Gewöhnung

Nun also: Weihnachten. „Noch in keinem Jahr habe ich mich so wenig weihnachtlich gefühlt wie in diesem“, klage ich einem Freund, und er stimmt mir zu. „Das geht mir genauso“, sagt er, „es ist der 22. Dezember und ich habe noch nichts geschmückt, noch kein einziges Weihnachtslied gehört und bin einfach so gar nicht in Stimmung.“ Lange rätseln wir, woran das liegen könnte. Ist es wieder einmal das Phänomen, dass dieses zweite Pandemie-Jahr nur so dahinzurasen scheint, obwohl zugleich doch so viel Stillstand herrscht? Ist es diese Unplanbarkeit der Dinge, die jede Vorfreude lähmt, weil man nicht weiß, welche der unzähligen Regeln in diesem Kleckerkram deutscher Pandemiebewältigung am Tag X gerade gelten werden? Auch den Freund sähe ich gerne wieder, aber er lebt in Schweden, und wer weiß, ob ich zum fraglichen Zeitpunkt aus meinem Land gelassen werden oder in seins hinein. Oder umgekehrt? „Quarantäne kann ich mir nicht leisten“, sagt die Freundin, und ich mir auch nicht — schon gar nicht im teuren Schweden, dem sein Sonderweg letztlich auch herzlich wenig gebracht hat.
Und so trauen wir uns nicht einmal, die Flüge zu buchen: Zum Freund fliegt zunächst wohl nur unser Traum von unbeschwerter Zeit, warmen Zimtschnecken und winterlichem Stockholm-Zauber.

Nun also: Weihnachten. An Corona hat man sich mittlerweile gewöhnt; in den Jackentaschen stecken FFP2-Masken und Impfnachweis inzwischen so selbstverständlich wie Taschentücher, Portemonnaie und Schlüsselbund. Meine eigenen Impfungen und die meiner Liebsten haben mir einige Ängste vor der Krankheit genommen, und dennoch schwingt eine unterschwellige Ablehnung dem gegenüber mit: Gewöhnen ist grundsätzlich gut, aber will ich das in diesem Fall überhaupt? Will ich, dass die Pandemie sich einfach so in meinem Leben einnistet wie eine weitere lästige Pflichtübung, gleich neben Abwasch, Müllraustragen und Steuererklärung? Ich glaube nicht. Und so bleiben wohl nur die kleinen Alltagsfluchten in vorpandemische Zeiten, in Traditionen und Kindheitserrinerungen. Wie eben: Weihnachten.

Bei der Freundin duftet es nach Vanille; ein Klumpen Keksteig wartet auf unserer Hände Arbeit, um sich nach und nach in duftende Bleche voller Gebäck zu verwandeln, an denen wir uns wenig später hemmungslos überfressen haben werden. Ebenso wie an Ente, Klößen und Rotkohl. Wir machen uns schick für eine halbleere Kirche und füreinander, die Eltern sind geografisch fern, aber im Herzen zugegen. Es ist ein Klammern an diese heimeligen Momente der Idylle in dieser durchorganisierten und -technisierten neuen Corona-Welt. Apps und Bürokratiedeutsch, Testzentrumsöffnungszeiten, Statistiken, Erlasse.
Die neuen Ohrringe der Freundin glitzern im Kerzenlicht, ich streiche bewundernd über das samtige Veloursarmband der Uhr, die sie mir schenkte. Tags darauf sieht die Küche aus, als sei ein Rudel Wölfe dort eingefallen; Entengerippe, Fettpfannen, zerfetztes Papier, dazwischen der Hund, der bei uns Weihnachtsasyl fand. Wir braten die Klöße des Vortags; auch das gehört dazu, zu einem Weihnachten wie ich es von früher kenne, also gefühlt von vor hundert Jahren. Das ursprünglich als romantisch geplante, traditionelle gemeinsame Filmgucken spoilert ein furzender Hund, es stinkt zum Gotterbarmen. Aber auch diese kleinen Malheurs gehören zu Weihnachten, zu einem Weihnachten, als es das große Malheur drumherum noch nicht gab.

Zwischendurch gibt es noch Arbeit, denn der berühmte Spruch „Arbeiten, wo andere Urlaub machen“ bedeutet eben auch, dass man dann arbeitet, wenn andere Urlaub machen. Immerhin, zumindest das Wetter wird wohl im Gedächtnis bleiben von diesem Christfest 2021, denn die Sonne strahlt mit Kerzen und Kinderaugen um die Wette; es könnte kaum schöner sein. Dankbar nehmen wir auch davon mit, was geht, und dann — ist Weihnachten schon wieder vorbei.
Vorbeigerast, als habe man nur eben ein Fotoalbum durchgeblättert; in der Keksdose liegen noch ein paar Krümel, das Jahr hat noch vier Tage.

Ich kann kaum glauben, dass es tatsächlich schon das dritte Pandemie-Jahr ist, in das wir gehen. Wie jedes Jahr, kann ich nur beten, dass mir 2022 keine lieben Menschen genommen werden, das ich im Idealfall selbst nicht sterbe und auch sonst nichts Existenzbedrohendes über uns hineinbricht. Ansonsten bleibt uns nur das Aus- und Durchhalten, wie in den Vorjahren auch. Und ein bisschen erschreckt mich, wie sehr ich mich auch schon daran gewöhnt habe.

Gesegnete Festtage!

Auf den letzten Metern des 2. Weihnachtstages möchte ich meinen Leserinnen und Lesern noch ein gesegnetes, friedliches und frohes Fest wünschen. Denen, für die dieses Weihnachtsfest kein schönes ist, weil sie liebe Menschen verloren haben oder Weihnachten eher mit unguten Gefühlen und Erinnerungen verbinden, wünsche ich Trost und Kraft und eine Quelle für Licht und Hoffnung, wer oder was immer das sein mag. Allen ohne christliches Bekenntnis wünsche ich eine erholsame freie Zeit! Kommt/kommen Sie gut und gesund ins neue Jahr!
Herzliche Grüße
Mayk Opiolla (mit Angelique)

Kleine Welt

„Kleine Welt“ nennen wir es hier in Norddeutschland, wenn Nebel das Land verhüllt und die Fernsicht auf wenige Meter zusammengeschnürt wurde. Im Winter gibt es viele neblige Morgen auf Langeoog, die oft in überraschend klare, strahlende Tage münden. Vom zuweilen enervierenden Tuten des Nebelhorns an der Mole einmal abgesehen, mag ich diese Morgen, an denen sich alles Vertraute nur noch erahnen lässt und sich weiße Bänder dichten Nebels durch einsame Dünentäler weben. Schön ist es, wenn die Sonne, die man anfangs nur in pastellig-verwaschenen Tönen hinter den Wolken erkennt, dann plötzlich hervorbricht und die feuchtglänzende Vegetation vergoldet. Dann vergrößert sich auch die „kleine Welt“ wieder und man kann das vormals verhüllte ganz neu betrachten.

Für manche Menschen hat der Begriff „kleine Welt“ vermutlich auch etwas Klaustrophobisches; zumal in Zeiten der Pandemie. Wenn es nicht mehr um die Frage geht, ob man reisen will, sondern ob man es darf oder ob man es soll. Unter diesem Aspekt ist die Insel aktuell auch ohne Nebel eine kleine Welt, denn verantwortungsbewusste Zweitwohnungsbesitzer kommen zurzeit nicht her — und andere Gäste dürfen es nicht. Es herrscht, von ein paar (erlaubten) Verwandten auf Festtagsbesuch und einsichtsbefreiten BesucherInnen abgesehen, noch immer „Insulaner unner sück“ auf Langeoog — und das sogar an Weihnachten. Normalerweise wäre jetzt Hauptsaison; Hotels und Restaurants würden aus allen Nähten platzen, ebenso wie sämtliche Ferienwohnungen und überhaupt jedes vermietbare Mauseloch.
Ich empfinde glücklicherweise keine Beengung durch die Unmöglichkeit des Reisens, obwohl ich meine Eltern zweifelsohne auch gerne gesehen hätte. Denn ebenso zweifelsohne bin ich durch meinen Erstwohnsitz gesegnet: Angesichts der Weite des menschenleeren Strandes, der See und des sternenübersääten Winterhimmels ist es zumindest mir nahezu unmöglich, mich hier auf irgendeine Weise eingesperrt zu fühlen. Und die ungewohnte Stille hat gerade jetzt, an Weihnachten, eine ganz eigene Magie.

„Ich bin so froh, dass du jetzt jemanden bei dir hast“, sagt meine Mutter am Telefon, und natürlich freut es mich ebenfalls, meine Freundin an den Festtagen bei mir zu haben, die in ihrem eleganten Winterwollkleid wunderschön aussieht.
Aber es wäre nicht schlimm, allein zu sein. Es war all die Jahre für mich nicht schlimm; da war keine menschenförmige Lücke neben mir, die nur danach schrie, mit einem Partner, einer Partnerin besetzt zu werden. Da waren die Heilige Familie und ich, da war das Jesuskind in seiner Krippe, da war der immerwiederkehrende Zauber der Weihnacht. Und, zugegeben, es lauerte in „normalen“ Jahren sowieso immer ein Haufen Arbeit, weil den mein Beruf gerade zu Festzeiten nun einmal mit sich bringt. Wie hätte da Einsamkeit aufkommen können?

Immer wieder denke ich darüber nach, warum es für einige Menschen so ein Tabu ist, an Weihnachten allein zu sein; mitunter an ein Stigma grenzend. Als dürfe man an sämtlichen Tagen im Jahr alleine sein, aber müsse sich doch bitte zumindest an Weihnachten (hinzugenommen: Silvester, Geburtstag) zwingend vergesellschaften, mit wem auch immer. Ich kann dazu nur sagen, dass ich alleine nie einsam war; unter Menschen, mit denen ich mich nicht wohlfühlte, aber sehr. Und in unglücklichen Beziehungen erst Recht.
In diesem Jahr sind vermutlich mehr Menschen an Weihnachten alleine als sonst. Ein lieber Freund ist in Quarantäne; ihn erwischte der Virus pünktlich zum Fest. Wer keine Familie in der Nähe und kein Auto hat, vermeidet ebenso die Reise; allein der öffentlichen Verkehrsmittel wegen. Vielleicht, denke ich, ist das eine der wenigen positiven Begleiterscheinungen der Pandemie: Mehr Leute als sonst werden aus eigener Erfahrung wissen, dass man es überlebt, an Weihnachten alleine zu sein. Und dass es sich durchaus lohnt, auch für sich alleine etwas Feines zu kochen oder sich einfach einmal selbst(!) Zeit zu schenken. Zeit, von der man (ohne die aktuelle Zwangsentschleunigung durch die Pandemie) doch eigentlich immer zu wenig hatte. Freie, unverplante Zeit: Ist das nicht eines der kostbarsten Luxusgüter dieser Tage?
Man kann es sich schön einrichten in seiner kleinen Welt. Und, sobald sich der Nebel gelichtet hat, umso mehr über die Wunder der großen staunen.

Aber ich blende das Leid nicht aus. Es gibt Menschen, die sich jetzt wirklich einsam fühlen. Deren Liebste in Krankenhäusern um ihr Leben ringen oder die bereits gestorben sind. Oder die sich gerne mit anderen Menschen umgeben würden, dies aber aufgrund der Pandemie jetzt nicht können oder einfach, weil sie niemanden haben. Freunde wachsen nicht auf den Bäumen, und es ist nicht immer gerade dann jemand da, wenn man jemanden bräuchte. Oft sind nämlich genau dann gerade alle weg: Ich kenne das. Ich kenne jede Ausprägung von Alleinsein, und ich werde das auch nicht vergessen, nur weil da jetzt wieder jemand ist, der seine kleine Welt an meine anzuknüpfen wagt: Mit einer romantischen Schnittmenge, aber noch immer genügend Freiraum zu beiden Seiten — Anders ginge es für mich auch nicht.

Aber natürlich weiß ich zu würdigen, dass es meine Eltern freut, mich von jemandem geliebt zu wissen, ob nun an Weihnachten oder wann auch immer. Denn irgendwann müssen sie den Staffelstab des Liebens auf dieser Erde ja weiterreichen, das wissen wir alle — leider.
Nicht zuletzt darum wünsche ich mir, obwohl ich die Stille und Reduktion dieser Weihnacht auch sehr zu schätzen weiß, dass sich die kleine Welt in Kürze vielleicht doch wieder ein wenig weitet: Dass man sich sehen kann, wenn es das Herz befiehlt; und nicht nur dann, wenn es gerade erlaubt ist. Die Zeit auf Erden ist begrenzt: Auch das bekommen wir gerade recht deutlich aufs Butterbrot (respektive die Scheibe Christstollen) geschmiert.
Immerhin, denke ich, den Blick auf die Krippe gerichtet, reicht die Pandemie nicht bis in den Himmel.
Deo gratias.

Adventsleuchten

Im Fährhaus sitzt ein Mann mit einem Dinosaurier im Arm. Es ist ein großer Plüschdinosaurier, der aus aufgestickten blauen Augen in die Kälte der leeren Halle lächelt. Vermutlich wartet der Mann hier auf seine Familie, oder er hat den Saurier als Geschenk gekauft und bringt ihn jetzt heim zu seinen Lieben. Weihnachten naht: Das Fest, das man so sehr mit Wärme verbindet, mit Zusammensein, mit Geborgenheit und Freude. Das Fest, an dem man weiche Plüschtiere in erwartungsvoll ausgestreckte Ärmchen drückt, ohne sich dabei um Abstand und Infektionsrisiken Gedanken zu machen. Dieses Jahr wird Weihnachten anders sein.
Langeoog befindet sich inmitten des zweiten Lockdowns; die Infektionszahlen sind bundesweit furchterregend. In anderen Jahren wäre der Advent am Anleger längst spürbar gewesen. Aufgeregte Familien mit großen Taschen voller Pakete. Leuchtende Dekorationen, leuchtende Augen. Menschen, die die klammen Finger an Heißgetränken in der Fährhaus-Gastronomie wärmen und selig aufs dunkle Wasser schauen; die Konturen der Insel bereits erahnend.
Jetzt aber hat die Gastronomie geschlossen. Der Zugang zum Restaurant ist abgesperrt mit Stühlen und Barrikaden. Es ist ungemütlich. Durch die zum Lüften geöffnete Tür ziehen die Nikotinschwaden der Rauchergruppen; feuchte Kälte im Geleit.
Von Urlaubsstimmung ist nichts zu spüren, was aber nicht weiter verwundert: Schließlich sind gar keine Touristen da. Abgesehen von Tagesgästen, ArbeiterInnen und Zweitwohnungsbesitzenden sind die Inselbewohnenden ein zweites Mal in diesem Jahr unter sich.
Der Mann mit dem Saurier hat nun auch seine Frau wiedergefunden. Sie trägt eine große Tasche mit Einkäufen. Beide schauen müde aus ihren gefütterten Krägen und verziehen sich schnell zum Ausruhen unter Deck.
Die meisten hier kennen sich; geredet wird dennoch nicht viel. Die Monitore mit den Reiseinformationen sind ausgeblendet, aber immerhin der Bordkiosk hat geöffnet.
Ich blicke dankbar in einen heißen Becher mit Kaffee, den mir ein unbeirrt freundlicher Mitarbeiter der Schifffahrt über seinen Tresen schiebt. Die sanften Schiffsbewegungen lassen die dunkle Oberfläche erzittern, in der sich die Deckenlampen spiegeln.

Licht. Auch dafür steht Weihnachten, denke ich: Licht. Und zum Glück gibt es auch noch etliche Geschäftstreibende und Privatleute auf Langeoog, die ihre Weihnachtsdeko nicht nur für die Gäste herauskramen, sondern auch für ihre MitinsulanerInnen. Und für sich selbst vermutlich. Auf diese Weise büßt die Insel zumindest optisch nicht viel vom gewohnten vorweihnachtlichen Glanz ein. Irgendeine gute Seele hat sogar die als Solitär wachsende Tanne unweit des Dünenfriedhofs geschmückt — eine Geste, die mich auf eigenartige Weise tief berührte. Auch ich habe meinen Balkon illuminiert, obwohl in meinem Viertel zurzeit so gut wie niemand wohnt. Aber ich mag es, wenn mich die warmen Lichter beim Heimkommen begrüßen und ich mag das warmweiße Flimmern, das ich von innen durch das Balkonfenster sehen kann.

Die Tage sind kurz. Nach einem grauverregneten Tag hat es zum Sonnenuntergang hin noch einmal aufgeklart. Ich nehme die Freundin mit zum Strand und wir beobachten, wie der Himmel zu glühen beginnt. Wie ein Fingerzeig Gottes dringen goldene Sonnenstrahlen zur Erde und zum Meer. Die Strahlen quellen aus bedrohlich-dunklen Wolken, und ich denke, dass man den Sieg des Lichts über die Dunkelheit nicht schöner illustrieren könnte. Jetzt spiegelt sich die Farbe des Abendhimmels auch in den Prielen und in den nassglänzenden Flächen am Flutsaum. Ein einzelner Sanderling flitzt emsig darin hin- und her. Wir wundern uns darüber, weil die kleinen Vögelchen, die nicht grundlos auf Plattdüütsch „Keen Tied“ heißen, sonst immer in Gruppen auftreten. Aber es sind weit und breit keine anderen Sanderlinge zu sehen. „Guck mal, der macht auch social distancing“, sage ich zur Freundin. Es sind seltsame Zeiten. Und ich bin froh, dass da noch jemand ist, dem ich nah sein darf.

In anderen Zeiten hätte man sich jetzt schon gnadenlos an Spekulatius überfressen. In anderen Zeiten hätte ich dienstlich schon so viele Adventsfeiern besuchen müssen, dass ich mich nach einer Stillen Nacht gesehnt hätte. In anderen Zeiten wäre die Kirche so voll gewesen wie die Leute am Glühweinstand und Scharen von Kindern hätten sich dem als Nikolaus verkleideten Kurpriester begeistert ans Gewand gehängt.
In diesem Jahr aber kam sogar ich in den Genuss eines Schokoladen-Bischofs, weil so wenig Kinder da waren, dass der Nikolausdarsteller auch für alle Erwachsenen noch etwas aus dem Sack kramte.
Der Glühweinstand ist verboten wie der Rest an Gastronomie auch. Mancherorts kann man noch Essen mitnehmen. Alles andere geschieht im Privaten. Das öffentliche Leben pausiert.

Zweifelsohne sind all diese Maßnahmen gut und richtig, und es gibt keinen Tag, an dem ich nicht Gott dafür danke, bisher von dem Virus verschont geblieben zu sein. Auch meine Eltern sind nicht erkrankt; ebensowenig wie die Liebste. Aber ich weiß, dass das nicht selbstverständlich ist: Die Einschläge kommen näher; im Freundeskreis gibt es Tote zu beweinen. Ein liebgewordener Bekannter liegt auf der Intensivstation.

Nun mag es schwer erscheinen, in all diesem Leid, in dieser Dunkelheit und dieser Vereinzelung noch Weihnachten zu finden. Freilich, da ist der Adventskranz auf dem Tisch. Da ist die Pastoralreferentin, die schön und klar von der Menschwerdung Christi singt. Da sind die Kerzen und Lichter, die trotz allem an Fenstern und Fassaden drapiert wurden, obwohl sie meistenteils leere Straßen beleuchten. Da sind die in Tüten und Kartons bereitstehenden Geschenke, die bunten Papierrollen und glänzenden Bänder, die festlichen Weihnachtskarten. Und plötzlich frage ich mich, ob genau darin eigentlich nicht noch mehr Weihnachten liegt als sonst.
Denn beinhaltet die Adventszeit nicht die Aussicht auf Erlösung? Die freudige Erwartung besserer Zeiten? Ist der Advent, ist Weihnachten nicht pure, wärmende, wundervolle Hoffnung?
Und Hoffnung gibt es.
Denn auch im Pandemiegeschehen tut sich etwas: Ein Impfstoff ist in Kürze verfügbar; erste Impfzentren werden eingerichtet. Vielleicht naht also auch hier die Erlösung. Vielleicht können wir also auch hier bald besseren Zeiten entgegengehen. Und vielleicht tun wir das sogar mit demütigeren, dankbareren Herzen als zuvor. Weil uns genau das Weihnachten, was so anders war, gezeigt hat, was Weihnachten eigentlich ist.
Und selbst wenn man diese wahrlich frohe Botschaft außer Acht ließe — ist es nicht allein schon tröstlich, dass auch in diesem Jahr Weihnachten ist? Eine herzwärmende Konstante, deren Flamme keine Pandemie, kein Krieg, kein persönliches Leid vernichten kann. Weihnachten ist. Und Weihnachten wird sein.

Absurderweise wird ausgerechnet im Pandemiejahr das erste Weihnachtsfest seit Langem sein, das ich nicht alleine verbringe. Gottes Humor in dieser Angelegenheit verstehe ich zwar manchmal immer noch nicht ganz, aber sicher ist, dass sie ein großes Geschenk war — und noch immer ist mir die Liebe ein tägliches kleines Wunder.
Am späten Abend mache ich mich auf zur Freundin. In nur wenigen Häusern brennt noch Licht; auch die raren Straßenlaternen vermögen kaum die Wege zu erhellen. Vor meiner Fahrradlampe tanzen erste Schneeflöckchen. In einem Baum hat sich ein Schwarm Finken zum Schlafen niedergelassen. Mit ihrem aufgeplusterten Gefieder sitzen sie in den kahlen Zweigen wie Christbaumkugeln. Und am Ende der Straße ist jemand, der auf mich wartet.

Momentaufnahme, Ende

Nach einem sehr warmen Dezember hat nun der Winter Einzug gehalten auf Langeoog. Das Jahr hat nur noch wenige Tage. Die Nacht umrahmt ein so prachtvoller Sternenhimmel, wie ihn nur winterliche Inseldunkelheit hervorbringt. Ich stehe am Fahrrad und kratze Eis vom Sattel; das erste Mal in diesem Jahr. Ich weiß nicht, wo die letzten Wochen, der ganze letzte Monat geblieben sind. Selbst Weihnachten passierte dergestalt nebenbei, wie es eigentlich nicht passieren sollte. Es gab unzählige Adventsfeiern und -veranstaltungen, die ich dienstlich besuchte; dazu die ein oder andere dem Tag abgerungene Werktagsmesse; an den Sonntagen konnte ich nicht. Am ersten Weihnachtstag war frei. Ich erinnere mich an einen wohligen Kokon aus Nichtsmüssen, in Ruhe gekochtem Essen und nochmaliger Lektüre unzähliger Postkarten und Briefe, die mich in den Tagen zuvor erreicht hatten; soviel Liebe zwischen den Zeilen. Und dann war auch das Fest schon wieder vorbei.

Für viele meiner Freundinnen und Freunde oder Menschen im weiteren Bekanntenkreis war es kein frohes Fest. Sehr viele Elternteile verstarben dieses Jahr oder erkrankten schwer; teils wurden auch junge Menschen aus dem Leben gerissen. Langjährig treue Haustiere mussten für immer verabschiedet werden. Es wurde sich zerstritten oder getrennt, Babys wurden verloren und Arbeitsplätze. Dann sah man diese Menschen an, um deren Schicksal man wusste, und ahnte die Tapferkeit, die sie aufbringen mussten, um reihum „fröhliche Weihnachten“ zu wünschen, weil man das eben so machte. „Gesegnete Festtage“ sagte ich, der Neutralität halber, denn damit litt es sich hoffentlich etwas weniger.
Ich wurde mir des Luxus bewusst, meine Eltern wenigstens noch am Telefon bei mir haben zu können an Weihnachten, denn etliche meiner Freundinnen und Freunde konnten das nicht mehr. Reihum sah man, wie teils Ü50jährige im Freundeskreis wieder zu Kindern wurden und über Weihnachten heimfuhren zu Eltern, sonstiger Familie, Gans und Baum. Dann schliefen sie in ihren alten Kinderzimmern, fanden Erinnerungen wieder und Fotoalben. Und dann gab es jene, in deren Elternhaus nun Planen über den Möbeln lagen und durch dessen Zimmer Fremde als potentielle Käufer schritten. Und jene, deren Elternhaus bereits abgerissen worden war. Und jene, die nie eins hatten.
Auf der anderen Seite: Die Selbstverständlichkeit, mit der allerorten „Frohe Festtage im Kreise Ihrer Familien“, „schöne Weihnachten im Beisein Eurer Lieben“ und so fort gewünscht wird, als sei ein Alleinsein an Weihnachten oder die Abwesenheit einer Familie, sei es durch traumatische Erlebnisse oder den Tod, vollkommen ausgeschlossen. Oder eines der letzten Tabus unserer Zeit. Ich fürchte, Letzteres.
Ich versuchte, über die Weihnachtstage so viele Bekannte wie möglich zu kontaktieren, von denen ich wusste, dass sie unter irgendeiner Form von Verlust und Ausgeschlossensein litten. Nicht aus Mitleid. Sondern weil ich wusste, wie es war, in dieser Gesellschaft unsichtbar zu sein.

Nun ist die Zeit angebrochen, die etwas mysteriös als „die Zeit zwischen den Jahren“ bezeichnet wird. Eine Zeit, in der man einerseits noch hektisch Dinge zuende bringen will, es sich andererseits aber auch noch nicht wirklich lohnt, etwas Neues anzufangen — denn waren dafür nicht erst die Neujahrsvorsätze gut? Es ist eine Zeit, in der viele Menschen Bilanz ziehen. Auch ich tue das.
Über mein Jahr kann ich nicht klagen. „Still a pretty good year“ höre ich im Geiste Tori Amos singen; eine Frau, die mich in meiner Jugend mit ihrer keltisch-ätherischen Schönheit, ihrem Talent, ihrer Verletzlichkeit, dem Stolz in ihrer Nacktheit und der Anmut in ihrer Wut geradezu hypnotisierte. Inzwischen hat die plastische Chirurgie ihr leider eine Menge Seele aus dem Gesicht geraubt — aber die Faszination ist geblieben.
Auf jeden Fall habe ich keinen Grund zum Hadern; alles, wovor ich Angst hatte, ging gut aus oder ist in stabile Bahnen gelenkt. Es gibt keinen Verlust zu beklagen, der rückblickend nicht unumgänglich oder gar begrüßenswert gewesen wäre. Und alles, was ich liebe, ist noch da. Mehr, denke ich, kann man von so einem Jahr eigentlich nicht verlangen.

Ich erahne bereits den Horizont. Mit der Morgendämmerung glitzern gefrorene Reifenspuren auf dem Backsteinpflaster meiner Straße. In meinen Träumen glitzert der Wienerwald im Winterkleid, rattert der Nachtzug bereits einer niederösterreichischen Morgendämmerung entgegen. 
Dem Wetterbericht nach wird es in Wirklichkeit zwar nichts mit Schnee im Wald, aber das ist mir jetzt reichlich egal, denn die nahende Reise hilft mir, das alte Jahr erwartungsfroh und ohne Sentimentalitäten hinter mir zu lassen. Der Wanderrucksack steht längst gepackt in der Zimmerecke.
Er ist, trotz mehrfachen Umpackens und Neusortierens, ziemlich schwer, aber ganz ohne Gepäck geht es halt nicht hinüber: Weder ins neue Jahr, noch in den Wienerwald.
Beim Anblick des Rucksacks muss ich wieder an die Freundinnen und Freunde denken, welche in diesem Jahr mit wirklich schwerer Last neu starten müssen. Mit der Last von Krankheit, Angst, Trauer, Armut oder Hoffnungslosigkeit. Mit Streit, Mobbing oder Verachtung. Ich hoffe, dass sie Erleichterung finden. Und dass ihnen Gott tragen hilft.

***

Meinen Leserinnen und Lesern wünsche ich einen guten Übergang ins Jahr 2020 — mit Freude, Gesundheit und Geborgenheit in allem Kommenden.

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Momentaufnahme, Goldenes Handwerk

Der volle Mond wirft seinen Lichtschein durch eine dünne Schicht kleiner Schäfchenwolken, die sich um den Erdtrabanten drängen wie eine Wärme suchende Herde. Das Licht bricht sich an den zirkulierenden Eiskristallen der Atmosphäre in bunten Spektralfarben.
Einige Luftschichten tiefer, auf der Erde, ist es für Dezember recht warm.
In zwei Tagen ist Heiligabend.

Die Insel füllt sich; viele verwaiste Ferienwohnungen sind nun abends wieder beleuchtet. Auch in den Regalen der Lebensmittelmärkte wurde erneut aufgerüstet. Für die Angestellten auf Langeoog zieht der Stress nun wieder an, aber dennoch scheint die Welt kurz vor Weihnachten immer auf eine wundersame Weise stillzustehen.

Der Advent ist, wenn auch für die meisten nicht mehr als Bußzeit, so doch als Wartezeit erspürbar. Zumindest, wenn man sich, wie ich, relativ geruhsam auf die Feiertage vorbereiten kann.

Auf den Baustellen wurde die Arbeit jetzt niedergelegt. Etliche Gerüste wurden abgebaut; Halbfertiges festgezurrt und abgesperrt. Letzte Handwerker machen sich mit ihren Werkzeugkoffern auf zur Fähre, während die Welt die Ankunft des wohl bekanntesten Zimmermanns erwartet.

Ich denke an die historisch ziemlich unbeleuchteten, jungen Erwachsenenjahre Jesu — bevor er als Wanderprediger bekannt wurde — und frage mich, wie es IHM heute als Zimmermann auf Langeoog wohl ergehen würde. Würde man ihn mit Respekt behandeln, pünktlich bezahlen, würde ein Kollege vielleicht seine Pausenration mit ihm teilen, ein Bauherr ihm bei Schietwedder mal einen Kaffee zum Wärmen der Finger ausgeben? Würde er eine bezahlbare Bleibe finden?

Ich frage mich, wie es ihm wohl wirklich ergangen ist, damals in Galiläa. Vielleicht hatte er einen Esel dabei, um Baumaterial, Lot, Wasserwaage und Werkzeug zu den Baustellen zu transportieren. Vielleicht hatte er einen Handkarren, vielleicht auch nur eine Schulterkiepe. Ein Stück Stoff mit eingewickeltem Proviant: Brot, Obst, Trockenfleisch oder -fisch. Einen Wasserkrug. „Jesus war in Allem Mensch, außer in der Sünde“ las ich einmal irgendwo.

Ich stelle mir den Heiland vor, wie er in der Arbeitspause auf einem niedrigen Mäuerchen sitzt. Seine Kollegen werden Zoten gerissen haben, wie auf allen Baustellen Zoten gerissen werden, möglicherweise gab es auch Bier oder dünnen Wein. Jesus schalt sie aber sicher nicht dafür, solange es nicht bösartig wurde, denke ich, vermutlich saß er einfach nur dabei und lächelte nachsichtig. Aber wenn es gemein wurde, dann griff er mit Sicherheit ein.

Ich erinnere mich aus meiner eigenen Kindheit an einen Kindergottesdienst, bei dem ein Kind gefragt hat, ob Jesus auch aufs Klo gegangen sei. Und noch deutlicher erinnere ich, wie die anwesenden Erwachsenen bei dieser Frage scharf die Luft einsogen. Nervöses Stottern war die Folge. 
„Getrunken und gegessen hat er“, presste schließlich jemand mutig hervor, „Das steht zumindest recht eindeutig in der Bibel.“ Und dass man sich den Rest dann wohl denken könne.
Heute denke ich, dass es doch irgendwie schön ist, wie unbefangen sich Kinder der Materie nähern. Für Kinder gibt es noch keine ungehörigen Fragen. Und auch ich fand die Frage damals eigentlich nicht schlimm.
Im Gegenteil: Ich fand es als junger Mensch immer schön, Jesus als echten Freund zu sehen. Als Gott zum Anfassen. Den man immer hatte, auch wenn man niemanden sonst hatte. Der verstand, verzieh und niemals petzte. Der einen so sah, wie man von Gott gemeint war.
Den Heiligen Geist, GOTT, die Dreifaltigkeit: All das begriff ich erst später. Aber dass Jesus Mensch war wie wir, nur ohne miese Eigenschaften — das hingegen verstand ich sofort.

Wie war Jesus als Teenager? Bestimmt auch mal aufsässig oder unmotiviert. Aber er mobbte oder versetzte mit Sicherheit niemanden. Wie war Jesus als Schüler? Vielleicht nur mittelprächtig. Und doch verstand er mehr als jeder andere. Und als Arbeiter, als Zimmermann? Ich stelle ihn mir sehr zuverlässig vor, sehr gründlich. Aber niemals verbissen. Und kein Karrierist. Ich denke, wenn Jesus einfache Tische und Bänke für eine Taverne zimmerte, nahm er den Auftrag genauso ernst wie den, einen Palast auszubauen. Freundlich wird er gewesen sein, bescheiden, aber bestimmt. Jemand, der nichts und niemanden ausnutzte, der sich aber auch nicht ausnutzen ließ. Ein Vorbild durch alle Zeit, bis heute.

Und nun feiern rund 2,2 Milliarden Christinnen und Christen in zwei Tagen seine Geburt, weltweit: Seine heutigen Handwerkskollegen feiern ihn, der Papst feiert ihn, arme Menschen und reiche, manche allein, andere in Gesellschaft. Es gibt Darstellungen, die das Christuskind in Königsgewändern zeigen, mit allem Prunk und Gold. Es gibt Darstellungen, die das Christuskind in absoluter Armut zeigen: Im Stall, mit einem Lumpen als Windel; seine Eltern als einfache Leute, ohne Gold, ohne Heiligenschein. Und tatsächlich mag ich beide Betrachtungsweisen.
Ich finde es schön, in dem armen Kind den Himmelskönig zu sehen. Und in dem König das arme Kind.

Ich bin kein Theologe. Ich weiß mich nicht besonders schlau zu Weihnachten zu äußern, tatsächlich bin ich nicht einmal besonders bibelfest und schnorre mir mein Wissen bislang bedarfsweise bei befreundeten Theologen zusammen. Aber das Schöne an genau diesem Weihnachten ist, dass ich es vielleicht nicht besser verstehe, aber doch mehr fühle als alle anderen Weihnachtsfeste zuvor. Es liegt so etwas Beruhigendes darin, so ein Frieden. Ja: Ich fühle mich weihnachtlich.
Ich fühle die Hoffnung, die dieses arme Kindlein uns immer wieder aufs Neue bringt. Das arme Kind, dass damals für so viele ein Nichts gewesen ist. Und das heute für so viele Alles ist. Ich fühle die Erlösung, die Gnade und Vergebung, die uns das Fest verheißt: Gott ist barmherzig, auch wenn es die Menschen nicht sind. Und Weihnachten bringt auch dem Traurigsten, der an die Botschaft glaubt, einen Grund zur Freude, denn niemand ist allein, der Jesus einen Platz frei hält. Nicht einmal die eigene arme Hütte muss einen da beschämen — denn diesbezüglich ist ER, der sein Leben in einer Krippe begann, ja nun wirklich alles gewohnt. Was sollte IHN da eine billig möblierte Einzimmerwohnung stören oder ein Würstchen mit Kartoffelsalat statt Festmenü?

Vielleicht ist meine Vorstellung von Jesus noch immer kindlich. Aber ich glaube daran, dass er dort gerne einkehrt, wo er willkommen ist und wo man ihn freundlich empfängt. Und ich mag die zentrale Botschaft Christi, die radikale Nächstenliebe, selbst wenn ich oft weit davon entfernt bin.
Tatsächlich finden auch etliche meiner eher kirchenfernen Freunde — sogar jene, die sich als Atheisten bezeichnen würden — : Dieser Jesus, das war ein Guter.
Vermutlich hätten sie ihm, damals auf der Baustelle, auch mal einen ausgegeben.Bildschirmfoto 2018-12-22 um 20.42.20

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern, allen Freundinnen und Freunden gesegnete Weihnachtstage und einen gesunden Start ins neue Jahr!

12.Dez.: Lesung in Carolinensiel

Im Rahmen des „Lebendigen Adventskalenders“ des ev. Kirchenkreises Harlingerland habe ich die Ehre, am 12. Dezember auch im wunderschönen Gulfhof Friedrichsgroden in Carolinensiel lesen zu dürfen. Etwa eine Stunde lang wird es ausgewählte Geschichten mit winterlicher (Insel-)atmosphäre oder Glaubensthemen geben. Ich freue mich sehr und danke herzlich Joke&Romy vom fabelhaften Wattwanderzentrum Ostfriesland für die Einladung!

lesungGulfhofBILD

Wunderschöne Location — Bilder (C)Gulfhof, mit bestem Dank für die Erlaubnis zum Zeigen!