Hoffnung

„Die Gewalt, der Terror und der Hass werden ein Ende haben“, verspricht der Priester, und er strahlt dabei so vereinnahmend, dass man ihm das nur zu gerne glauben möchte. Das sei Jesu Botschaft: Die Hoffnung auf Frieden. Das Leben in Fülle. Auch und gerade in Zeiten, wo dieser grässliche Krieg unser Europa fest im Griff hat und wir alle dessen Auswirkungen langsam zu spüren bekommen, auch wenn unser Haus nicht in der Ukraine steht. Doch die Hoffnung und Zuversicht auf ein Ende des Elends sei das, was uns durchhalten helfe. Jesu Trost und Versprechen an uns. „Credo!“, möchte ich unverzüglich ausrufen, „credo!“ — Wenn es nicht so schwer fiele. Dabei ist auch der nette Priester keinesfalls weltfremd, vielmehr sitzen die Kriegsgräuel im Wortsinne täglich bei ihm am Tisch, denn er hat Dutzende ukrainische Geflüchtete bei sich im Priesterseminar aufgenommen und wird deren Geschichten mit Sicherheit anhören.
Ich gebe zu, dass ich kaum noch schaffe, mich bezüglich des Krieges auf dem Laufenden zu halten; ich kann mich schlicht nicht überwinden, all diese Artikel über so viel Leid zu lesen, auch wenn ich das als mündiger Bürger müsste. Das meiste bekomme ich nur noch über unermüdlich engagierte Freunde mit, denen an dieser Stelle meine ganze Bewunderung gilt. Ich bin so leider nicht. Ich bin feige.
Und dennoch kann ich nicht weglaufen, denn einflatternde Rechnungen für Strom und Gas in absurder Höhe sowie verschiedene, kriegsinduzierte Lieferschwierigkeiten im Warenverkehr erinnern mich täglich daran, dass der Krieg seine hässlichen Krallen längst auch um Deutschland gelegt hat. Die Freundin ist nicht mit in der Kirche. Sie spült nach Feierabend noch in einem Freizeitheim, der Preissteigerungen wegen. Damit wir zumindest tageweise noch Urlaub machen können oder überhaupt mal irgendeine Form von Lustkauf drin ist. Und dass, obwohl sie einen systemrelevanten Hauptjob hat, der der Gesellschaft aber letztlich doch nur Worthülsen und hohlhändigen Applaus wert ist. Auch meine Einkünfte werden von den Fixkosten fast gänzlich gefressen und es wäre mehr als traurig, wenn der Inseltraum nach so vielen glücklichen Jahren letztlich am Geld scheitern müsste. Ich denke, dass es keinem Ort, keiner Insel und keiner Region guttäte, zu einem Reichenbiotop zu verkommen, wo man die Angestellten nach Feierabend in irgendwelche Vororte, wahlweise aufs Festland, abschiebt, und ich hoffe, dass Langeoog nicht so endet.

Der Himmel über der Insel ist strahlend blau. Schwalben umschwirren die Kirche, als ich ins Freie trete. Nachts höre ich das Meer rauschen und danke Gott, dass dieses ferne Rauschen wirklich das Meer ist und keine Straße, dass ich morgens nicht von Hupen und Autotürenknallen geweckt werde, dass sich keine Besoffenen nächtens anschreien und in die Vorgärten kotzen. Ich bin froh, an einem Ort zu leben, der es einem leicht macht, an ein gutes Ende von allem Elend zu glauben.
Aber macht es nicht vielleicht auch leichtsinnig, an so einem Ort zu leben? Not, Armut, Kriminalität und Gewalt sind zumindest auf den ersten Blick so weit weg, auch wenn es das auf Langeoog, obschon in kleinen Dosen, natürlich ebenfalls gibt, die Inselpolizei wird es bestätigen können.
Und doch ist die Gefahr groß, sich von dieser Schönheit und zumindest oberflächlichen Unschuld verführen zu lassen und zu denken: Solange ich hier bin, bin ich in Sicherheit. Alles Schlechte ist so weit weg, wie könnte es an so einen Ort gelangen? Ebenso verführt das strahlende Lächeln des Priesters dazu, ihm alles zu glauben was er sagt; alles, was er von Jesus erzählt, und davon, dass alles gut wird. Ich will ihm glauben. Jedes seiner Worte über Hoffnung, Frieden, Fülle und Zuversicht. Und doch ist nicht nur der Krieg längst um uns, sondern auch das Artensterben, der Klimawandel sowie ein umsichgreifender Egoismus und Sozialdarwinismus, der einen nicht nur aus den Kommentarspalten im Internet täglich anbrüllt.
Indes: Was bliebe uns vom Leben ohne Hoffnung? Wäre das nicht mindestens so trostlos wie ein Schottergarten ohne Blumen und Schmetterlinge, wie abgemagerte Eisbären auf schmelzendem Eis, wie sterbende Wälder und Monokulturen? Auf einem Bild aus der Ukraine sehe ich ein Paar, das zwischen Trümmern heiratet. Die haben Hoffnung, denke, ich, sonst würde man das nicht machen. Über den zerbombten grauen Häusern sieht man ein Stück Himmel.

Momentaufnahme, Wunder

Lumen Christi.
Lumen Christi.
Lumen Christi.

Mit diesem dreifachen Ausruf beginnt die Feier der Osternacht. „Deo gratias“, singe ich, umhüllt von Weihrauchduft. Die Flamme der großen Osterkerze im Dom erleuchtet reihum alle anderen Kerzen und erhellt das Dunkel des mächtigen Sakralbaus; das Gesicht des Bischofs ist nun wieder gut erkennbar. Auch meine Osterkerze ist jetzt entzündet. Aber ihr Lichtschein fällt auf keine Kirchenbank oder auf einen altehrwürdigen Steinfußboden. Niemand neben mir raschelt mit dem Gotteslob. Der Schatten meiner Finger zittert im flackernden Kerzenlicht über der Tastatur, und den Weihrauch habe ich selbst verbrannt.
Das Weihwasser wird gesegnet. „Fest soll mein Taufbund ewig stehen“, singe ich und erwarte fast, dass mich ein paar heilige Tropfen aus dem Aspergil erreichen; erfahrene Kirchgänger nehmen rechtzeitig dafür die Brille ab. Aber niemand singt mit mir. Und natürlich erreicht mich auch kein frisches Weihwasser. Denn ich verfolge die Messfeier lediglich im Internet, live immerhin.

Es ist ein sonderbares Osterfest. Ich vermisse den Gang zur Kirche, die Magie des heiligen Triduums mit seiner ganzen Bandbreite menschlichen Elends und Glücks, gekrönt von der Freude über das Wunder der Auferstehung. 
Aber alle physischen Zusammenkünfte zu religiösen Zwecken sind und bleiben des Virus wegen untersagt; das höchste Fest im christlichen Kirchenjahr bildet da keine Ausnahme. Und dennoch schafft sich das Wunder seinen Platz.
Beim allerersten „Halleluja“ nach dem Ende der Fastenzeit bekomme ich zuverlässig Gänsehaut, ebenso wie bei der Allerheiligenlitanei und dem Schlussegen, obwohl ich dem Bischof nur am Monitor dabei zuschauen und -hören kann. Ich zweifelte stark, ob diese Art von Gottesdienstersatz einem überhaupt irgendetwas bringen kann, aber nun bin ich froh, dass es wenigstens dieses Angebot noch gibt.

Aber auch die Kirchengemeinde vor Ort tut noch, was sie kann. Mit Bienenfleiß schnürte unsere Pfarrbeauftragte Osterpäckchen, die sie persönlich mit dem Fahrrad zu allen katholischen Haushalten auf der Insel ausfuhr, darin: Eine Osterkerze im hübschen Holzhalter, ein Palmzweig, ein Gebetsblatt, kleine Andachtskärtchen für den Kreuzweg. Viele Menschen zeigen sich glücklich darüber in den nächsten Tagen; auch jene, die sonst kaum zur Kirche gehen. 
Auch ich freue mich sehr darüber, und so brennt nun genau diese Osterkerze neben meinem Monitor: Lumen Christi.

Es ist Ostersonntag. Auch auf dem Esstisch meiner Freundin brennt eine solche Kerze. Sie steht neben einem Körbchen mit bunten Eiern, überdacht von den sich neigenden Blüten farbenfroher Tulpen. Es ist das erste Mal seit meinem letzten Klosteraufenthalt, dass ein Mensch mit mir vor dem Essen betet, und ich bin dankbar, dass wir so wenigstens ein bisschen richtiges Ostern haben: Ohne Datenleitungen zwischen uns, mit Gott bei uns. Ich weiß nicht, was Gott von dieser Verbindung hält. Aber da, wo Liebe ist, sollte auch Segen sein, und ich bin froh, dass sie da ist: Die Freundin ebenso wie die Liebe. Ich habe vor vielen Dingen bezüglich unserer Zukunft Angst, und der Freundin geht es genauso. Aber in einer Sache bin ich mir dennoch recht sicher: Es gibt viele Wunder in diesen Tagen. Und sie ist eines davon.

Ich weiß nicht, wie dieser Mensch die Tapferkeit aufbrachte, durch all die Bruchstücke im Sumpf meines Herzens zu schwimmen, um zu sehen, ob sich darin doch noch irgendwo ankern lässt. Und nun ist sie da, ein schönes, stilles Boot auf dem Wasser; willens, mich mitsamt dem Müll, dem Dreck und den Narben aufzunehmen. Was, wenn nicht das, ist Liebe?
„Man sollte aufpassen, wofür man betet, denn häufig wird man von Gott erhört“, sagte ich oft halb im Scherz. Wiewohl mit dem Alleinsein längst versöhnt und vertraut mit der Gnade, die freiwillige Entsagung in sich birgt, betete ich dennoch manchmal um einen Menschen, vor dem ich nichts mehr verbergen muss; um einen lieben Gefährten oder eine Gefährtin, bei dem oder der man geborgen ist. Es tut gut, in dieser unwirklichen Zeit neben der treuen und beständigen Liebe Gottes auch noch ein (überaus wirkliches) Wesen aus Fleisch und Blut bei sich zu haben. Für jemanden sorgen zu dürfen, lenkt von vielen Alltagssorgen ab. Und das Umsorgtwerden polstert all die kleinen Wunden, die der Alltag immer wieder reißt.

Es ist eine merkwürdige Zeit. Die Tage sind ebenso ereignislos wie intensiv. Das Dorf ist wie eine Filmkulisse, aber hinter den verwaist wirkenden Fassaden scheint sich mehr zu rühren denn je. Viele Menschen wachsen in diesen Tagen zusammen; helfen einander, fragen ein ernsthaft interessiertes: Wie geht es dir? Plötzlich grüßen Leute, die nie zuvor gegrüßt haben. Andere wiederum lassen es jetzt besonders demonstrativ bleiben. Einige besinnen sich auf ihre Familie, die engen Freunde, intensivieren ihre Kontakte, besinnen sich auf das, was Herzen und Seelen zusammenhält. Andere strecken die ekligen Tentakeln von Neugier, Missgunst und Klatschsucht weiter aus denn je; lauern hinter ihren Barrikaden, witternd, wütend, urteilend. — Glücklich jene, die nun ihre Kreativität ausleben; die neue Hobbys entdecken und Wege finden, um das Beste aus der wirtschaftlich schwierigen Lage zu machen, ohne ihren gelegentlichen Frust darüber an den Mitmenschen auszulassen und ihren Neid an jenen, denen es vermeintlich besser geht.

Nur die Natur gibt sich gänzlich unbeeindruckt. Der Frühling ist in vollem Gange. Erste Jungtiere zeigen sich: Winzige Gänschen folgen den Elterntieren auf dem Schloppsee, und auch bei den Highland-Rindern hängt zottelig-süßer Nachwuchs am Euter. Ich nehme mir seit Langem mal wieder Zeit für eine ausgiebige Erkundungstour. Die Liebe Gottes, die er mit all seiner wunderbaren Schöpfung in die Welt goss, ist hier, jenseits des Deiches, in jedem Vogel, in jedem Grashalm spürbar. Ich sauge mich förmlich voll damit. Ein großer Schwarm Goldregenpfeifer zieht über die Weiden nahe der Melkhörndüne; Weißwangengänse schnattern im Gras. Ein Rotschenkel durchsucht den Schlick im Siel, während Kiebitze mit lautem Ruf über den Äckern turnen. Austernfischer sitzen auf ihren Gelegen oder versuchen, akrobatisch davon abzulenken. Ein Hase mümmelt in einem gigantischen Teppich aus Gänseblümchen. Leben in Fülle überall, aber kaum ein Mensch kreuzt meinen Weg. 
Nie hätte ich gedacht, einmal einen Inselfrühling in dieser absoluten Stille zu erleben. Vielleicht rückt diese Zeit einige Werte zurecht, denke ich. Für mich ist der unbeirrbare Glauben an das Wunder der Liebe einer davon.

Momentaufnahme, Körper

Das Meer wartet noch. Seit einigen Tagen bin ich zurück auf der Insel, krankheitsbedingt ans Haus gebunden, der Weg zum Strand ist zu weit. Aber dieses einzigartige Blau des Himmels am Ende der Straße, hinter der das Meer liegt, lässt mich wissen, dass es da ist. Und auch das leise Wellenschlagen, das sich heute kaum hörbar in das Rauschen des Windes und des Herbstlaubs an den Bäumen webt, erzählt davon. Wie eigenartig es ist, zu dieser Übergangszeit fortgewesen zu sein. Ich betrat das Haus mit Schal und Mütze; im Bad trockneten noch Badehose und Strandtuch. Die abgerissenen Kalenderblätter, die meine liebe Blumensitterin säuberlich auf dem Regal stapelte, berichten von der verronnenen Zeit.
Es fühlt sich an, als hätte ich eine ganze Jahreszeit verpasst; in Wirklichkeit waren es keine drei Wochen. Vor zwei davon steckten noch Chirurgenhände in meinem Gedärm, andere zerrten meine Bauchdecke nach oben, auf der Suche nach etwas, das dort nicht hingehörte und freigeschnitten werden musste. Bei der Narkoseeinleitung hielt eine warmherzige und verständnisvolle Ärztin meine angstzitternde Hand. Ihr Kollege wartete respektvoll, bis ich mich bekreuzigt hatte, bevor er mir kalte Flüssigkeit in die Venen leitete. Ich hatte meinen Frieden. Und dieses Mal ging alles gut.
Mit dem Erwachen war aus dem eher geistig veranlagten Menschen ein durch und durch körperlicher geworden. Im Inneren herrschte eine unheimliche Grabesstille; noch war jede Darmbewegung gelähmt. Aus mir ragten Schläuche; aus der Bauchdecke, aus der Harnröhre. Dann explodierte der Schmerz. Aber ich fühlte, und deswegen wusste ich: Ich bin am Leben. Dank sei Gott.
Mit einer Tablette Oxycodon glitt ich in einen vertrauten Schmerzmittelrausch: So wunderbar, so weich, und so gefährlich. Ich schlief und erwachte davon, das mir kühle zarte Finger über die Wange strichen, ich roch Rosenduft. Ich vermutete die Schwester, aber im Zimmer war niemand. Ein Drogentrip, sagte mir die Vernunft, aber das Herz wollte glauben, dass es jemand vom Himmel war, der mich auf diese Weise tröstete. Der mir damit sagte, dass mir verziehen war und der wollte, dass ich lebte. Zwei Etagen über meinem Zimmer gab es eine Kapelle, ich schleppte mich mit meinen Schläuchen dahin, sobald ich das Bett verlassen durfte.
Nun aber scheint mir auch das schon wieder so weit weg. Auf dem Heimweg döste ich im fast leeren Salon der Fähre und sah den Reflektionen des Wassers an der Decke zu, die das Sonnenlicht durch die Bullaugen des Schiffes dorthin malte.

Nun sehe ich vom Bett aus dem Wolkentreiben zu und horche nach dem Meer. Mittags ist es noch warm genug, um mit Isoliermatte und Schlafsack auf eine Feldliege auf dem Balkon umzuziehen. Eine Primel hat sich von März bis in den Oktober gerettet und erfreut mich mit ihren Blüten und ihrem Vorbild an Lebenskraft. Inselarzt, Freundinnen und Freunde, Kollegen und Eltern kümmern sich. Ich leide keinen Mangel.
Und ich bestaune einmal mehr — und trotz kleinerer Rückschlage — was für ein Wunderwerk der menschliche Körper doch ist. Zwar sind die vier Schnitte in der Bauchdecke noch nicht verheilt, zwar scheint noch immer eine gewisse Unordnung im Gedärm zu herrschen, aber es ist doch erstaunlich, dass es heute überhaupt möglich ist, jemandem den Bauch aufzuschneiden, ohne damit sein Todesurteil zu fällen. Und dass man einen Menschen überhaupt halbwegs schmerzarm da durchbringen kann. Ich habe großen Respekt vor den Errungenschaften der Medizin. Vor allen Pflegenden und Helfenden sowieso. Am meisten aber erstaunt mich das Wunder der Heilung.
Diesem Wunder muss ich nun Zeit zur Entfaltung geben. Es ist nicht immer leicht: Man hat keine Geduld, man schämt sich um Hilfe zu bitten, man ist es nicht gewohnt, sich so sehr mit seiner eigenen Körperlichkeit beschäftigen zu müssen, auf seine physischen Funktionen zu achten und auf seine Grenzen. Ich muss auch mir Zeit geben. Das Meer, in seiner wundervollen Unendlichkeit, wird mich ohnehin überdauern. Es ist da. Und es wird auch weiter warten.

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Momentaufnahme, Gut

Vor dem Haus steht eine Kiste mit ausrangierten Büchern, daneben eine kleine Spardose. „Standlektüre? Zum Mitnehmen gegen Spende“ sagt ein Schild. Erfahrungsgemäß funktioniert die Kiste gut, ich kann das wissen. Denn es ist meine Kiste.
Normalerweise spende ich überzählige Bücher der Vertrauensbibliothek, aber es gibt Monate, da kreist der Pleitegeier über dem Künstlerhaushalt, und dann ist es gut, wenn man noch den ein oder anderen Euro abends aus der Spardose schütteln kann.
Als ich an diesem Abend schüttele, höre ich nichts, obwohl viele Bücher fehlen.
Schweine, denke ich, zumindest ein Anstandskupferling hätte ja drin sein können. Zwar sah ich vom Fenster aus kurz Freunde in der Kiste wühlen, bei denen ich keinerlei Zweifel hegte, dass sie etwas dalassen, aber vielleicht, denke ich, haben sie ja kein passendes Buch gefunden — und ‚kein Buch, kein Geld‘ ist eine faire Rechnung.
Aber bevor ich mich über die Geiz-ist-Geil-Mentalität im Allgemeinen und Menschen vom Stamme Nimm im Besonderen aufregen kann, schüttele ich die Spardose noch einmal.
Ich höre auch jetzt keine Münzen. Aber das Rascheln von Scheinen.
Was mir am Ende des Tages entgegenfällt, ist also nicht nur ein wiederhergestellter Glaube an das Gute im Menschen, sondern auch der Gegenwert von zwei Tagen Essen oder einem halben Monat Internet.
Dank sei Gott.

„ER sorgt für uns. Auch wenn wir manchmal kaum noch Land sehen. Das glaube ich. Ich habe es oft genug erfahren.“ — Tröstete ich nicht erst kürzlich so einen Menschen, den ebenfalls schlimme Existenzängste plagten? Es ist gut, dass ich nun einmal mehr weiß, dass das keine hohle Phrase ist. 
„I have always depended on the kindness of strangers“, würde ein lieber Freund jetzt vielleicht aus Tenessee Williams’ „A Streetcar named Desire“ zitieren, obwohl dieser Freund als belesener Mensch natürlich weiß, dass die Protagonistin des Theaterstücks alles andere als „kindness“ erfahren hat, als sie diesen Satz sagt. 
Aber wenn man den literarischen Kontext hier außer acht lässt, passt es: Manchmal retten einem eben, man verzeihe den wenig prosaischen Ausdruck — nur noch ein paar Fremde den Arsch.
Und wenn man das nicht tut: Dann passt es auch.
Denn wie oft erwiesen sich zunächst als überaus freundlich auftretende Fremde als das Gegenteil davon? Und wie oft wird Güte von Gier missbraucht? Den Spruch mit dem kleinen Finger und der Hand kennt wohl jeder.
Hinzu kommen die Fälle gespielter Güte aus Gier nach Anerkennung, Altruistischer Narzissmus. Auch nicht fein. 
Es gibt wohl keinen Menschen, der nicht die ein oder andere Variante davon schon erlitten hat. Oder sich der ein oder anderen Variante davon schuldig gemacht hat.
Und doch: Das Ideal der Random acts of kindness. Es existiert.
Da ist zum Beispiel dieser eine Freund, in Schweden, der so riesig ist wie sein Herz. Selbst arm wie eine Kirchenmaus, schickt er mir das Wenige, das er eigentlich selbst nicht hat. Ich tue das auch für ihn, natürlich, aber es ist nicht selbstverständlich, und ich würde es auch nicht erwarten. Es erfüllt mich in demütiger Dankbarkeit und ich weiß, dass Gott ihn sehr dafür liebt. Vermutlich sogar noch mehr als ich.

Ich bin überzeugt, dass das Gute, das wir aus freiem Herzen für andere tun, irgendwann zu uns zurückkommt, Gott entgeht so etwas nicht. Manchmal kommt es nicht von jenen, wo wir damit rechnen sollten. Selten kommt es sofort. Aber es kommt. Und „rechnen“ sollte im Kontext mit Güte eigentlich ohnehin nicht vorkommen. Natürlich sind der materiellen Dienste am Nächsten Grenzen gesetzt — was ich an Geld selbst nicht habe, kann ich nicht herschenken — aber ein liebes Wort muss drin sein. Eine Umarmung. Zeit. Eine Tüte mit Lebensmitteln. Respekt für den Gedemütigten. Augenhöhe für den Gebeugten. Vertrauen für den Verratenen. Fürsprache für den Verleumdeten. Oder die schlichte Frage: Was kann ich tun? Es ist erstaunlich, mit wie wenig man etwas bewirken kann. Es braucht nicht die große Geste. Aber es braucht Aufrichtigkeit.

Abends bin ich am Strand. Nochmal davon gekommen. Die Scheine sind in der Tasche. Es war ein warmer Tag, meine Hosenbeine werden nass, als ich durch den Spülsaum laufe. Mir ist das egal, ich liebe es, hier und jetzt eins mit der Natur zu sein. Mit diesem großen, wunderbaren Geschenk, dass ich jeden Tag vor meiner Tür finde.
Ich liebe das Meer noch immer.
Die Flut kommt, das Wasser läuft in rasender Geschwindigkeit auf. Von einer Sandburg schauen nur noch die Zinnen raus. Bald wird sie verschwunden sein.
So ist das, wenn man auf Menschengeschaffenes baut, denke ich resigniert. Es mag auf den ersten Blick prachtvoll wirken und stabil. Aber letztlich ist es vergänglich, wie wir selbst, wie alles, das uns umgibt. Wir können nichts mitnehmen.
„Das letzte Hemd hat keine Taschen“, sagt mein Vater immer. Aber das Herz lässt sich immer füllen, wenn man es öffnet. Und das Gute an dieser Fülle ist, dass sie wächst, wenn man davon gibt.

Momentaufnahme, Aufräumen

Am Tag nach dem Sturm liegt tiefer Frieden über der Insel. Der Himmel, der sich gestern noch wie eine graue Betondecke über Langeoog gewälzt und ein bedrohliches Ächtzen und Stöhnen von sich gegeben hatte, zeigt sich bereits am Morgen in nahezu absurdem Blau. Ich erwache zum Trillern der Austernfischer und dem geschäftigen Geschwätz der Finken und Spatzen; die noch regennassen Primeln auf meinem Balkon sehen, von der Sonne beschienen, aus, als hätte sie jemand mit Strasssteinen beklebt.
Mit Freude ziehe ich den Vorhang beiseite, in der Geborgenheit meines kleinen Refugiums, mit dem Blick in die Welt.
Letztes Jahr stapelten sich Anfang März noch die Eisschollen am Strand. Der Balkon war eine graubraune Ödnis aus entlaubten Stauden und dunkler, hartgefrorener Erde in leeren Kästen. Nun aber ist jeder Frost in weiter Ferne; die Temperaturen halten sich seit Wochen zweistellig und es ist kein Ende in Sicht.
Ich bin froh darüber, die Blumen jetzt schon gepflanzt zu haben. Froh über jeden Farbtupfer in meiner Welt, froh über alles, das mich von all den Dingen ablenkt, die den letzten Winter nicht überlebten.

Die neuen Miteigentümer sanieren zurzeit, was die Wände hergeben, und da zwei Bohrmaschinen nicht schlimmer sind als eine, entschloss ich mich dieser Tage, ebenfalls zu renovieren, Möbel umzustellen, ein neues Farbkonzept zu entwerfen und ein paar neue Teile zu bauen. An Ruhe war tagsüber ja ohnehin nicht zu denken.

Die Wohnung sieht nun anders aus als vor einem Jahr; sogar neue Stühle habe ich, und dennoch fällt es schwer, sich nicht zu erinnern.
Ich streiche gedankenverloren über die Lehne des Stuhls, der dort steht, wo er damals saß, und kurz ist mir, als spürte ich die Maschen seines blauen Marinepullovers unter den Fingern, die Rundung seiner Schultern, das kurzgeschnittene braune Haar im Nacken und all das Entfremdete und Erforene in uns und zwischen uns.

Die Sonne lockt mich ins Freie. Weg von ihm, weg von allem, das mich bindet. Zu irgendwelchen Eitelkeiten treibt es mich indes nicht: Ich ziehe lediglich Gummistiefel und Parka über meine Schlafsachen und verlasse das Haus. Ein Mann mit einem eleganten Windhund an der Leine kreuzt meinen Weg. Mit leichter Wehmut schaue ich ihm hinterher. Irgendwann, denke ich, hätte ich auch gerne wieder einen Hund. Aber nicht jetzt.
Heilung braucht Zeit.

Die Blessuren, die der Sturm der Insel zugefügt hat, sind indes längst beseitigt. Kein abgerissener Ast, kein herabgefallener Dachziegel trübt mehr das Bild der Urlaubsidylle. Die Knospen der Narzissen längs der Straße sind so prall, als sei es nur noch eine Frage von Minuten, bis sie ihre gelben Köpfchen dem Licht entgegenstrecken. Auch die See steht überraschend still, verglichen mit dem stahlgrauen Ungetüm, zu dem sie sich gestern noch aufgetürmt hatte.

An der Kirche nisten bereits wieder die Turmfalken. Der neue Kurpriester ist ein freundlicher Professor, der zugleich Ruhe und Intellektualität ausstrahlt, mit der natürlichen Souveränität eines erfahrenen Geistlichen. Morgen ist der Beginn der Buß- und Fastenzeit, und ich bin froh, mich auf diesem Überweg nicht unbegleitet zu wissen.

In der Sonne setze ich mich auf eine Bank. Sie steht an keiner besonders sehenswerten Stelle; der Blick richtet sich lediglich auf struppige Braundünen. Aber sie steht da, wo ich sein will: Inmitten des Meeres, auf einer Insel. In der Wärme der Sonnenstrahlen richte ich den Blick himmelwärts und sehe den Gänsen nach.

Momentaufnahme, Wege

Es ist Hochsaison. Tagsüber ist kaum noch ein Pflasterstein zu erkennen vor den Strandaufgängen: Überall Fahrräder, Fahrräder, Fahrräder. Beim Bäcker lange Schlangen bis weit hinaus auf die Straße. In den Supermärkten die Ware aus den Regalen gezerrt, kaum, dass sie verräumt wurde. Die Strandkörbe ausgebucht, die Cafés voll, die Straßen bunt vor Menschen, die Angestellten bleich und müde. Leer sind in diesen Tagen nur noch die Friedhöfe und Kirchen.

Ich bin noch müde am Morgen; dennoch stehe ich auf, wohl wissend um die Kostbarkeit dieser Momente der Stille, des Wartens auf den ersten Möwenschrei, bevor der Lärm der Welt einsetzt. Dem Liebsten widme ich ein paar Worte, in die er sich lehnen kann, wenn ihn schon mein Arm nicht erreicht, und es tut gut, nicht immer allein zu erwachen, auch wenn uns so viele Kilometer trennen: Auch das gibt Kraft für den Tag.

Ein meditativer Strandspaziergang steht an, es soll um biblische Gartengeschichten dabei gehen und das Hineinspüren in sich selbst, in den Garten der Seele, inmitten in der erwachenden Natur unserer wunderschönen Insel.

 Wir beginnen in der katholischen Kirche, in der sich wesentlich mehr Menschen sammeln, als ich es für möglich gehalten hätte. Mit einer Seelsorgerin und zwei Ordensbrüdern ist die Quote an Theologie-Profis sehr hoch, dennoch herrscht von Anfang an eine einladende, warme und unkomplizierte Atmosphäre, die auch dem interessierten Laien, also mir, Geborgenheit vermittelt und Ruhe in sein Herz pflanzt.

In Stille bewegt sich die Gruppe zum Strand, und es ist schön, dass es angesichts all des Lärmen und Tosens um uns tatsächlich noch Menschen gibt, die nicht nur Stille aushalten, sondern auch Momente der Stille schenken können. 

Rückschau zu halten, werden wir eingeladen: Gerahmt von 7 Bibelstellen, die sich mit Gärten beschäftigen, soll das eigene Leben in 7 Abschnitte unterteilt werden, die wir gehend reflektieren — dabei überlegend, welche „Pflanzen“ wir daraus mitnehmen und weiter nähren möchten.


Mich ängstigt dieses Vorhaben ein bisschen, schleppe ich doch, wie vermutlich jeder Mensch, auch eine Menge Vergangenheitsmüll mit mit herum, den ich lieber unangetastet ließe. 
Aber: Für einen schönen Garten muss man sich eben auch den Schädlingen und dem Unkraut darin widmen; und den Ansatz, dabei auf das zu fokussieren, was uns weiterbringt (und immer weiterbrachte), finde ich wunderbar. Denn oft genug bringen ja auch schlichteste Samenkörner wunderschöne Gewächse hervor, und Pflanzen, die man in der Kälte gestorben wähnte, erwachen zu neuem Leben. Warum also sollte das im „Seelengarten“ anderes sein? Also beginne ich mutig zu harken.



Frühe Kindheit. Was tummelt sich da im Garten? Tiere, die man liebt. Pflanzen, die einen begeistern. Ein Herz voller Zuversicht, Vertrauen, nur das Gute sehen und Gutes erwartend, noch unbehelligt von der Grausamkeit der Welt. Dann: Im Kindergarten dieses Mädchen, das mich immer verprügelte, obwohl ich nichts getan hatte, sondern einfach nur da saß. Bis dahin hatte ich gelernt: Man wird geschlagen, wenn man Böses getan hat. Ich hatte aber nichts Böses getan. Ich saß da. Trotzdem Schläge. Das frischgemalte Bild zerrissen, die Jacke auch. Die Sandburg, in die ich hingebungsvoll Zinnen und Gräben zog, vertieft ins Spiel: Zerstört unter prasselnden Schaufelschlägen, die auch schmerzhaft meine Hände trafen, mein Weinen Benzin im Feuer. Die Kindergärtnerin? „Ja, dann wehr dich doch!“
Gelernte Lektionen: Es gibt geborene Sadistinnen. Es gibt Gleichgültigkeit. Sich-nicht-Wehren ist schlimmer als Schlagen. Und Gott mag Gutes mit Gutem vergelten, Böses mit Bösem: Die Welt tut es nicht.


In der Schule ähnliches Spiel, mein Versagen an der Blockflöte, die Lehrerin, die Musik und katholische Religion unterrichtete, voller Hass. „Kannst du dich nicht wenigstens ordentlich kämmen, wenn du schon sonst nichts kannst?“ Wir kamen vom Schwimmen; ein Reißen an den zerzausten Haaren, das böse, flache Vollmondgesicht der Lehrerin über mir mit der Aura und Wärme eines Kreissägenblattes, die verhasste Flöte vor mir. Den katholischen Mädchen steckte sie manchmal Süßigkeiten zu, aber auch nur den hübschen. „Du siehst aus wie ein Engel“ sagte sie dann, und drehte die blonden Löckchen der so Verehrten um die Finger der einen Hand, während die andere ein Bonbon in das Engelsmündchen schob. Die anderen bekamen nichts, und ich obendrein eine Drei in Musik, meine bislang mieseste Note.

Gelernte Lektionen: Ein Christenmensch ist nicht zwingend ein guter Mensch. Frauen sind nicht netter, mitfühlender oder mütterlicher als Männer. Wenn man schön ist, wird man geliebt: Und nur dann. Blockflöten sind des Teufels.


So lächerlich das alles heute klingen mag, wenn es von einem erwachsenen Mann kommt: Die Erinnerung daran fällt schwer, dennoch. Was aber nun Gutes daraus mitnehmen, welches Pflänzchen nähren? 
Erschien mir die spontane Rückschau zunächst nichts als düster, so sehe ich es plötzlich doch sehr deutlich in der Ecke des verhassten Klassenzimmers blühen: Es gab etwas, das mir Licht brachte, und lebenslang Licht bleiben sollte. Versagte ich zwar an der Blockflöte, so lernte ich dafür aber schneller Lesen und Schreiben als alle anderen. Bücher wurden meine Freunde, ebenso wie die eigenen Geschichten in meinem Kopf, die ich zu Papier brachte, in Worten oder Bildern.



Der nächste Lebensabschnitt. Die Jugend und das Erwachen erotisch-romantisch konnotierter Liebe. Die erste Begegnung mit einem Schmerz, dessen Brutalität ich nicht einmal am Rande meiner Vorstellungskraft hatte: Liebeskummer. Das Wissen um die eigene Andersartigkeit, wenn auch noch ohne Namen. Das Suchen und Nicht-Finden eines Platzes in dieser Welt, Dunkelheit, Verzweiflung.
Nein — hier schalte ich meine innere Nachttischlampe an, um dieses Monster zu vertreiben: Es war nicht schön. 
Ich reiße mich fort aus der Tiefe meiner Erinnerung, zurück an den Strand. Lachmöwen balgen sich um einen Krebs. Algen polstern den Rand des Priels mit grünem Belag. In der Ferne das Leuchtfeuer von Norderney: Ich bin hier. Alles ist gut. 
Was aber nun auch aus dieser Zeit nähren und hegen? Auch hier rankt die Blume der Literatur empor, das Malen dazu, sowie die Aneignung von Wissen — tatsächlich: Ich lernte gern. Nur die Menschen verstand ich nicht, mich eingeschlossen.

Die nächsten Lebensabschnitte: Viele Experimente, viel Irren. Ein bisschen Scham, ein bisschen: Ach, naja. Der Seelengarten gewinnt an Struktur, Beete zeichnen sich ab, Wege. Der Hauptweg plötzlich so klar zu erkennen, als wäre er frisch ausgestreut mit hellen Muscheln. Doch das Tor, was es vor diesem Weg zu überwinden gilt, ist hoch und von Stacheldraht umzäunt. Ich reiße mich blutig daran, mich aufbäumend, dann fallend, aber schließlich: Auf der anderen Seite. Die ersten Meter auf dem neuen Weg bin ich so nackt wie nie zuvor. Jeder sieht es, das Blut, die Narben. Aber ich finde neue Kleidung, die mir passt. Es geht voran. Links und rechts des Weges gewinnen die Stauden an Kraft. Bäume beugen beschützend ihre Kronen über mich, zu hohen Kathedralen wachsend, in denen ich erst mich selbst, und dann Gott wiederfinde. Am Ende der Baumkathedrale öffnet sich der Blick aufs Meer: Ich bin zuhause, endlich.
Gelernte Lektionen: Es lohnt sich doch, das Leben.


Psalm 147 wird gelesen, mir bis dahin — nach jahrzehntelanger Kirchenabstinenz — unbekannt. „ER schafft deinen Grenzen Frieden.“

Es ist der schönste Satz, den ich seit Langem hörte. 
Genau so ist es, denke ich: Das ist mein Jetzt, mein Glück, meine Heimat. Es herrscht Frieden an den Grenzen. An denen, die ich überwand, aber auch an jenen, die noch da sind. Sie ängstigen mich nicht mehr. 
Ein großes Gefühl durchflutet mich mit so ungeahnter Wucht, das ich fast zu Taumeln meine: Dankbarkeit. Liebe. 
Und sehr viel Zuversicht. 
Am Himmel reißen die Wolken auf, Schiffe auf Reede gewinnen an Konturenschärfe. Aber ich taumele nicht, sondern stehe mit beiden Füßen fest im Sand.

Eine andere Bibelstelle folgt, in der sich Nordwind und Südwind treffen.



Um uns herum erwacht jetzt der Strand, erste Urlauber kommen, die Surfschule wirft ihre Bretter in den Priel. „Ih, das ist ekliger Dreck hier“, schreit ein Kind, „Das ist nicht eklig, das ist nur Schlick!“ erwidert der Lehrer, und ich bin dankbar, dass er die Kinder keine Abscheu vor der Schöpfung lehrt.

So ist das vielleicht auch mit den Teilen unseres Lebens, die wir verabscheuen und für die wir uns schämen, denke ich. Man meint: Es ist ekliger Dreck, der einen für immer besudelt, aber in Wirklichkeit kann man das meiste davon abwaschen, sogar nach Jahren noch. Man meint, man stecke fest auf immer und ewig, aber meistens gibt es dann doch Menschen, die einem die Hand reichen; die einem zeigen, wo in all dem Alltagsgestrüpp noch die Blumen zu finden sind, und die einen motivieren, nicht müde zu werden bei der Gartenpflege.

Als wir das Vaterunser beten, erscheinen wir ein wenig wie aus der Zeit gefallen, wie wir dort stehen, die Worte sprechend und ansonsten schweigend, während alles um uns schon lärmt. Es mag auf Außenstehende farblos wirken; vielleicht sogar trist, dieses Häuflein Pilgernder dort am Strand. Aber der Garten in meinem Inneren blüht in schönsten Farben, und durch die Dächer der Baumkronen fällt Licht.

DSCI0096

Momentaufnahme, Beseelt

Es ist eine helle Nacht, der Mond ist fast voll. Wenn die „fertige“ Seite die Form eines altdeutschen, kleinen „z“ hat, so ist er zunehmend, lernte ich einst; hat sie dagegen die Form eines kleinen, alttdeutschen „a“, so nimmt er ab. Ich schwinge mit Blicken ein „z“ in die Luft: Er nimmt zu. Ein, zwei Tage noch, dann ist Vollmond. In Verbindung mit starkem Wind eine gefährliche Zeit für das Leben an der See: Sturmfluten drohen.

Sechs Meter misst bereits die Abbruchkante an meinem Hausstrand, sodass ich den mir nächstgelegenen Strandübergang im Moment gar nicht mehr nutzen kann, die Natur hatte hier andere Pläne.

Plötzliche Abbrüche, welche existenzbedrohend sein können: Gibt es das nicht in jedem Leben? Scheidungen, Krankheiten, Arbeitslosigkeit, tragische Unfälle, für welche keine Versicherung einspringt?

Und was machen wir dann? Nun. Entweder springen wir die Abbruchkante hinunter. Dann sind wir tot oder vegetieren. Oder wir schütten das Ganze hastig zu. Dann ist es nicht stabil. Oder wir gehen besonnen an die Sache: Lassen uns helfen. Hören uns andere Meinungen an und lernen gerne dazu oder denken um, lassen uns aber nichts ein- oder ausreden. Lassen uns keine Märchen erzählen, im Sinne von: Da ist doch nichts, geh nur weiter, mach jetzt keinen Aufstand!
Nein, wir halten uns an Menschen, die uns sagen: Doch, das ist Scheiße. Das ist gefährlich. Aber wir ärgern uns jetzt zusammen darüber. Und dann finden wir auch zusammen da raus. Denn wir wissen: Keiner lässt den anderen los, wenn er noch etwas näher an die Kante kriecht, um den Schaden zu begutachten; um sich das anzusehen, was der Abbruch freigelegt hat. Manchmal ist das kein schöner Anblick. Manchmal ist es ein heilsamer. Aber immer ist es notwendig, sich die Trümmer anzusehen, damit wir sie neu ordnen, ebnen, und wieder darauf aufbauen können. Und es ist schön, wenn man das nicht allein tun muss. Wenn man Vertrauen haben kann: In seine Freunde. In Gott.

Nun höre ich meine atheistischen Freunde leise aufjaulen im Geiste, aber ich muss jetzt kurz über Gott sprechen; ich kann nicht umhin, dass dieses Thema in mir, einem recht christlich sozialisierten Wesen, das sich allzu lange gegen die Vorstellung einer höheren Macht wehrte, doch auf irgendeine Weise präsent ist. Und ich habe gesehen, dass Gott wirkt.
Ich wäre nicht selbst Ewigkeiten Atheist gewesen, wenn ich mich durch diese Erfahrung jetzt nur noch auf Gottes Fügung verließe und mich passiv in jedes Schicksal ergäbe, nein, dafür habe ich im Leben schon viel zu oft gekämpft. Ich bin wahrlich kein Gustav Gans gewesen. Aber viel zu oft habe ich dabei eben auch eine helfende Hand übersehen, die mich stützte, barg und aufrichtete: SEINE Hand. Manchmal kam sie in Form eines kluges Buches daher. In Form meiner Eltern. In Form eines Freundes. In Form irgendeines kleinen, für andere womöglich irrelevanten Ereignisses, das mich klar erkennen ließ: Es geht weiter. Ich war, und das weiß ich heute sicher, an keinem Punkt meines Lebens allein, auch wenn es für viele so aussah. Auch wenn es sich aus meiner damaligen Sicht oft so anfühlte. Aber dem war nicht so.

Und erst heute weiß ich, dass das, was mir früher über Gott, über den Glauben erzählt wurde, eigentlich immer nur die Sicht anderer Leute auf Gott war sowie deren eigene, urpersönliche Art zu glauben. Im Falle der Berufskleriker_innen in meiner Familie und der Religionslehrer_innen in der Schule war das zwar durchaus wissenschaftlich-theologisch untermauert, aber befähigt einen ein Bibelstudium denn automatisch zur einzig wahren Erkenntnis? Wenn dem so ist, will ich auch heute nicht gläubig sein. Denn in deren Gottes- und Glaubensbild kam jemand wie ich nicht vor. Schlimmer noch: Ein Gott, wie er mir früher vermittelt wurde und wie ihn die Kirche vielerorts immer noch vermittelt, hasst mich. Widernatürlich, Auflehnung gegen die Schöpfung, ein menschgewordener Sündenpfuhl: Das ist nicht Gottes Werk. „Du hast keine Fehler, du bist einer!“ „Jemand wie du ist von Gott nicht gewollt.“

Doch.
Und ja, Vater, ich habe gesündigt. Aus Gründen der Diskretion gehe ich jetzt nicht ins Detail, aber die Liste ist lang, und nicht alles davon kann man heilen, aber dennoch weiß ich heute, dass Gott auch das vergibt: Wirklich vergibt. Wir haben alle eine Chance auf einen Neuanfang. In meinem Falle: Sogar auf sehr viele.

Aber das Predigen sollte ich Profis überlassen.
Und so laufe ich durch die sturmverwaisten Straßen, den Kampf mit der Kapuze gegen den Wind habe ich längst aufgegeben, und wiege die Worte eines liebgewonnenen Freundes im Herzen: Dass Gott mit manchen Menschen eben besondere Pläne hat. Das Gott mich genauso wollte, wie ich bin. Wie ich jetzt bin. Dass mein Weg keine Sünde war, sondern auch SEIN Weg. Dass ich kein Paria bin, nur, weil ich heute ich selbst bin. Im Gegenteil. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ heißt es in der Bibel, „und zu oft vernachlässigen wir dabei den zweiten Teil“, ergänzt der Freund. So betrachtet (dies zumindest ist meine Laien-Interpretation) führt uns der Weg zu uns selbst also eher zu Gott, als dass er uns von ihm fortbrächte ― Das hatte ich jahrelang anders betrachtet. Ich sündige, ja. Aber ich bin keine Sünde. Ich bin Teil der Schöpfung, SEINER Schöpfung, nicht meiner. So wie jeder andere Mensch auch. Die Natur macht Fehler: Gott nicht.
Jetzt einen Freund in Freud und Leid an meiner Seite zu wissen, der mir in so vielerlei Hinsicht darüber die Augen öffnete, und mich annahm, mit allem, was ich war und was zu mir gehörte, tat gut. Und wenn ich gewusst hätte, wie nett Theologen sein können, hätte ich mich schon früher mit welchen angefreundet ― vermutlich wäre ich dann auch kürzer Atheist gewesen.

„Die Katholen haben doch alle einen an der Waffel“ beschied mir vor langer Zeit einmal der berufsprotestantische Familienzweig, und jetzt denke ich an wieder an diesen Freund, der katholischer nicht sein könnte, und finde, dass er keinen an der Waffel hat ― zumindest nicht mehr als jeder andere Mensch auch, der das 30. Lebensjahr vollendet und alle handelsüblichen Dinge erlebt hat, die ein Mensch eben in über dreißig Jahren so durchmacht, sofern er nicht auf einem fernen Planeten oder in einer Höhle aufwächst. Und im Grunde ist „einen an der Waffel haben“ ja auch per se erst einmal nichts Schlechtes ― sämtliche Kunstzweige leben davon, wobei man sich oft ohnehin nicht sicher ist, ob die Spinner jetzt vor oder hinter der Staffelei sind, vor oder auf der Bühne, aber ich schweife ab.
Jedenfalls ist der Mann Priester, und so sind wir von Gott jeder auf unsere Weise für das Alleinsein vorherbestimmt, aber er leidet darunter nicht, und ich ― das habe ich beschlossen ― werde das auch nicht mehr tun. Ich habe aus dieser Freundschaft, allein durch die Tatsache, dass dieser Gottesmann immer ein offenes Ohr hat, obwohl ich als exprotestantischer Heide eigentlich gar nicht in seinen Wirkungskreis falle, tatsächlich schon viel gelernt, nicht nur über Glaubensfragen: Dafür bin ich dankbar.
Auch bekam ich dadurch vor Augen geführt, wie sehr es sich lohnt, seine Vorurteile gegenüber bestimmten Menschen oder Berufsgruppen einfach abzustreifen und sich auf das Neue einzulassen, das Unbekannte, das Exotische oder insgeheim Belächelte.

Mich brachte die vorsichtige, u.A. durch diese Freundschaft initiierte, Wiederannäherung an Gott beispielsweise zu folgenden Erkenntnissen:

Der Mann, den ich gerne als Partner gehabt oder zumindest dahingehend näherer Betrachtung unterzogen hätte, interessiert sich nicht mehr für mich: So weit, so schlecht. Aber er hat Gründe, über die ich keine Herrschaft habe, die mich nichts angehen, und mein Schmerz, mein Gekränktsein darüber ist allein mein Schmerz und meine Eitelkeit, es ist nicht seine Schuld. Es ist auch nicht meine oder die Schuld des Ozeans, des Mondes, oder irgendeiner höheren Gewalt. Es ist auch keine Strafe Gottes für meine unzähligen Sünden. Es ist. Ich muss ihn ziehen lassen; ich muss es hinnehmen.
Ich denke an die vielen positiven Dinge, die dieser Mann in mir bewirkt hat, wie all die Inspiration und die Erinnerung daran, dass ich doch noch lieben kann. Und ich bin dankbar.

Jemand, die ich für eine Vertraute, oder jemand, den ich für einen Vertrauten hielt, denunziert mich und löst damit eine Kette unschöner Dinge aus, gegen die sich zu wehren viel Kraft kostet: So weit, so schlecht. Aber immerhin zeigt mir der Kampf, was in mir steckt. Zeigt mir der Fall, dass der eingeschlagene Weg so oder so nichts Gutes bewirkt hätte. Erkenne ich: Es war gut so, wie es war. Weiß ich: Ich mag falsche Freunde gehabt haben, aber ich habe auch echte. Freunde, die mir sofort und in einer derart unaufdringlichen Weise helfen, dass ich mich nie entmündigt oder entwürdigt fühle, nie als Almosenempfänger, obwohl sie mir vieles schenken.  Und ich bin dankbar.

„Das ist nicht das Ende“ sagte Churchill, „es ist nicht einmal der Anfang vom Ende!“ Und wenn der olle Church etwas konnte, dann waren es wohl Durchhaltesprüche: „Wir werden diese Insel verteidigen, mit allen Mitteln!“ ― Natürlich sprach er damals nicht von Langeoog, und ich will hier nicht kriegsverherrlichend wirken, aber genau dieser Satz half mir dann letzten Endes doch: Beim Hierbleiben. Beim Überleben. Und ich war dankbar.

Man is not made for defeat.
Es ist nicht immer einfach im Paradies, und die letzten Wochen waren es ganz und gar nicht. Aber nun, denke ich, ist alles in Form gefallen. All das Chaos fügt sich wieder zu etwas Neuem, Wunderbaren zusammen. Die Trümmer sind beseitigt. Der Frühling steht vor der Tür.
Noch sind die Bäume kahl, aber wenn der März kommt und sich die ersten Knospen zeigen, werde ich sehen, wohin mich der neue Weg führt. Ob es gut ist. Ob er zu mir gehört. Ich werde annehmen, was kommt. Ich habe Vertrauen, denn ich weiß, dass ich nicht mehr verlieren kann.
Natürlich kann ich nach wie vor Geld verlieren, geliebte Menschen oder meine Gesundheit. Ich werde es sogar, das ist der ― unvermeidlich grausame ― Lauf der Welt. Der Herr gibt es. Der Herr nimmt es.
Gott nimmt mir nicht die Arbeit ab. Nicht die Trauer. Und nur mit viel Anstrengung meinerseits den Zorn. Aber ich weiß, dass ich zugleich auch immer Trost finden werde, Kraft und Gerechtigkeit. Ich vertraue.
Und ― mit der berühmten little help from my friends ― wird auch dieses Jahr noch ein Gutes. Ich gebe dem Jahr und mir diese Chance.
Wir haben nur dieses eine Leben. Wir sollten es gut behandeln.

***

P.S., von Herzen kommend: Ich kenne inzwischen auch zwei sehr, sehr nette evangelische Theologen ― dies zur Ehrenrettung!

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