlagen. Doch lange kann ich seine Spur ohnehin nicht verfolgen, weil ich den Blick nicht mehr senken kann: Vor mir breitet sich das Paradies. Zuletzt sah ich Deich, Watt und Salzwiese irgendwann im Herbst aus dieser Richtung. Im Schnee war ich tatsächlich noch nicht hier. Und nun liegt dieser atemberaubend schöne Teil Langeoogs in so traumhaften Farben vor mir, dass ich mich automatisch in die Tundra oder ins sommerliche Spitzbergen versetzt fühle. Tatsächlich erstreckt sich das Weiß des Schnees nicht über die gesamte Landschaft. Ein bisschen grünes Deichgras ist zu sehen, dazwischen die warmen Gelb- und Rottöne der Salzwiese; das tiefe Blau des Meeres und das Graubraun der Schlickflächen. Im Hintergrund erhebt sich die Dünenkette Richtung Ostende; mit ihrer Schneehaube sieht sie aus wie ein stattliches Gebirge. Alles, was in den letzten Tagen, Monaten, Jahren anstrengend und hässlich war auf der Insel, fällt von mir ab, und ich spüre, dass ich diese Euphorie des Frischverliebtseins lange vermisst habe. Ein Verliebtsein, das die Neugier mit sich bringt, immer mehr Facetten am Gegenüber entdecken zu wollen, von denen dann eine schöner als die andere zu Leuchten beginnt. Ich habe das 2014er-Langeooggefühl vermisst. Und nun ist es zurück, als sich die Insel mir an diesem Tage noch einmal ganz neu zeigt.

„Dein Bild in der Hand, träum’ ich vom Schnee / Und nichts tut mehr weh“, singt Ulla Meinecke in dem Lied „Hafencafé“, und ich muss unwillkürlich Lächeln, als mir diese Liedzeile einfällt. Nicht nur, weil sie mich tatsächlich an eine alte Schwärmerei erinnerte — an jemanden, in den ich mich einst während eines Winterurlaubs verguckte und der mir damit sehr über eine andere, äußerst schmerzhafte Erfahrung hinweghalf — sondern auch, weil ich wusste, dass diese Zeile mir auch künftig helfen würde.
Denn immer, wenn mir das Inselleben eine hässliche Seite enthüllen würde — zwischenmenschlichen Unrat oder sonst etwas Gärendes und Faules — würde ich ab jetzt an diesen Satz und an diesen Tag denken. An diesen Anblick. An den schneebedeckten Deich mit der Hasenspur, an die wundervollen Tundra-Farben, an die Sonnenwärme und ans glitzernd vereiste Watt. Und die Rufe der Brachvögel würden mir sagen, dass alles gut wird. Weil alles gut ist.

Wattlesung und Kirchenführung mit NDR

Moin,

am 5. August (Montag) findet nochmals eine Lesung im Watt mit mir und Joke statt. Der NDR begleitet uns. Bitte unbedingt anmelden! Der Natur zuliebe ist die Zahl der Teilnehmenden strikt begrenzt. Anmeldungen bitte nicht bei mir, sondern im Rathaus/Tourist Information. 15€/Erw. Teilnahme unter 12 Jahren nicht empfohlen. Dauer ca. 2 Stunden, los geht es um 19:00 Uhr am Deichschart.

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Vorher begleitet der NDR auch meine Kirchenführung, und zwar am Samstag, 20. Juli. Anmeldung ist hier nicht nötig: Wenn voll, dann voll.
Bei beiden Terminen sollte man damit einverstanden sein, dass Dreharbeiten stattfinden und man selbst eventuell im Bild ist! Das gilt auch für mitgebrachte Minderjährige (Einverständniserklärung der Erziehungsberechtigten muss vorliegen). 

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Danke für eine wunderbare Lesung

Spät, aber nicht minder von Herzen möchte ich hier noch kurz Bericht erstatten:

Die Lesung im Rahmen der Exkursion „Magisches Wattenmeer“ von und mit Joke Pouliart vom Wattwanderzentrum Ostfriesland in Harlesiel, begleitet vom NDR, war schlichtweg grandios.

Aufmerksames, dankbares Publikum und ein Setting, wie es schöner nicht hätte sein können. Einen ausführlichen Bericht findet man ab Montag, 1. Juli, im brandneuen Langeoog News Monatsmagazin, das an diesem Tage erstmals erscheint. Ein Prosatext von mir ist auch dabei.

Der Sendetermin steht noch nicht fest. Anbei ein paar Impressionen:

(Die Fotos von mir machte LN-Leser Torsten Hebgen, die Landschaftsbilder sind meine.)

 

 

Montag Lesung mit Watt und NDR

Moin zusammen,

im Rahmen der wundervollen Naturexkursion „Magisches Watt“ von und mit Joke Pouliart vom Wattwanderzentrum Ostfriesland darf ich irgendwo zwischen Watt und Salzwiese meine Geschichten lesen.

Themen sind die Nacht, Mond und Sterne, das einzigartige Weltnaturerbe Wattenmeer — und die Liebe. Joke, zertifizierter Nationalpark-Guide, wird über das mitunter rustikale Liebesleben im Tierreich berichten; unsereiner nimmt sich die eher romantischen Aspekte und das Menschliche vor.

Es wird aus meinen Büchern vorgetragen, aber auch bislang unveröffentlichtes Material ist dabei.

Der NDR begleitet uns und wird alles filmen! Kontext und Sendetermin gebe ich noch bekannt.

Die Tour findet am Montag, 17. Juni statt. Treffpunkt: Deichschart. 20:30 Uhr geht es los, bitte frühzeitig da sein und warm anziehen: Im Watt ist es frisch.

Wer noch teilnehmen möchte, findet alle Infos über den Link:

https://www.langeoognews.de/langeoog-aktuell/aktuelles/magisches-wattenmeer-mit-ndr-und-lesung/

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Momentaufnahme, Lichtpunkte

Niemand hat die mystische Stimmung im Wattenmeer mit all dem Leben darin wohl schöner beschrieben als Theodor Storm in seinem Gedicht „Meeresstrand“, von dem hier nur zwei Strophen wiedergegeben werden sollen:

„Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer

Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton
Einsames Vogelrufen —
So war es immer schon.“

(Th. Storm, 1817-1888)

All die geheimnisvollen Laute, das Brodeln, Zischen und Flüstern verwandeln Watt und Salzwiese schon am Tage in eine Wunderwelt — für den, der innehält. Wo anfangs nichts als Stille zu sein scheint; nichts, als endlose Weite von wogendem Gras, Strandnelken und der glänzenden graubraunen Schlickflächen, zeigt sich dem Wandernden schnell die ganze Fülle der Schöpfung.
Wie sehr aber potenziert sich dieses Erleben erst bei Nacht?

Ich war noch nie nachts im Watt, als nicht-lebensmüder Mensch ohne kompetente Begleitung sollte man das auch tunlichst unterlassen, aber bereits ein später Abendspaziergang entlang des alten Sommerdeiches zeigt, was dieses erstaunliche Stück Natur erst im Dunkeln offenbart.

Viele Menschen haben Angst im Dunkeln: Vor allem Kinder, aber auch noch viele Erwachsene. Evolutionär erklärt sich das leicht. Der Mensch sieht im Dunkeln schlecht und ist insbesondere im Schlaf hilflos. Umso mehr schärft die Nacht dann die anderen Sinne, damit man dennoch zügig vor Gefahr gewarnt ist. Und so kommt es, dass einige beim kleinsten Geräusch, das sie tagsüber nicht bedrohlich fänden oder bei einem fremden Geruch, den sie im Hellen nicht einmal wahrnähmen, aufschrecken: Manchmal sogar in Panik.
Hinzu kommen die Geräusche der nachtaktiven Tiere: Der Schrei einer Eule. Das Flügelschlagen umherflitzender Fledermäuse. Und wer jemals einen Fuchs nachts schreien hörte, weiß, was wirklich gruselig ist.
Auch der Wind, der das leichte Holz der Holunderbüsche zum Knarren und Seufzen bringt, kann mitunter unheimlich klingen, ebenso wie der Gardinensaum, den ein Luftzug über den Boden schleift.

Wie beruhigend ist es dann, dass die Nacht auch Phänomene kennt, welche die Dunkelheit erträglicher machen und im Wortsinne Lichtpunkte setzen, die uns Halt und Orientierung geben.
„Der Mond ist aufgegangen / die goldnen Sternlein prangen / am Himmel klar und schön.“ — Wer kennt es nicht, dieses wunderbare Wiegenlied von Matthias Claudius (1740-1815)? Ich erinnere, dass ich als Kind eine Spieluhr hatte, in Form eines Plüschmondes. Sie spielte dieses Lied, und ich liebte sie sehr.

Kultur- und Epochenübergreifend liebten die Menschen Mond und Sterne, teils fürchteten sie diese aber auch: Vor allem den Vollmond, der in den Legenden so allerlei dämonische Kreatur zum Leben erweckte und Menschen in den Wahnsinn trieb. Fast alle Kulturen kannten Mondgottheiten, die sie verehrten: Vor allem für Fruchtbarkeit und gute Ernten, denn in den meisten Sprachräumen ist der Mond weiblich konnotiert. Viele Jahrtausende lang bestimmte der Mondkalender die Zeit.

Auch auf Langeoog kann man sich der Faszination „Vollmond“ kaum entziehen. Oft erscheint er hier sehr hell und riesig, sodass die ganze Landschaft wie in ein Silberbad getaucht wirkt. Bäume und Dünengras werfen ihre nachtblauen Schatten in die Stille, während die Windräder auf dem Festland gegenüber rot in den Himmel blinken.

Der Neumondhimmel auf Langeoog dagegen ist, fern jeder Lichtverschmutzung, tintenschwarz. Umso prächtiger sieht man dann dort die Sterne.
Ich denke an einen Menschen, der mir sehr lieb geworden ist. Sein Gesicht zieren viele kleine Leberflecke. Ich weiß nicht, ob sie ihn stören, aber ich finde diese Flecken schön, denn auch sie erinnern mich an den Sternenhimmel. Sofern ich den Blick von seinen klugen Augen abwenden kann, sehe ich mir gerne jeden einzelnen davon an. Manchmal verbinde ich sie dabei zu imaginären Sternbildern: Von der Nase über seine schmalen Wangen bis zum Ohr und hinab zu den schönen, weich konturierten Lippen. Sogar am unteren Wimpernkranz hat er ein solches Pigmentmal, das einer Träne ähnelt und ihm immer etwas Melancholisches verleiht, obwohl er oft lächelt. Und wenn er lacht, tanzen die Sterne.
Ich sehe ihn vor mir, in seinem Garten neben einem uralten Rosenstock, und denke, dass beide so etwas Schönes, Ewiges und Stilles an sich haben: Der beharrlich blühende Rosenstock, dieser Mann mit seiner sanften Intellektualität — und auch unser Wattenmeer.

„Du bist wie Watt und Salzwiese“ ist wohl nichts, was man sofort als Kompliment einstufen würde, aber bei mir ist es das. Und „Du bist wie der Himmel über dem Watt bei Nacht“ wäre dann wohl die Steigerungsform davon.

 

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