Auf dem Balkon sitzend, warte ich auf den Regen. Es sind luxuriöse Minuten der Stille. Oder, besser gesagt: seltene Augenblicke der Abwesenheit von Menschenlärm. Denn zu hören gibt es dennoch reichlich.
Ich höre das Rollen der Brandung und den Wind, der durch die üppig ergrünte Hecke auf dem Nachbargrundstück streicht. Holunderholz knarzt leise unter dem Gewicht schwerer Blütendolden; im Entwässerungsgraben quakt eine Ente, ihr Gründeln erzeugt silbriges Plätschern. Von Süden her kommt erstes, leises Donnergrollen.
Über all dem liegt warmer Dunst. Endlich, möchte ich sagen, denn es war ein denkwürdig kaltes Frühjahr. Von „heiß“ sind wir auch jetzt noch Meilen entfernt, aber dieser Tag war, für Langeooger Verhältnisse, schon annähernd tropisch.
Nun bricht die Dunkelheit herein. Eine schwarze Wolkenwand schiebt sich über die letzten Reste des Sonnenuntergangs. Das Donnern wird nun deutlicher und bald fällt der Regen in warmen, lotrechten Schnüren vom Himmel. Im Lampenlicht, das aus meiner Wohnung in die Inselnacht strahlt, sehe ich die Tropfen funkeln. Wind weht kaum, sodass ich das Naturschauspiel unter dem Balkondach genießen kann, ohne selbst nass zu werden.
Ein letzter Radfahrer rast die Straße entlang; alle anderen Menschen sind wohl in ihre Häuser oder Ferienunterkünfte geflüchtet. Von meinen Balkonpflanzen perlen dicke, silbrige Tropfen lebensspendenden Wassers und ich rieche den moosigen Duft feuchter Erde.
Ich freue mich nicht über die Kälte der vergangenen Wochen, aber mich erleichtert, dass die Sonne dadurch auch weniger verheerende Kraft entfalten konnte. Und ich bin glücklich, weil es nun wieder mehr regnet. Nur ungern erinnere ich die braunen, vertrockneten Deiche des Vorjahres, die sich bis zum Herbst kaum erholten. Auch die Straßenrandbegrünung wich einer sandigen Wüste, in der sogar die robusten Kartoffelrosen schlappmachten. Dieses Jahr aber ist das Gras fast überall noch grün; die Rosen stehen in voller Kraft und überziehen die Dünentäler mit einem pinkfarbenen, duftenden Blütenteppich. Es ist ein seltsamer Sommer: Nicht nur wegen des Virus.
Ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Ich weiß, wer es ist, aber trotzdem verlasse ich meinen wildromantischen Logenplatz im Regen, um ihr entgegenzugehen. Die Freundin steht in meinem Flur und strahlt mich an; mit diesem Lächeln, als sei ich ein Scheck über eine Million Euro und nicht ein eigenbrötlerischer, menschenscheuer Mittvierziger mit fliehendem Haaransatz und Schlafhosen. Wassertropfen perlen von dem gelben Ostfriesennerz, der an ihr ganz entzückend aussieht, und von ihrer Haut, über deren Beschaffenheit ich nichts dichten könnte, was unterhalb der Kitschgrenze bliebe. Eine nasse Haarsträhne klebt an ihrer Wange. Sie streicht sie fort und folgt mir auf den Balkon, um sich in schönstem Schweigen mit mir den Regen anzusehen.
Es ist ein ganz eigener Frieden mit ihr, aber auch das ist noch immer seltsam. So viele Jahre gab es in meinem Liebesleben nichts, das nicht mit mannigfaltigen Nuancen von „Es-ist-kompliziert“ durchsetzt gewesen wäre; von Unmöglichkeiten, Mauern und Schmerz; von gesellschaftlicher oder kirchlicher Ächtung.
Die einzige Liebe, die mir in den letzten Jahren beständig Quelle von Trost, Kraft, Hoffnung und Zuversicht gewesen war, war die Liebe zu Gott. Und eigentlich hatte mir diese Liebe auch gereicht. Ich hatte nicht mehr daran geglaubt, dass mir Derartiges auch noch einmal von einem Menschen geschenkt werden würde. Doch nun ist sie da, die Liebe. Im Himmel wie auf Erden.
„Nicht müde werden, / sondern dem Wunder / leise wie einem Vogel / die Hand hinhalten“ dichtete Hilde Domin 1992 — Und ich hoffe, dass ich es schaffen werde, mich dem neuen Wunder in meinem Leben mit der hier so filigran beschriebenen Zutraulichkeit und Neugier zu nähern.
Der Regen lässt nach. In der Wohnung über uns brüllt ein Baby; auch das Austernfischerpaar, das auf einem der Flachdächer nebenan brütet, macht sich mit Rufen bemerkbar. Das Leben um uns herum erwacht noch einmal, bevor es sich endgültig zur Nachtruhe bettet.
Auch wir ziehen uns zurück und ich wundere mich einmal mehr darüber, wie schnell man sich wieder an einen Menschen an seiner Seite gewöhnen kann. Dieser Tage ertappte ich mich sogar dabei, wie ich gedankenversunken zwei Teetassen füllte, obwohl meine Freundin erst Stunden später zu Besuch kommen wollte. Wenn ich nachts ihre Hand berühre und sie dann im Halbschlaf ihre Finger um meine schließt, berührt mich diese Geste des Vertrauens und der Hingabe auf eine Weise, für die ich mir erst wieder Vokabular zurechtlegen muss. „Sie haben jetzt auch für diesen Menschen Verantwortung“, wetterte jüngst der Beichtvater, als ich von meinen Unsicherheiten und Ängsten erzählte, und natürlich weiß ich, dass er Recht hat. Es sind jetzt nicht mehr nur meine Unsicherheiten und Ängste. Es sind auch ihre.
Und so wird die Liebe wohl immer eine Herausforderung sein: die zu den Menschen, aber auch die Liebe zu Gott. Zugleich ist beides ein großes Geschenk, das es verdient, mit der gebührenden Achtung angenommen zu werden.
Ich will es versuchen.